Die Treuhand-Interviewreihe

Die Euphorie der Wiedervereinigung kippte in einem extrem schnellen Tempo in Ernüchterung und Enttäuschung über. Nachdem die Treuhand ihre Arbeit aufgenommen hatte, setzte sich bei der Treuhandspitze unter Präsident Detlev Rohwedder im Sommer 1990 die Erkenntnis durch, dass es keine milliardenschweren Privatisierungserlöse geben werde, sondern ein „dramatisches Krisen- und Umbruchsmanagement“ bevorstand [1]. Die „Vereinigungskrise“ (Jürgen Kocka) wurde von den massiven Anfeindungen der Arbeit der Treuhandanstalt begleitet. Die Treuhand war eine mit sehr viel Macht ausgestatte Behörde, manche sprechen gar von einer nie davor und niemals danach vorhandenen Machtfülle [2].

15.02.1992 in Moskau; Boris Jelzin, Staatsoberhaupt Russlands, l. shake hands mit Birgit Breuel, Präsidentin der Treuhandanstalt, M. im Kreml
15.02.1992 in Moskau; Boris Jelzin, Staatsoberhaupt Russlands, l. shake hands mit Birgit Breuel, Präsidentin der Treuhandanstalt, M. im Kreml © Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1220760

Als „Wegbereiter der wirtschaftlichen Zukunft in den neuen Bundesländern“ [3], wie es im Organisationshandbuch heißt, agierte die Treuhandanstalt zwar im politisch abgesteckten engen Rahmen, aber gleichzeitig in einer sehr chaotischen und dynamischen Gemengelage. Die konkrete Umsetzung, eine Mischung aus Improvisation, weitreichenden Entscheidungen und umfangreichen Verantwortungen, lag bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser umstrittenen Behörde. Wer waren diese Menschen, die den „Aufbau einer leistungs- und wettbewerbsfähigen modernen Wirtschaft“ vorantreiben sollten? Wie war ihr beruflicher Werdegang? Wie waren ihre Verbindungen zu Ostdeutschland gewesen? Wie haben sie ihre Rolle als Treuhänder der DDR-Volkswirtschaft gesehen und diese gestaltet?

Diesen Fragen gehen 44 Interviews mit ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Treuhandanstalt nach. Sie wurden von Hoferichter & Jacobs geführt. Gefördert wurde das Projekt vom Deutschen Bundestag. Auf dieser Website präsentieren wir sie in kurzen Clips; für die Forschung und historisch-politische Bildungsarbeit stehen sie im Archiv der Bundesstiftung zur Nutzung zur Verfügung. Für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren die Jahre bei der Treuhand nur eine kurze Periode in ihrer beruflichen Laufbahn, und doch sind die Spuren bis heute vorhanden. Die Interviews geben ein vielstimmiges Bild, das die Treuhandanstalt von innen zeigt. Es sind nachdenkliche und reflektierende Interviews geworden. Die historische Einmaligkeit und die damit verbundenen Herausforderungen waren vielen bewusst. Aber jenseits dessen gab es natürlich einen „normalen“ Arbeitsalltag. Die Treuhand war eine Organisation im Aufbau ohne nennenswerte Vorbilder, die sowohl sich selbst, als auch dem Transformationsprozess eine Form geben musste.

Alle Interviews in der Übersicht

Für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren die Jahre bei der Treuhand nur eine kurze Periode in ihrer beruflichen Laufbahn, und doch sind die Spuren bis heute vorhanden. Die Interviews geben ein vielstimmiges Bild, das die Treuhandanstalt von innen zeigt.
Innenaufnahme der Treuhandanstalt 1993. Man sieht Personen in einem Büro an Tischen.
Das Personal der Treuhand

1991, Zentrale der Treuhandanstalt in der Wilhelmstraße 97 / Leipziger Straße 5–7
1991, Zentrale der Treuhandanstalt in der Wilhelmstraße 97 / Leipziger Straße 5–7 © Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1452475

Bei der Ur-Treuhand arbeiteten zum 1. Juli 1990 133 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Zentrale und 400 Personen in den Außenstellen. Das Aufgabenprofil war in der Anfangszeit überschaubar und betraf im hohen Maße die Umwandlung der Kombinate, Betriebe und Institutionen in Kapitalgesellschaften. Die Privatisierung spielte dagegen noch keine wesentliche Rolle [4]. Davon berichtet zum Beispiel Brigitta Kauers anschaulich im Interview. Der überwiegende Teil des Treuhandpersonals wurde zu diesem Zeitpunkt aus den DDR-Ministerien rekrutiert. Lutz Lehmann wechselte aus dem Industrieministerium als zuständiger Abteilungsleiter für Möbel und Holzwerkstoffe in die Treuhandzentrale. Norbert Thiele, der als Spezialist für Datenverarbeitung aus einem DDR-Ministerium kam, hat ebenfalls seine Erfahrungen bei der Treuhand im Interview dargestellt.

