Der Volksaufstand in Ungarn 1956 (1) gehörte zu den historischen Ereignissen, die alle Bevölkerungsschichten, jede Familie und mehrere Generationen betrafen und deren Lebenszeit automatisch in ein „davor“ und „danach“ spalteten. Zwar entbrannte die grandiose blutige Konfrontation an den inneren sozialen und nationalen Widersprüchen des Landes, dennoch verlief sie vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, der sie eo ipso zum Weltereignis machte. Von allen Massenunruhen in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten war diese die einzige, die Gegenstand lang anhaltender internationaler Diskussionen wurde, etwa auf der Generalversammlung der UNO. Umso merkwürdiger ist es, dass den eigentlichen Protagonisten jener Herbsttage, den Aufständischen, von denen es einer sogar als „Hungarian Freedom Fighter“ auf das Titelblatt des „Time Magazine“ schaffte, die Historiker relativ wenig Aufmerksamkeit schenkten.

Ein bewaffneter Aufruhr in Ungarn war alles andere als vorhersehbar. Dennoch ließ die sowjetische Führung unter dem Eindruck des Poznańer Aufstands bereits im Juli 1956 die Operation „Welle“ erarbeiten, „zur Wahrung, gegebenenfalls Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung“. Der Plan sah vor, wichtige Objekte wie das Rundfunkhaus, das Gebäude des ZK, das Parlament, die Telefonzentrale, das Außenministerium und die Donaubrücken unter den Schutz des in Ungarn stationierten sowjetischen Sonderkorps zu stellen. Für die Sicherung bzw. Wiederherstellung der Ordnung sollten die ungarischen Partner zuständig sein. Dem Chef des Sonderkorps, Generalmajor Pjotr Laschenko, schwebte offensichtlich der demonstrative Aufmarsch der Sowjetarmee am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin vor, an dem er selbst beteiligt gewesen war. Im entscheidenden Moment, am Nachmittag des 23. Oktobers, traute er sich jedoch nicht, die zum Start der „Welle“ gehörende Losung „Kompass“ ohne Befehl aus Moskau auszugeben. Doch in Moskau neigte man zunächst dazu, „die Krise mit den Händen der Ungarn zu lösen“, denn, so Anastas Mikojan, „dies würde uns weniger kosten“. Das sagte er nach Moskauer Zeit abends um 19 Uhr. Erst in den späten Abendstunden entschied sich das Politbüro zu militärischem Eingreifen.

 

 

Die Schwachstelle eines Drehbuchs á la Berlin lag jedoch in der mangelnden Fähigkeit der ungarischen Machthaber, allein oder synchron mit den Sowjets Herr der Lage zu werden. Anders als in der DDR, wo die Parteiführung einheitlich der jeweiligen Moskauer Generallinie folgte, war die ungarische KP seit Stalins Tod durch Fraktionskämpfe zwischen den Anhängern des Hardliners Rákosi und des Reformers Nagy zermürbt, wobei die intellektuelle Parteielite und die Universitätsjugend hinter letzterem stand. Die Demonstranten initiierten ihre friedliche Kundgebung im Zeichen der Solidarität mit den polnischen Genossen, die soeben den reformwilligen Władysław Gomułka in das Amt des Parteiführers gehoben hatten. Die zuerst vom Innenminister verbotene, dann aber genehmigte Demonstration schwoll von Stunde zur Stunde an und wurde, was die dort formulierten Forderungen betraf, zunehmend radikal.

Zwar verlangten die von Studenten verfassten „14 Punkte“ am Spätnachmittag noch die Ernennung „des Genossen Imre Nagy“ zum Regierungschef, doch andere Punkte gingen weit über dessen ursprüngliches Reformprogramm hinaus. So ging es um freie Wahlen unter Beteiligung aller seit 1949 aufgelösten politischen Parteien, die Neuordnung der ungarisch-sowjetischen Beziehungen, um bedingungslose Redefreiheit und die Wiederherstellung des nationalen Staatswappens. Im Bereich der Symbolik bewegte sich auch die Forderung, das Stalin-Denkmal auf dem Heldenplatz „so schnell wir möglich“ zu entfernen. Die Dynamik der Ereignisse sorgte dafür, dass dieser Punkt als erster in Erfüllung ging.

