Mit der Gründung der Treuhandanstalt durch ein Gesetz der letzten DDR-Volkskammer am 17. Juni 1990 begann eines der ehrgeizigsten und zugleich kontroversesten Projekte der Wiedervereinigung: Die Umwandlung von rund 8.500 volkseigenen Kombinaten und Betrieben – später durch Abspaltungen sogar über 12.500 – in marktwirtschaftlich organisierte Unternehmen. Ein Transformationsprozess, der nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich tiefe Spuren hinterlassen hat. Die Treuhand übernahm auf einen Schlag Verantwortung für vier Millionen Beschäftigte und ein wirtschaftliches Erbe, das zwischen Aufbruch und Abwicklung, zwischen Unsicherheit und dem Ringen um eine wirtschaftliche Zukunft schwankte.

Erzählte Geschichte statt Statistik

Arbeiter in einer Fräserei. Man sieht eine große Maschine.
Arbeiter in der Fräserei. Der radikale Stellenabbau hat das ehemalige Stahlbaukombinat Ernst Thälmann, heute SKET AG, erreicht. 27. 11. 1992, Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 92_1127_WIF-SKET_06

Was in der rückblickenden Betrachtung oft auf der Ebene der abstrakten Zahlen und ökonomischen Kategorien verbleibt, wird in dieser Interviewreihe zu konkreten Erfahrungsgeschichten. 21 Unternehmerinnen und Unternehmer – darunter Geschäftsführerinnen, Eigentümer, Aufsichtsräte und Gründerinnen – berichten aus erster Hand, wie sie ostdeutsche Betriebe übernommen, erhalten oder auch verloren haben. Sie erzählen von ihrer Sicht auf die Treuhand und von ihren Versuchen, aus maroden Betrieben, instabilen Märkten und politischen Unsicherheiten etwas Neues und Dauerhaftes entstehen zu lassen.

Für viele Betriebe war die Treuhandzeit eine Zeit der Abwicklung. Rund 30 Prozent der 12.500 Betriebe hatten keine Zukunft. Das war u.a. auch dadurch bedingt, dass sich die Betriebe überaus komplexen Herausforderungen gegenübergestellt sahen (mehr dazu im Dossier zum historischen Hintergrund und auf https://www.treuhandanstalt.online/).

 

 

Die anderen Geschichten, die über den unternehmerischen Mut und Eigeninitiative dürfen vor diesem Hintergrund allerdings nicht vergessen werden, wie der Historiker Dierk Hoffmann treffend formuliert:

„Die Geschichte der Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft ist nicht nur eine Geschichte der Deindustrialisierung und des ökonomischen Niedergangs zu erzählen, sondern auch als eine Geschichte der wirtschaftlichen Restrukturierung.“[1]

Ein neues Bild der Treuhand

Produktion der Motoränder im Motoradwerk Zschopau. Bundesstiftung Aufarbeitung, Dirk Krüll, MZ-Zschopau02

Die Interviews geben Einblick in eine bisher wenig beachtete Perspektive: die der ökonomischen Gestalterinnen und Gestalter vor Ort. Es geht um Unternehmen wie SKET in Magdeburg, Kathi Backwaren in Halle, das Serumwerk Bernburg, Florena, Strickchic Apolda, die Halloren Schokoladenfabrik in Halle/S., Piko in Sonneberg, Robotron oder die Wismar Werft – eine eindrucksvolle Bandbreite von Branchen, Regionen und Schicksalen. 

Einige kehrten als Alteigentümer in ihre enteigneten Familienbetriebe zurück. Andere, ohne persönlichen Bezug zum Osten, investierten als Neugründer oder als Teilhaber eines Manager-Buy-Outs in die Zukunft dieser Unternehmen. Sie mussten lernen, was Begriffe wie „Jahresgespräche“, „Regalgebühren“ oder „Listung“ bedeuteten. Alle mussten Kapital beschaffen, neue Märkte erschließen, Belegschaften motivieren und dabei mitunter gegen politische und institutionelle Widerstände ankämpfen. Ein einflussreicher Partner ist dabei die Treuhand. Ihr Wirken wird in den Interviews mal als mitfühlend und fördernd, mal als desinteressiert oder sogar blockierend beschrieben. 

Transformation als lebendige Entwicklung

Es gab in den 1990er Jahren ein besonders plastisches Bild, eine Metapher, in der die Überführung der Plan- in die Marktwirtschaft mit der Lebendigmachung einer Fischsuppe verglichen wurde und die Herausforderungen veranschaulicht. Dr. Christoph Bergner, ehemaliger Ostbeauftragter der Bundessregierung und gelernter Agraringenieur, beschriebt das folgendermaßen:

„Die Marktwirtschaft – so die Metapher – gleiche den Verhältnissen in einem intakten, artenreichen Aquarium [...]. Bei der sozialistischen Verstaatlichung sei es, als würde dieses Aquarium auf einer heißen Herdplatte aufgekocht. Im Ergebnis wird aus dem lebensreichen Aquariumsbiotop eine strukturlose Brühe. Die Aufgabe bei der Reform der ehemaligen Ostblockstaaten besteht nach diesem Vergleichsbild darin, aus dieser Bouillon wieder ein intaktes, vielfältiges und lebensreiches Aquarium zu machen.“[2]

Genau diese Rückverwandlung – oder besser: Neuerschaffung – ist in den Interviews spürbar. Die Betriebe, oft schon totgesagt, werden zu lebendigen Organismen, zu Biografien, zu Geschichten sowohl des Gelingens als auch des Scheiterns.