Das Personaltableau der Treuhand entwickelte sich sprunghaft. Im Zeitraum von Oktober 1990 bis April 1991 wurden mehr als 1.500 Personen eingestellt, dabei kam ein Drittel aus den westlichen Bundesländern. Allerdings war die Fluktuation des Personals enorm. Die maximale Mitarbeiterzahl wurde Ende 1993 mit mehr als 4.800 Personen erreicht [5]. Die Personalsuche hat die Treuhand während der gesamten Zeit ihres Bestehens als Daueraufgabe begleitet. Mit einer Reihe von PR-Aktionen und Kampagnen warb man um Fachkräfte. Dazu gehört die im Juli 1990 geschaltete Suchanzeige „Profis für die DDR!“ oder der Aufruf von Bundeskanzler Helmut Kohl. Mit seiner Hilfe wurden 300 „Leihmanager“ aus unterschiedlichen westdeutschen Unternehmen in die Treuhandanstalt abgeordnet [6].

Da die Treuhandanstalt von Anfang an nur für einen begrenzten Zeitraum den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft gestalten sollte, war die Personalsuche eine durchaus schwierige Angelegenheit, auch weil unter anderem viele Spezial- und Managementkenntnisse gefragt waren. „Es war stets das Ziel der Treuhandanstalt, sich selbst so schnell wie möglich überflüssig zu machen,“ heißt es im Abschlussbericht der Treuhand [7]. Eine lange, gesicherte Karriere konnte die Treuhand somit nicht anbieten. Demensprechend unterschiedlich zusammengewürfelt waren die Profile der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In der Frühphase kam das Personal aus ostdeutschen Planbehörden, später warb die Treuhand um ältere Industriemanager und erfahrene Verwaltungsexperten aus Westdeutschland und rekrutierte in hoher Zahl junge Universitätsabgänger und Nachwuchskräfte. Für den Historiker Marcus Böick sind die beiden dominanten Profile des Treuhandpersonals eindeutig statistisch erfassbar: „Eine klare Mehrheit der Mitarbeiter war ostdeutsch und weiblich; die Führungskräfte jedoch zum überwältigenden Anteil westdeutsch und männlich.“ [8] Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Personalpolitik der Treuhand seit Sommer 1991 in öffentlicher Dauerkritik stand. In den Medienberichten wurden immer wieder fachliche Inkompetenz, Korruptionsvorwürfe und politische Vorbelastungen des Treuhandpersonals diskutiert. Die Skandale um die Hallenser Niederlassung der Treuhand gehören zu den prominentesten Beispielen [9].

Die Suche nach Managementpersonal für die Unternehmen gehörte ebenfalls zu den Aufgaben der Treuhand. „Für die Bildung von Aufsichtsräten und Vorständen wurden ca. 1500 Aufsichtsratsvorsitzende und entsprechend viele Anteilseignervertreter und 13.000 Vorstände und Geschäftsführer gebraucht. Die Treuhandanstalt stand vor dem Problem, in kurzer Zeit erfahrene und kompetente Führungspersönlichkeiten zu gewinnen, die bereit waren, sich dieser Aufgabe sofort und ohne Zögern zu stellen [10].“ Maxie Böllert-Staunau erzählt im Interview als damals Zuständige für den Bereich Werkzeugmaschinenbau, Holz und Papier von ihrer Suche nach Aufsichtsratsmitgliedern und Geschäftsführern.