Mit dem Ende der Tagesschicht schlossen sich immer mehr Arbeiter der Budapester Großbetriebe der Menge an, die inzwischen auf Hunderttausend angewachsen war und sich der Kontrolle der Initiatoren völlig entzog. Ein Teil der Demonstrierenden bewegte sich in Richtung des Parlaments, wo Imre Nagy erwartet wurde, und mit einer wenig gelungenen, weil ambivalenten, Ansprache sogar seine Anhänger enttäuschte. Andere strömten über die Donaubrücken und den Ring an der damals noch so genannten Stalin-Straße entlang in Richtung Heldenplatz, wo das riesengroße Monument des Diktators stand. Gegen neun Uhr wurde es mit Hilfe von Stahlseilen und Schweißgeräten vom Podest geholt, auf einen Lastwagen gebunden und mit Triumph durch die Stadt gezogen. Abgesehen von dem symbolhaften Charakter war dieser Götzensturz der erste Gewaltakt im Kontext dieser Ereignisse – wenn auch nicht gegen Menschen, sondern gegen ein verhasstes Monument. Bald darauf fielen Schüsse, und es gab die ersten Toten.

 

Die von niemandem koordinierte Bewegung der Massen verteilte sich auf mehrere Standorte – einer davon war das Rundfunkgebäude, vor dem seit nachmittags um fünf ein paar Hundert Demonstranten standen. Hierher strömten die Enttäuschten vom Parlament und die Begeisterten vom Heldenplatz. Ihr Anliegen erschöpfte sich zunächst darin, ihr 14-Punkte-Programm verlesen zu wollen, was von der Leitung des Senders strikt abgelehnt wurde. Auf der engen Straße vor dem Funkhaus tummelten sich inzwischen Zehntausende, und die kleine Gruppe des Wachpersonals fühlte sich außerstande, das Haus vor einem Sturm zu verteidigen. Bevor die als Befreier ohne Feuerbefehl geschickten Hilfstruppen das Haus erreichen konnten, kam es zu einem ungeahnten Effekt. Die einfachen Angehörigen der ungarischen Volksarmee waren Arbeiter- und Bauernsöhne, die nicht geneigt waren, auf die Demonstranten zu schießen. Einige schlossen sich sogar der Menge an, übergaben ihre Gewehre oder ließen sich diese widerstandslos abnehmen. Manche handelten aus patriotischen Gefühlen, aber die meisten folgten dem unbestechlichen Instinkt des Volkes aus dem Gefühl heraus, dass die Machthaber halbwegs gelähmt waren.

Derselbe Instinkt erleichterte am späten Abend das Erbeuten von Waffen aus dem als „Lampenfabrik“ getarnten Arsenal, aus Kasernen und weiteren militärischen Einrichtungen. Ergebnis dieser Aktionen war, dass ein paar Hundert Demonstranten in den Besitz von etwa genauso vielen Pistolen, Maschinengewehren, Handgranaten und auch einigen Panzern kamen. Die bis in die frühen Morgenstunden anhaltende Schlacht um das Radio forderte auf beiden Seiten etwa dreißig Tote. Als das Personal über eine geheime Hintertür das Gebäude verließ, war die Rundfunktechnik bereits ins Parlamentsgebäude und in Sicherheit gebracht worden. Trotzdem war der in diesem Sinne erfolglose Sturm des Senders die Geburtsstunde der aufständischen Bewegung.

Als die Kremlführung ihr anfängliches Zögern aufgab und die möglichst rasche Besetzung der ungarischen Hauptstadt anordnete, wurde die Ausübung dieses Befehls von einem Naturphänomen behindert: Über Budapest und Westungarn, wo das Sonderkorps stationiert war, lag dichter Nebel. So erreichten die Vorposten der sowjetischen Panzer die Vororte der Donaumetropole erst gegen vier Uhr nachts. Dort trafen sie, ganz anders als in Ost-Berlin, auf bewaffneten Widerstand. Dieser war militärisch gesehen noch kaum relevant, allerdings auf seine Art gefährlich. Die mehr als tausend sowjetischen Panzer und fast vierhundert gepanzerten Transportwagen konnten – zunächst ohne Schießbefehl – den Aufständischen kaum etwas anhaben. Diese warfen mit Benzin gefüllte Flaschen auf die Tanks, schossen auf alles, was sich um die Kampffahrzeuge herum bewegte und verfügten über exakte Ortskenntnisse. Das Fehlen der speziell für Straßenkämpfe ausgebildeten Infanterie machte die Präsenz der Truppen militärisch wenig wirkungsvoll und trug nur zur Anstachelung der Leidenschaften bei. Weder die stündlich wiederholte Aufforderung an die Rebellen, die Waffen niederzulegen, noch die Drohgebärden mit dem Standrecht halfen der Parteiführung, und es war klar, dass die sowjetische Invasion jede politische Lösung unmöglich machte. Die verzweifelten Funktionäre donnerten im Radio über „konterrevolutionäre Kräfte“ und „bewaffnete Banden“, wussten aber im Grunde nicht, mit wem sie es zu tun hatten. Der Feind, um dessen willen Anastas Mikojan und Michail Suslow höchstpersönlich an die Donau gekommen waren, blieb zunächst namenlos.