Ein Protagonist des Gelingens ist Rainer Thiele, der Kathi Backwaren in Halle mit viel persönlichem Risiko und Durchhaltewillen in den Familienbesitz zurückholt und anschließend durch ein Dickicht neuer Marktregeln und wirtschaftlicher Unsicherheiten navigieren muss. Über Nacht wurde aus einem in der Mangelwirtschaft umworbenen Hersteller ein Bittsteller im System der Supermarktketten. Thiele erzählt:

„Ich bin früher 130-140.000 km gefahren. […] So und dann mit Modalitäten konfrontiert, die für uns Fremdwörter waren. Wir wussten nicht, was Listen ist, was Konditionen sind […]. Ich sage: Was hab ich denn damit zu tun als Unternehmen? – Ja, Sie wollen doch, dass Ihre Produkte drin stehen.“ (Hier im Podcast nachzuhören)

Auch Dr. Helge Fänger, Chemiker und Leiter des Serumwerks Bernburg, gerät in dieser Zeit in einen beinahe aussichtslosen Überlebenskampf gegen die ökonomische Logik eines Systems, das ihm – und seinem Werk – kaum eine Zukunft einräumen will. Er erlebt hautnah, wie westdeutsche Konzerne zwar interessiert scheinen, aber letztlich nicht bereit sind, in die Region zu investieren. Um das Unternehmen dennoch zu retten, formt Fänger gemeinsam mit zwei Kollegen ein Management-Buy-Out – gegen viele Widerstände:

„Wir hatten dann vier Monate Zeit, um, ich sage mal, eine Größenordnung von 30 Millionen D-Mark in Privathand [...] hinzubekommen. Und haben das hinbekommen.“ (Hier im Podcast nachzuhören)

Auch die Geschichte von Martina Lotzmann, gelernte Textilgroßhändlerin aus Leipzig, zeigt, wie Unternehmerinnen mit Vision und Pragmatismus in der Transformationszeit Neuland betraten. Sie übernimmt ihren ehemaligen DDR-Betrieb über ein Management-Buy-Out – und beginnt, diesen in ein modernes Handels- und Modeunternehmen zu verwandeln, inklusive Exportaktivitäten und einem eigenen Label. Dabei fühlt sie sich von der regionalen Treuhand unterstützt und ernst genommen:

„Ich konnte mit allen Fragen, die ich hatte, wo ich nicht wusste, wie ich es regeln soll oder was für Möglichkeiten überhaupt bestehen, wie ich mich verhalten kann, alles das konnte ich fragen gehen. Und die haben sich auch dafür interessiert, dass das dann auch so gemacht wird [...] wirklich auch helfend oder mitdenkend.“ (Hier im Podcast nachzuhören)

Lotzmann baut eigene Einzelhandelsstrukturen auf – in Leipzig ebenso wie in den GUS-Staaten – und erhält 1993 die Auszeichnung als „Managerin des Jahres“. Trotz späterer Rückschläge und einer Insolvenz bleibt sie öffentlich sichtbar und macht anderen Unternehmerinnen Mut: Scheitern sei kein Makel, sondern ein Neuanfang.

Diese Stimmen zeigen: Transformation war nicht nur ein abstrakter Systemwechsel, sondern ein gelebter Alltag – voller Widerstände, Lernprozesse und neuer Wege. Es waren Menschen wie Thiele, Fänger und Kienast, die der „Bouillon“ wieder Form und Richtung gaben – in kleinen und großen Schritten.

Warum sich das Hinhören lohnt

Diese Interviews sind keine nostalgischen Rückblicke. Sie sind Perspektivöffner. Sie machen deutlich, was es bedeutete, inmitten einer Systemtransformation unternehmerisch zu handeln – und was davon heute noch weiterwirkt. Wer verstehen will, warum die Treuhand in Ostdeutschland bis heute ein Reizwort ist, sollte zuhören. Wer wissen will, woher das Selbstbewusstsein vieler ostdeutscher Unternehmerinnen und Unternehmer kommt, findet hier Antworten. Und wer sich fragt, wie aus der Transformation der 1990er Jahre Lehren für heutige Umbrüche gezogen werden können, wird hier fündig.

Alle Interviews im Überblick

Diese Interviewreihe dokumentiert die Erfahrungen von 21 Unternehmerinnen und Unternehmer, die in der Transformationszeit nach 1990 Verantwortung für ostdeutsche Unternehmen übernommen haben.
Fabrikhalle mit Gerätschaften, die mit Folien abgedeckt sind und nicht mehr in Gebrauch

Podcast „Innensichten einer Behörde“

Die Treuhandanstalt ist eine der umstrittensten Organisationen in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von einst erzählen unverblümt, ungeschönt und unerwartet, wie die Transformation der ostdeutschen Planwirtschaft in die soziale Marktwirtschaft ablief. Es ist eine Perspektive, die bisher kaum präsent ist, aber mit Blick auf die Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft heute steht, unheimlich aufschlussreich.
Gebäude in blau getüncht mit Titel im Vorgrund in gelb
Quellen

[1] Dierk Hoffmann, Von der Plan- zur Marktwirtschaft. Die Treuhandanstalt und die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft, in: Jahrbuch Deutsche Einheit 2020, S. 187-205, hier S. 191.

[2] Christoph Bergner, Politische Erfahrungen bei der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation, in: Wirtschaftsdienst 101 (2021). https://doi.org/10.1007/.