Motive für die Arbeit und die Wege zur Treuhand

Ein defektes Auto vor einer Plakatwand, auf dem zwei Plakate zur Hälfte zu sehen sind: Das untere zeigt ein neues Auto. Auf dem oberen sieht man den Schriftzug: "rrrumms Nr. 1. Highscreen 08/15 Serie. Fette Beute für schnelle Leute". mit einem neuen
Ende des real existierenden Sozialismus, 1990 © Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1206896

Bei den Werbekampagnen wollte die Treuhand die Zielgruppe mit einer Mischung aus Patriotismus und Idealismus, aber natürlich mit karrierebezogenen Argumenten ansprechen. Bei der Anzeige „Profis für die DDR“ klang das folgendermaßen: „Die deutsche Vereinigung findet nur einmal statt. Deswegen werden Sie auch diese Chance nur einmal haben.“

Die Wege zur Treuhand waren vielfältig. Manche wie Martin Ahrens oder Martin Kirchner-Anzinger haben sich initiativ beworben, weil sie als junge Nachwuchskräfte die historisch einmalige Chance erkannt haben. Manch anderer wurde persönlich angesprochen oder kam zunächst als Leihmanager zur Treuhand und blieb anschließend länger als das zunächst vereinbarte halbe Jahr. Auch die individuellen Motivationen waren breit gefächert. In den Interviews betonen die früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie spannend die Aufgaben waren und wie viel sie in kurzer Zeit lernen konnten. Die hohe Verantwortung beschrieben sie nicht als überfordernd, sondern als eine mitreißende Herausforderung.

Michael Clausecker wurde von Daimler an die Treuhand abgeordnet. Er fasst seine Motivation mit folgenden Worten zusammen: „Das war ja die große nationale Aufgabe. Ich durfte einen Rechner mitnehmen und hatte damit das Privileg, eben auch sofort einen PC zu haben. Wir haben ganz schön gekämpft mit den Telefonleitungen dort. Das hat alles nicht wirklich perfekt funktioniert.“

Martin Keil war Abteilungsleiter Öffentliches Recht bei der Treuhandanstalt und zuvor Verwaltungsrichter in Westberlin: „Am Anfang, es war ziemlich chaotisch […]. Ja, aber man war eben eigentlich von der Aufgabe in gewisser Weise besessen. Und das hat nicht großartig gestört.“

Der Arbeitsalltag

Bevor die Treuhand ab März 1991 in das ehemalige „Haus der Ministerien“ an der Leipzig Straße in Berlin umzog, war die Infrastruktur für eine geregelte Büroarbeit nur marginal vorhanden. Die schlechte bis nicht vorhandene Ausstattung der Büros gehört bei fast allen ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zum Bericht über den Arbeitsalltag. Die Telefonate mussten häufig im Westteil Berlins geführt werden. Auch die spätere Treuhandpräsidentin Birgit Breuel erzählte von ähnlichen Erfahrungen: „Ich kam zum ersten Mal zur Treuhand und dort begrüßte mich Detlev Rohwedder und sagte: ‘Frau Breuel, Herzlich Willkommen. Sie haben kein Büro, Sie haben keine Mitarbeiter, es warten Säcke voller Post – suchen Sie sich, was Sie brauchen, und fangen Sie an.‘ Das ging jedem damals so [11].“

Die Arbeitstage waren lang und die Aufgaben sehr vielfältig. Viele leitende Mitarbeiter besaßen zwar ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein als erfahrene Manager oder Unternehmer, aber sie mussten dennoch mit einem regelrechten Praxisschock umgehen [12]. Denn sie kamen meistens aus sehr geregelten Unternehmen und marktwirtschaftlichen Zusammenhängen. „Die wirtschaftspolitischen Leitbilder der Vorstandmitglieder der Treuhandanstalt wurden also entscheidend geprägt durch die beruflichen Erfahrungen, die diese als Unternehmer, Manager oder Politiker insbesondere in den 1980er Jahren gewonnen hatten [13].“ Viele mussten vor Ort ihre Kenntnisse über die Betriebe und die Funktionsweisen der Planwirtschaft erst sammeln. Constanze Krieger, die selbst aus einer Unternehmerfamilie stammte, beschrieb ihr Erstaunen bei den Besuchen der ehemaligen DDR-Betriebe.

Beispiele

Petra Wiedmann, Referentin in der Niederlassung in Halle, erzählt im Interview, wie sie kurz vor Weihnachten die Unterlagen des VEB Kösener Spielzeug zur Liquidation auf den Tisch bekam. Die westdeutsche Firma Steiff hatte sich gegen den Kauf des Spielzeugunternehmens aus Sachsen-Anhalt entschieden. Bad Kösen liegt eine Stunde von Halle (Saale) entfernt. Petra Wiedmann fuhr hin und schaute sich die kleine, aber traditionsreiche Spielzeugproduktion an.