Die größte und berühmteste Gruppe von Freischärlern bildete sich am 25. Oktober – ihr Hauptsitz, das Kino „Corvin“, war im Dreivierteloval umgeben von Wohnhäusern, was eine Annäherung durch Panzer unmöglich machte. Diese vorteilhafte Lage nutzte die von dem Aktivisten Gergely Pongrácz geführte Gruppe, die innerhalb weniger Tage von hundert auf achthundert Mitglieder anwuchs. Mit Hilfe ihrer ursprünglich aus der „Lampenfabrik“ stammenden bescheidenen Waffen erbeuteten die Kämpfer bei der Volksarmee und den Sowjets Maschinengewehre, Sturmgeschütze, Minenwerfer und sogar Kanonen, die sie von den außer Gefecht gesetzten Panzern abmontiert hatten. Pongrácz, der aus einer siebenbürgischen Beamtenfamilie stammte und selbst als Tierzüchter arbeitete, war ein unversöhnlicher Gegner des Regimes und operierte aus einem ausdrücklich nationalen Sendungsbewusstsein heraus. Von Verhandlungen mit Regierungsvertretern wollte er nichts hören. Vielmehr sehnte er sich mit seinen kaum über den gewöhnlichen Armeedienst hinausreichenden Erfahrungen nach militärischen Lorbeeren. Sein Traum war, wie er in seinen Exilmemoiren mitteilte, den Ausbau seiner Mannschaft über den Anschluss von hunderttausend Zivilisten und Armeeangehörigen zu einem ganzen regulären Heer. Und dann „soll ganz Russland kommen, wir hätten vielleicht selbst einen solchen Angriff abwehren können“.

Gewissermaßen als Pongrácz´ Antipode galt der 28-jährige István Angyal, Sohn einer jüdischen Handwerkerfamilie in Budapest. Im Frühjahr 1944 hatte man ihn mitsamt der ganzen Familie nach Auschwitz deportiert, wo Mutter und Schwester ermordet wurden. Der hingebungsvolle Kommunist war gleichzeitig als überzeugter Stalingegner der Partei ferngeblieben und hatte auch sein Studium abgebrochen – daher blieb er Autodidakt und verdingte sich als Bauarbeiter. Er leitete eine Gruppe von Kämpfern in einem Wohnhaus der Josephstädter Tűzoltó-Straße. Anders als Pongrácz zeigte sich Angyal verhandlungsbereit, allerdings nicht mit dem von ihm als „Apparatschik“ verachteten Imre Nagy, sondern lieber mit dem „Proletarier“ János Kádár. Er blieb seinem naiven Glauben an einen echten puritanischen Sozialismus treu. An der Wand in seinem Hauptsitz hing eine Tafel mit dem Satz: „Die Revolution ist kein Mittel zur Bereicherung“.

Eine Gruppe in der benachbarten Vajdahunyad-Strasse führte der 22-jährige Lederarbeiter Károly Kiss – sein Stab residierte in einem Luftschutzkeller. Bei ihm herrschten strenge Disziplin und Autorität. Personalausweise wurden eingesammelt, und ein Entfernen von der Truppe, sei es auch aus familiären Gründen, war nur mit seiner Genehmigung und nur tagsüber möglich. In dieser Gruppe gab es relativ viele Frauen. Einige von ihnen leisteten Küchenarbeit oder sorgten für Sauberkeit, aber mindestens zwei, die 24-jährige Maschinenarbeiterin Katalin Sticker (2) und die 19-jährige Schreibkraft Mária Wittner, beteiligten sich an Kampfhandlungen. Insgesamt lag das durchschnittliche Alter der Aufständischen bei 20 bis 22 Jahren, aber die Beteiligung von weit jüngeren, wie etwa dem 15-jährigen Dreherlehrling Péter Mansfeld, war keine Seltenheit.

