Ein gewaltiger Anpassungsdruck lastete auf der Jugend in der SED-Diktatur. Jugendliche, die sich den Vorschriften und Einengungen ihres Lebens durch die Staatsorgane in Schule, Beruf und Freizeit widersetzten, die sich frei machen und eigene Lebensformen erproben wollten, stießen schnell und hart an die sichtbaren und unsichtbaren Mauern der DDR. Aufgrund ihres „Anderseins“ als Punks oder Friedensaktivistinnen bekamen sie die Macht des Systems zu spüren. Die Auswirkungen auf ihre Jugend und ihre Zukunft konnten gravierend sein: Ausgrenzung aus Bildung und Beruf, Stigmatisierung, Verfolgung durch die Stasi oder auch Inhaftierung aus politischen Gründen.

Vierzehn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen berichten in Video-Interviews aus ihrer unangepassten Jugend in der DDR. Sie vermitteln ein lebendiges Bild davon, was es für einen jungen Menschen bedeutete, in einer Diktatur aufzuwachsen – und dabei trotzdem den eigenen Vorstellungen von einem selbstbestimmten Leben zu folgen.

Die Video-Interviews wurden durchgeführt von der Hoferichter & Jacobs Film- und Fernsehproduktionsgesellschaft mbH im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und dem Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland. 

Videoreihe: Zeitzeugeninterviews „Gegen alle Mauern – Unangepasste Jugendliche in der DDR“

Gegen alle Mauern – Zeitzeugeninterviews: Anne Hahn

Anne Hahn (*1966) verlebt eine unbeschwerte Kindheit in Magdeburg. Als sie wegen der fehlenden Parteizugehörigkeit ihres studierten Vaters selbst kein Abitur machen darf, beginnt sie erstmals kritische Fragen zu stellen. Während ihrer Ausbildung schließt sie sich der kleinen…

Weiterlesen

Gegen alle Mauern – Zeitzeugeninterviews: Josephine Keßling

Josephine Keßling (*1962): „Wir konnten damals überhaupt nicht ahnen, dass die Mauer fällt. Hätte ich das geahnt, dass diese Möglichkeit überhaupt bestünde, hätte ich keinen Ausreiseantrag gestellt.“ Josephine Keßling wächst in Thüringen in bürgerlichen, traditionell geprägten…

Weiterlesen

Podcastreihe: Gegen alle Mauern

Podcastreihe

Die Zeitzeugeninterviews bildeten zudem die Grundlage für die zehnteilige Podcastreihe „Gegen alle Mauern“. Sie ist eine Produktion von Musealis im Auftrag der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland.
Weiterlesen

 

Historischer Hintergrund

Zwischen Anpassung und Rebellion: Jungsein in der SED-Diktatur

Fragt man heute diejenigen, die ihre Kindheit in der DDR verbracht haben, wie es damals war, so wird man in den meisten Fällen positive Antworten bekommen – trotz der kommunistischen Diktatur und des Eingesperrtseins hinter Mauer und Grenzanlagen. Kindheit und Jugend sind schließlich in der Regel eine unbeschwerte, aufregende Zeit mit vielen schönen Erlebnissen, an die man sich später gerne erinnert. Und so war es auch in der DDR: Die Freundschaften in der Schule, Abenteuer im Ferienlager, das erste Fahrrad, endlose Sommertage im Schwimmbad, schöne Urlaube mit der Familie an der Ostsee, in die Disko gehen, sich verlieben. Vieles von dem, was für Kinder und Jugendliche heute ganz normal ist, gab es natürlich auch damals schon. 