Nilpferd aus Stoff
© Privat

Die Wurzeln des VEB Kösener Spielzeug gehen auf die 1911/1912 von Käthe Kruse gegründeten Puppenwerkstätten zurück. Nach der Verstaatlichung spezialisierte sich der Betrieb in der DDR-Zeit auf die Produktion von Plüschtieren. Die Liquidation konnte 1991 durch eine Anschubfinanzierung verhindert werden, die sich nicht zuletzt aus einem spontan veranstalteten Weihnachtsverkauf für Treuhandmitarbeiter speiste. Davon besitzt Petra Wiedmann noch immer ein sitzendes Nilpferd. 1992 kaufte Dr. Helmut Schache, der damalige Bürgermeister von Bad Kösen, den Betrieb, der bis heute hochwertige Plüschtiere produziert.

 

Seit 1980 trug der VEB Zentral-Zirkus den Namen „Staatszirkus der DDR“ und bestand aus den Zirkussen Busch, Berolina und Aeros. Da diese Kultureinrichtung den Status eines Volkseigenen Betriebes trug, fiel der Staatszirkus in die Zuständigkeit der Treuhand und dort in den Bereich Dienstleistung. Alexander Graf Matuschka erinnert sich im Interview an die komplexe Privatisierungsgeschichte, an die fehlende Buchhaltung der Zirkusse oder die massiven Schwierigkeiten mit dem Fuhrpark. Das Winterquartier in Hoppegarten mit einer Fläche von 11,5 ha und zahlreichen eigenen Werkstätten wurde schnell abgespalten und privatisiert.

Staatszirkus der DDR
Staatszirkus der DDR © Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1334941

Die weitere Geschichte der drei Zirkusse war aber alles andere als rosig. Die Gelder von der Sowjetunion-Tournee, wo sich der Zirkus Aeros 1990 ein Jahr lang aufgehalten hatte, wurden dort eingefroren. Die Premiere in Recklinghausen in Zusammenarbeit mit den Ruhr-Festspielen war schlecht vorbereitet und brachte keine nennenswerten Erfolge. Die Liquidation der Zirkusse dauerte bis zum Jahr 2000. Von ihr waren nicht nur das Personal, sondern auch die Tiere betroffen. 16 indische Löwen von Hanno Coldam wurden im Safariland Stukenbrock bei Bielefeld untergebracht. Der Berliner Zoo übernahm einige Eisbären. Auch zahlreiche weitere Tiere wurden in verschiedenen Zoos untergebracht oder an ehemalige Betreuer und Betreuerinnen regelrecht verschenkt [14].

 

Die Privatisierung der DEFA-Unternehmen war komplex und beanspruchte den größten Teil der Arbeitszeit von Andreas G. Zetzsche bei der Treuhand. Es ging, so formuliert er es, um „die Wahrung des kulturhistorischen Interesses der DDR“. Das Ziel war es, jemanden zu finden, der dieses kulturhistorische Erbe sichern und ein zukunftsfähiges, medienorientiertes Konzept mitliefern konnte. „Mehr als 4.100 Beschäftigte hatten die DEFA-Spielfilm, die DEFA-Dok., die DEFA-Synchron, die DEFA-Trick, die DEFA-Kopie, der Progress-Verleih und der Außenhandelsbetrieb der DEFA zum Zeitpunkt der Bestandsaufnahme [15].“

DEFA Filmstudio Babelsberg 1992
DEFA Filmstudio Babelsberg 1992 © Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, Bild EBW_PH_1205737

Die DEFA-Studios in Babelsberg wurden vom Gesamtkomplex DEFA abgespalten und im August 1992 an den französischen Konzern Compagnie Générale des Eaux (heute: Vivendi Universal) verkauft. Auf dem Gelände in Potsdam/Babelsberg wurden sowohl die Filmhochschule, als auch der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) angesiedelt. Der Verkauf an die filmaffinen Franzosen gilt als einer der Erfolge der Treuhandprivatisierungen.