Jeder Versuch einer Klassifizierung der Gruppen nach dem Schema „rechts“ und „links“ geht an der Konstellation vorbei. Für eine politische und militärische Bewegung, in der die Ablehnung der sowjetischen Intervention Kommunisten und Antikommunisten vorübergehend in einem Lager vereinte, lässt sich die Frage so nicht formulieren. Jedenfalls war niemand der Beteiligten, auch nicht die leidenschaftlichen Antikommunisten, Nostalgiker der Ära Horthy. So erklärte der LKW-Fahrer Ekrem Kemal, Mitglied einer Budaer Gruppe: „Die Mehrheit der Kämpfer sind werktätige arbeitende Menschen, sie wollen nicht das Vorkriegssystem wiederherstellen, denn dadurch würden auch die bisher erreichten sozialistischen Errungenschaften abgeschafft.“ Die freie Marktwirtschaft gehörte nicht zu ihrem Zukunftsbild.

Was die militärische Rolle der mehr als einem Dutzend bewaffneten Gruppen mit mehreren tausend Beteiligten betrifft, so lag diese vor allem in der Verunsicherung und Behinderung der unvorbereiteten sowjetischen Einheiten. Möglicherweise war dieser Faktor eine der Ursachen für den zeitweiligen Rückzug der Invasoren aus der Hauptstadt am 29. Oktober, der von den Aufständischen fälschlicherweise als Sieg gefeiert wurde, obwohl es sich nur um ein Manöver handelte. Zur gleichen Zeit wurde eine Waffenruhe verkündet: Die Regierung Imre Nagy beschloss, die Rebelleneinheiten als „Nationalgarde“ in die Armee- und Polizeikräfte zu integrieren. Ausgerechnet während dieser relativen Friedenspause kam es zu einem besonders tragischen Intermezzo des Jahres 1956.

Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes und Funktionäre der Budapester Parteiorganisation versuchten seit Tagen, im Sitz des Parteikomitees auf dem Platz der Republik Milizen aufzubauen, um den Kampf mit den Aufständischen auch ohne Hilfe der Roten Armee aufnehmen zu können. Die Vorbereitungen setzten sie auch nach der Waffenruhe fort. Insgesamt verfügte das Parteihaus über etwa fünfzig Bewaffnete, die mit Handfeuerwaffen, Maschinengewehren und Handgranaten ausgerüstet waren. Der Sitz des Parteikomitees befand sich im Fadenkreuz der wichtigsten Zentren des bewaffneten Widerstands. Zu den Belagerern des Parteihauses gehörten mindestens vier Gruppen der Aufständischen – Angyals Leute waren nicht dabei. Zunächst kämpften beide Seiten mit etwa gleicher Feuerstärke, dann aber beschossen die Angreifer das Haus mit Artillerie. So mussten sich die Verteidiger, die vergeblich auf Hilfe von außen warteten, geschlagen geben. Der Parteisekretär Mező, ein ehemaliger Spanienkämpfer, ließ aus einem Fenster eine weiße Fahne hängen und ging mit seinen Begleitern auf den Platz. Dort waren sie plötzlich einer Masse ausgeliefert, die weder Kriegsethik noch Menschlichkeit kannte. Dem darauf folgenden Gemetzel, einer bestialischen Lynchjustiz, fielen 24 Personen zum Opfer, unter ihnen Mező, der im Kugelhagel zusammenbrach.

Obwohl viele der Aufständischen jede Lynchjustiz ablehnten, bestand ihre Verantwortung an dem Massaker doch darin, dass sie die besiegten Kommunisten einfach der tobenden Menge überließen. Das Volksurteil selbst hing gewiss auch mit der hysterischen Atmosphäre des Aufstands zusammen, und zu seiner Vorgeschichte gehörte das von den Sicherheitskräften entfachte Blutbad vor dem Parlamentsgebäude am 25. Oktober mit sechzig Toten auf Seiten der unbewaffneten Demonstranten sowie ein ähnliches Massaker in der nordungarischen Stadt Mosonmagyaróvár mit ebenfalls sechzig Toten. Dennoch betrachteten auch viele Anhänger von Imre Nagy das Gemetzel vor dem Parteihaus als „Sündenfall der Revolution“. Die 24 Todesopfer dienten später als Begründung, als im Namen der Gerechtigkeit 42 Personen hingerichtet wurden, manche nur deshalb, weil in ihrer Anklageschrift das Wort „Platz der Republik“ auftauchte.