Es gab aber auch viele Unterschiede. Zum Beispiel hatten Kinder in der DDR im Vergleich zu heute relativ junge Eltern. 18-jährige Mütter waren keine Ausnahme. Denn wer früh heiratete und Nachwuchs bekam, dem wurde schneller eine eigene Wohnung vom Staat zugeteilt. Eine Familie zu gründen, war für viele junge Leute daher der einfachste Weg, von zu Hause auszuziehen. Auch die Kinderbetreuung war damals in einigen Bereichen anders. Die Kleinkinder wurden oftmals bereits mit wenigen Monaten in der Krippe betreut. Die Mütter waren schließlich in der Regel berufstätig und mussten so schnell wie möglich wieder zurück in die Produktion, um beim staatlich proklamierten „Aufbau des Sozialismus“ mitzuhelfen. Danach kam der Kindergarten und mit sechs Jahren begann die Grundschule. Die meisten Kinder wurden im ersten Schuljahr Jungpioniere in der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“, der staatlichen Massenorganisation für Kinder. Anders als in der Bundesrepublik gingen die meisten Kinder nach der Schule nicht nach Hause, sondern in den Hort. Die Ganztagsbetreuung für Schülerinnen und Schüler war in der DDR schon damals üblich.

In der Schule war früher vieles anders als heute. In der DDR gab es keine verschiedenen Schulformen wie heutzutage, sondern es gingen alle von der 1. bis zur 10. Klasse in die Polytechnische Oberschule, kurz POS genannt. Hier sollten alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam lernen, egal, wie leistungsstark sie waren. Mit 14 Jahren traten die meisten DDR-Teenager dann der FDJ bei, der „Freien Deutsche Jugend“, der Jugendorganisation der SED, und feierten ihre Jugendweihe. Sie war als sozialistischer Ersatz für kirchliche Feiern wie Kommunion und Konfirmation eingeführt worden, welche die Staatspartei im Sinne der kommunistischen Ideologie für überholt hielt und zurückdrängte. 

Anders als heute durften nur etwa 10 Prozent eines Jahrgangs schließlich an der Erweiterten Oberschule, kurz EOS, ihr Abitur machen, um danach studieren zu können. Die Auswahl fand nach bestimmten Kriterien statt. Die schulischen Leistungen waren wichtig, aber es wurde auch nach Herkunft und Einstellung gegenüber der politischen Ordnung entschieden. Ein Schüler mit Arbeitereltern hatte gegenüber einem Kind, dessen Eltern ebenfalls schon studiert hatten, gute Chancen, bevorzugt zu werden. Umgekehrt wurde Jugendlichen, die nicht der FDJ beitreten wollten oder sich der Jugendweihe verweigerten, um sich z.B. taufen zu lassen, der Zugang zum Abitur trotz guter Schulnoten unmöglich gemacht. Den Entscheidungen „von oben“ war man weitestgehend ausgeliefert. Wer kein Abitur machen konnte oder durfte, der erlernte eben gleich nach der 10. Klasse einen Beruf. „Gesellschaftliches Engagement“ zum Beispiel in der FDJ oder eine vorzeitige Verpflichtung zu einem verlängerten Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee förderten hingegen die Aussichten auf ein Studium. 
 

Der Jugend in der DDR kam aus Sicht der Staatspartei die zentrale Rolle als Trägerin, Mitgestalterin und Garantin einer Zukunft auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus zu. Die SED-Führung liebte es, ihre vermeintliche Verbundenheit mit der Jugend in der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Auf jeder der in der DDR zahlreichen Paraden wurden Massen von marschierenden Jungen und Mädchen an den Tribünen der Parteiführung vorbeigeführt. Fröhlich lächelnd schwenkten die uniformierten Jugendlichen rote Fahnen, Blumensträuße und Tücher – und ließen in eingeübten Sprechchören die Staatsführung hochleben. Die staatlichen Medien übertrugen die Jubelbilder in die Wohnzimmer der DDR.