Einschätzungen und rückwirkende Beurteilungen

Die ehemaligen Treuhand-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter äußern beinahe einstimmig, dass sie die Privatisierung sinnvoll fanden, weil sie den Staat für keinen guten Unternehmer hielten. Es handele sich zwar um eine paradoxe Geschichte, in der der Staat eine Behörde schuf, um bequemer entstaatlichen zu können. Aber nach deren marktwirtschaftlichen Vorstellungen habe es keine Alternativen zu diesem Weg gegeben. Der Staat könne vieles, aber nicht unternehmerisch auf dem Weltmarkt Produkte platzieren oder seine Investitionen den Bedürfnissen des Marktes anpassen. Das war der Konsens. Wolf Schöde, der Pressesprecher der Treuhand, verglich die Erfahrungen der Strukturpolitik im Ruhrgebiet mit den Herausforderungen in den neuen Bundesländern: „Also ich wusste, hier ist Strukturwandel angesagt, aber in drei Zehnerpotenzen mehr […]. Es war dasselbe wie in NRW, nur sehr viel mehr, größer, schrecklicher, tragischer, ja fundamentaler in jeder Hinsicht, gewaltiger in jeder Hinsicht.“

Außerdem nehmen die Reflektionen über die Berührungen mit Wirtschaftskriminalität, Bestechungsversuchen und Korruptionsfällen breiten Raum in den Interviews ein. Die Möglichkeiten, die die Wiedervereinigung und der privatwirtschaftliche Umbau der DDR-Wirtschaft anbot, zog zahlreiche kleine und große kriminelle Energie nach Ostdeutschland. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten mit solchen Begebenheiten zu tun und mussten die potenziellen Käufer häufig einer genaueren Überprüfung unterziehen. Die fehlenden Kontroll- und Überprüfungsmechanismen und der Arbeitsdruck sorgte für zahlreiche Fehler, die in den Interviews reflektiert werden. Hans Richter, Stuttgarter Staatsanwalt, leitete in der Treuhand die Stabstelle für besondere Aufgaben, die sich mit dem Aufspüren der kriminellen Fälle beschäftigte. Er erzählt im Interview, dass er in den zwei Jahren seiner Arbeitszeit etwa 2.000 Fälle an die Justiz als strafrechtlich relevant übergeben konnte [16].

Hero Brahms , der Vizepräsident der Treuhand, fasste seine Zerrissenheit folgendermaßen zusammen: „Und das war überhaupt unser größtes Problem. Wir waren Sachwalter, wir konnten nicht mit Emotionen handeln. Wir wurden aber ständig konfrontiert mit Adjektiven unmenschlich, unsozial.“

Christian Böllhoff, Vorstandassistent von Wolf Klinz, sagte bilanzierend im Interview: „Die Treuhand war in keinem Fall eine reine Erfolgsgeschichte.“

Die Treuhandanstalt als Teil einer gesamtdeutschen Geschichte

Betrifft die Geschichte der Treuhand nur Ostdeutschland? Schaut man genauer hin, dann waren Ost und West im gesamten Transformationsprozess eng verknüpft. Das wird besonders deutlich an den Erzählungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Treuhandanstalt sichtbar. Außerdem gab es nicht nur die häufig angesprochene Ost-West-, sondern auch eine erhebliche West-Ost-Wanderung [17]. Es war ein gegenseitiger Verstehens- und Lernprozess, den viele durchgemacht haben. Maria Breitfeld-Markowski, aus West-Berlin stammend und im Direktorat Finanzen für Sozialpläne zuständig, lernte zum Beispiel die Folgen dessen, was Historiker und Soziologen als Arbeitsgesellschaft oder „arbeiterliche Gesellschaft“ (Wolfgang Engler) bezeichnen: „Und dann habe ich natürlich eines gelernt. Das wusste ich nicht, weil Arbeitsverhältnisse im Westen, sagen wir es mal ganz platt, laufen anders ab. Man hat nicht die emotionale Bindung an sein Unternehmen, wie das in den neuen Ländern der Fall war, dass im Prinzip der Betrieb mehr oder weniger eine zweite Familie ist.“ Solche Erkenntnisse bei den zahlreichen Begegnungen mit den Folgen einer anderen Wirtschaftsform begleiteten die Arbeit der Treuhandmitarbeiterinnen und –mitarbeiter, die aus Westdeutschland stammten.