Die eigentliche Vergeltung erfolgte jedoch erst später, als die sowjetischen Truppen am 4. November erneut nach Budapest einmarschierten und die Regierung Imre Nagy durch János Kádárs Kabinett ersetzen ließen. Etwa eine Woche lang setzten einige aufständische Gruppen den Widerstand noch fort und flehten über ihre Amateursender die Außenwelt um Hilfe an: „Wir bitten die Vereinten Nationen, sofort Waffenhilfe zu schicken! Setzt Fallschirmtruppen über Westungarn ab!“ – „Wir appellieren an die Nationen des Westens – SOS, SOS! Das Volk verblutet! Helft uns, helft uns, rettet unsere Seelen!“ Ein unbekannter Morsesender aus Budapests achtem Bezirk erlaubte sich noch den Luxus der Höflichkeit: „Wir bitten den Westen, wir bitten Präsident Eisenhower, dem wir zur Wiederwahl unsere Glückwünsche aussprechen, (…) der Sache der Freiheit in unserem Lande zu helfen, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten, bevor es zu spät ist.“

Doch Hilfe war nicht in Sicht. Die Aufständischen tauchten unter, die Arbeiterräte und Intellektuellen versuchten noch den Widerstand gegen die Regierung Kádár fortzusetzen, aber die von Moskau eingesetzte Übermacht erwies sich als stärker, und die Gesellschaft war von den blutigen Kämpfen, die mehr als dreitausend Todesopfer gefordert hatten, sehr erschöpft. In den Monaten November und Dezember verließen mehr als zweihunderttausend Ungarn über die halbwegs offene Grenze das Land – unter ihnen auch Mitglieder der bewaffneten Gruppen, die damit einer Verhaftung glücklich entgangen waren. Die daheimgebliebenen Freischärler waren nun einer drakonischen Justiz ausgeliefert, die meisten erwartete der Galgen – so auch den romantischen Kommunisten Angyal. Er wusste ohnehin, dass er die Revolution nicht lange überleben würde und hatte auch keine Lust, wie er sich gegenüber dem Schriftsteller István Eörsi im Gefängnis äußerte, um den Preis „schmutziger Kompromisse“ willen weiterzuleben. Kurz vor der Hinrichtung ließ er diesem Freund und Mitgefangenen ein Kassiber zukommen, in dem er sein pathetisches, aber unsentimentales Vermächtnis formulierte: „Ich will, dass ein großer, rustikaler Stein das Andenken an den namenlosen Mob bewahrt, aus dem wir geworden sind, mit dem wir eins waren und mit dem wir gemeinsam heimkehren werden.“ Dieses beinahe religiöses Ansinnen wurde auf Vorschlag des Schriftstellers Rudolf Ungváry von dem Bildhauer György Jovánovics 1992 erfüllt: Das Marmordenkmal „Rustikaler Stein“ steht heute in der Parzelle 301 des Friedhofs Rákoskeresztúr am Stadtrand von Budapest.

Anmerkungen

(1) Dieser Aufsatz erhebt keinen Anspruch auf eine umfassende Beschreibung der Oktoberereignisse – diese ist in meinem Buch „Der Aufstand in Ungarn“ (2006) erfolgt. Hier geht es vorwiegend um die Entstehung und das Wirken der bewaffneten Gruppen.

(2) Sie war eine der wenigen nach dem Volksaufstand hingerichteten Frauen. Mária Wittner wurde ebenfalls zum Tode verurteilt, doch zu „lebenslänglich” begnadigt und 1970 aus der Haft entlassen. Heute ist sie Abgeordnete der ungarischen Nationalversammlung.

Der Beitrag erschien zuerst in:

György Dalos: Aufruhr im Kommunismus. Herausgegeben von der Bundesstiftung Aufarbeitung und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt: 2015.