Jungsein in der DDR hieß, in einer Diktatur aufzuwachsen, die alle Medien beherrschte, und die versuchte, fast ausnahmslos jeden Lebensbereich der Menschen zu kontrollieren und ihre individuelle und freie Entwicklung in vielen Bereichen zu unterdrücken. Das Regime glaubte, auf dem Weg in die kommunistische Gesellschaft aus der Jugend heraus einen neuen Menschentyp formen zu können, die „sozialistische Persönlichkeit“. Diese sollte der Partei und ihrer Ideologie treu ergeben sein, ihr eigenes Wohl unter das des Kollektivs stellen und mit Pflichteifer und Disziplin beim Aufbau des Sozialismus mithelfen. 

Die nachkommende Generation wurde in der DDR in diesem Sinne von Kindesbeinen an auf die Parteilinie getrimmt: Bereits in der Kinderkrippe und später im Schulunterricht waren die Kinder und Jugendlichen einer massiven ideologischen Einflussnahme ausgesetzt, die von einem autoritären Erziehungsstil begleitet wurde. Man versuchte, ihnen die Überzeugung vom Kommunismus als angeblicher „Zukunft der ganzen Menschheit“ einzuflößen, zugleich wurde mit dem „kapitalistischen Westen“ ein klares Feindbild aufgebaut. Kritisch nachgefragt oder gar diskutiert werden durfte jedoch nicht. 

Und auch nach Schulschluss, in der Freizeit, konnte man als junger Mensch in der DDR dem allumfassenden Erziehungsanspruch der kommunistischen Staatspartei nur schwer entkommen: Die SED-Jugendorganisation FDJ dominierte die Freizeitangebote und setzte auch hier die politische Indoktrination der Kinder und Jugendlichen fort: Jugendclubs, Tanzveranstaltungen und Discos, Konzerte, Filmabende, Sportveranstaltungen, all das war in der Hand der kommunistischen Jugendorganisation. Staatlich unabhängige Angebote gab es nur wenige.

Auch der allgegenwärtigen Militarisierung in der DDR konnte man als Jugendlicher kaum ausweichen. Im Jahr 1978 wurde der Wehrunterricht ab der 9. Klasse eingeführt. Die Jungs bekamen dort eine vormilitärische Ausbildung in Exerzieren, Schießen und Handgranatenwerfen, die Mädchen im Zivilschutzbereich. Wer als Schülerin oder Schüler gegen diese Kriegsausbildung in der Schule protestierte, dem wurde paradoxerweise unterstellt, dass er oder sie gegen den Frieden sei. Pazifisten, so die SED-linientreue Argumentation, würden nämlich in Wirklichkeit den „imperialistischen Kriegstreibern“ im Westen in die Hände arbeiten und die „ruhmreiche Sowjetarmee“ verunglimpfen. Somit seien sie nicht würdig, verantwortungsvolle Aufgaben im Staat zu übernehmen. Am Ende der Weigerung, die Militarisierung in der Schule mitzumachen, stand so auch hier oftmals das Verbot, das Abitur zu machen und zu studieren. Das Studium wurde außerdem denjenigen verwehrt, die den eineinhalbjährigen Grundwehrdienst der Nationalen Volksarmee (NVA) verweigerten. Dieser wurde 1962 für alle Männer zwischen 18 und 26 Jahren eingeführt. Totalverweigerer mussten mit Haftstrafen rechnen. Um die Zahl der Abweichler gering zu halten, mussten sich Jungs bereits ein bis zwei Jahre vor ihrem Schulabschluss verpflichten.  

Der Anpassungsdruck, der auf der Jugend in der DDR lastete, war also riesig. Ihre Reaktion auf die Vereinnahmung ihres Lebens durch die SED und ihre kommunistische Ideologie war gespalten: Die meisten passten sich notgedrungen den Anforderungen an und suchten ihre individuellen Freiräume eben im privaten Bereich. Auch in der DDR konnte man schließlich eine glückliche Jugend verbringen. Mit dem scheinbar unumstößlichen System arrangierte man sich so gut es eben ging. Dabei wussten alle, dass eine Flucht aus der SED-Diktatur in die Freiheit des Westens seit dem Mauerbau 1961 lebensgefährlich und so gut wie unmöglich geworden war.