Die enge Verflechtung zwischen Ost und West innerhalb der Treuhand war bereits von Birgit Breuel, Präsidentin der Treuhandanstalt, in einem Grundsatzreferat bei den Mitarbeitertagen im November 1991 thematisiert worden: „Von Anfang an stand die Treuhand an der Schnittstelle zwischen Ost und West, zwischen den Kräften des alten Regimes und der pluralistischen Vielfalt im Westen; zwischen Hoffnungen, Ängsten, Ansprüchen und Forderungen der Bürger in Ost und West. Die Mitarbeiter der Treuhand spüren heute wohl am deutlichsten die großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Einigung. […] Wir in der Treuhand nehmen das Zusammenwachsen von Ost und West vorweg [18].“

Quellen

[1] Vgl. Marcus Böick, Christoph Lorke, Zwischen Aufschwung und Anpassung. Eine kleine Geschichte des „Aufbau Ost“, Bonn 2022, S. 31-34.

[2] Vgl. Boris Herrmann, Henrike Rossbach, Die Anstalt, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 104, Samstag/Sonntag, 6./7. Mai 2023, S. 11-13. URL: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/treuhandanstalt-ro….

[3] Organisationshandbuch der Treuhandanstalt, Stand 10/1991: BArch B 412/26243, Bl. 151.

[4] Vgl. Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (Hrsg.), ˈSchnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stilllegen.ˈ Ein Rückblick auf 13 Jahre Arbeit der Treuhandanstalt und der Bundesanstalt für Vereinigungsbedingte Sonderaufgaben. Abschlussbericht der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben, Berlin 2003, S. 26.

[5] Vgl. Treuhandanstalt (Hrsg.), Dokumentation 1990-1994, 15 Bde., Abschlussbericht, Berlin 1994, S. 9.

[6] Vgl. Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung, Göttingen 2018, S. 286-293, 348-351; Birgit Breuel (Hrsg.), Treuhand intern. Tagebuch, Frankfurt a.M. 1993, S. 126f.

[7] Treuhandanstalt (Hrsg.), Dokumentation 1990-1994, 15 Bde., Abschlussbericht, Berlin 1994, S. 10.

[8] Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung, Göttingen 2018, S. 286-293, 348-351; Vgl. auch dazu Birgit Breuel (Hrsg.), Treuhand intern. Tagebuch, Frankfurt a.M. 1993, S. 556.

[9] Vgl. Ebd., S. 430-432 und S. 458.

[10] Treuhandanstalt (Hrsg.), Dokumentation 1990-1994, 15 Bde., Abschlussbericht, Berlin 1994, S. 5.

[11] Otto Depenheuer, Karl-Heinz Paqué (Hrsg.), Einheit – Eigentum – Effizienz. Bilanz der Treuhandanstalt, Berlin, Heidelberg 2012, S. 36.

[12] Vgl. Marcus Böick und Annette Schuhmann, Frontier-Erfahrung im „wilden Osten“. Die Treuhand in den 1990er Jahren. Ein Interview mit dem Historiker Marcus Böick, in: Zeitgeschichte-online, September 2018, URL: https://zeitgeschichte-online.de/interview/frontier-erfahrung-im-wilden….

[13] Dierk Hoffmann, Treuhandanstalt – Privatisierung – Öffentlichkeit. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Die umkämpfte Einheit. Die Treuhandanstalt und die deutsche Gesellschaft, Berlin 2022, S. 13-115, hier S. 46.

[14] Vgl. Dietmar Winkler, Zirkus in der DDR. Im Spagat zwischen Nische und Weltgeltung, Berlin 2009, S. 438-442; Ders., Wie beerdigt man einen Zirkus? Das langsame Sterben des Staatszirkus der DDR, Gransee 2015; Birgit Breuel (Hrsg.), Treuhand intern. Tagebuch, Frankfurt a.M. 1993, S. 304-308.

[15] Birgit Breuel (Hrsg.), Treuhand intern. Tagebuch, Frankfurt a.M. 1993, S. 351.

[16] Siehe dazu: Barbara Bischoff, Die Stabsstelle. Besondere Aufgaben bei der Treuhandanstalt. Ein funktionales Konzept zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität?, Münster 2016; Klaus Boers, Ursula Nelles, Hans Theile (Hrsg.), Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, Baden-Baden 2010.

[17] Vgl. Marcus Böick und Annette Schuhmann, Frontier-Erfahrung im „wilden Osten“. Die Treuhand in den 1990er Jahren. Ein Interview mit dem Historiker Marcus Böick, in: Zeitgeschichte-online, September 2018, URL: https://zeitgeschichte-online.de/interview/frontier-erfahrung-im-wilden….

[18] Birgit Breuel (Hrsg.), Treuhand intern. Tagebuch, Frankfurt a.M. 1993, S. 277.

 

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