Wer als junger Mensch im geschlossenen System der DDR aber nicht zufrieden war, wer aufbegehrte, wer alternative Lebensformen erproben wollte und damit das Regime provozierte, wer gegen die politische Gängelung in der DDR rebellierte – der bekam schnell die geballte Macht des Systems zu spüren. So wurde beispielsweise Jugendlichen, die die Mitgliedschaft in der FDJ ablehnten, die sich in der unabhängigen Friedens- oder Umweltbewegung oder in der kirchlichen Arbeit engagierten, oder die sich den Ansprüchen des Systems sichtbar verweigerten, indem sie ein Leben beispielsweise als Punk führten, oftmals ganz einfach verboten, das Abitur zu machen und zu studieren. Sie wurden darüber hinaus vielfach in ihrem Alltag schikaniert oder gar zum politischen Gegner erklärt – sogar, wenn sie sich selbst gar keiner politischen Haltung bewusst waren. Tausende unangepasste Jugendliche wurden so kriminalisiert und ihre Zukunft wurde ihnen verbaut. Anderen jungen Menschen, die sich ausdrücklich politisch gegen das System stellten, drohten noch massivere Repressionsmaßnahmen: Andauernde Gängelung und Bespitzelung durch Polizei und Stasi, die Einweisung in ein geschlossenes Jugendheim, die Abschiebung aus ihrer Heimat oder gar langjährige Haftstrafen.

Einen alternativen Freiraum, eine Art kleine Parallelwelt in der DDR gab es allerdings, die vielen Jugendliche eine Zuflucht jenseits der offiziellen Staatspolitik bot: Das war die Kirche. Sie gab vielen Jugendlichen einen Raum, in dem sie sich bewegen, sich ausprobieren, sich entdecken konnten. Sie nahm sich mit ihrer Jugendarbeit auch den von offizieller Seite oftmals als asozial abgestempelten jungen Menschen an, den Blues-Fans, Hippies, Punks, aber auch den Andersdenkenden und Oppositionellen. Ihnen allen bot sie ein Dach für ihre Aktivitäten und Unterstützung bei ihren Problemen. 

Nicht wenige Jugendliche fanden schließlich auch den Weg in die Opposition gegen die SED-Diktatur. Die im Laufe der 1980er-Jahre zahlreicher werdenden unabhängigen Friedens-, Umwelt- und Bürgerrechtsgruppen der DDR forderten gesellschaftspolitische Alternativen und Reformen. Trotz staatlicher Repressionen trat die Opposition im Laufe des letzten Jahrzehnts der SED-Diktatur bei ihren Versuchen, die von den Herrschenden bewusst stillgelegte Gesellschaft zu mobilisieren, immer couragierter und offener auf und wurde schließlich zur treibenden Kraft der Friedlichen Revolution in der DDR, die im Herbst 1989 schließlich die Mauer zum Einsturz brachte und die SED-Diktatur endgültig hinwegfegte. 

Zusätzliche Materialien

Im Bildungskatalog der Bundesstiftung Aufarbeitung finden Sie geeignete Arbeitsmaterialien zur Vermittlung von DDR-Geschichte im Unterricht. Hier finden Sie eine Auswahl an Materialien zum Thema Jugend in der DDR:

Im Podiumsgespräch „Gegen alle Mauern – Unangepasste Jugendliche in der DDR der 1970er und 1980er Jahre“ am  22.06.2022, diskutierten drei der Protagonistinnen und Protagonisten, Anne Hahn, Josephine Keßling und Jürgen Gutjahr, über ihre Erfahrungen, gefolgt von einer Vorführung des Films „Go East Go West – Mauerspringer” von Christian Klemke und Dieter Wulf. Das Ganze wurde organisiert von der Bundesstiftung Aufarbeitung.

Zur Veranstaltung