Ziel der Heimerziehung

Die Kinder und Jugendlichen sollten zu Menschen erzogen werden „die sich selbstlos in den Dienst der Interessen des ganzen Volkes stellen.“ - so formulierte es Eberhard Mannschatz, der mehr als 20 Jahre Leiter der Abteilung Jugendhilfe im Ministerium für Volksbildung der DDR und maßgeblich am Aufbau des geschlossenen Jugendwerkhof Torgau beteiligt war. In seinem Erziehungskonzept orientierte sich Mannschatz an den Erkenntnissen des Sowjetpädagogen Semjonowitsch Makarenko, die innerhalb der Heime eine Kollektiverziehung vorsahen.

Neben produktiver Arbeit, Disziplin, Ordnung und Sauberkeit umfasste das Erziehungsprogramm auch militärischen Drill, eine paramilitärische Ausbildung sowie eine politisch-ideologische Schulung. Wie stark die einzelnen Teile den Alltag der Heimkinder prägten, hing vor allem von der Art der Heime sowie deren Direktoren und Mitarbeitern ab.

Anordnung einer Heimerziehung

Die Anordnung einer Heimerziehung konnte unterschiedliche Gründe haben. Neben auch heute gültigen Gründen wie z.B. Tod der Erziehungsberechtigten konnten allgemeine „Disziplinschwierigkeiten“, „Schul- und Arbeitsbummelei", eine „fehlende sozialistische Erziehung“ durch die Eltern oder Kritik am sozialistischen Gesellschaftssystem zur Anordnung der Heimerziehung führen. Auch (klein-)kriminelle Delikte wie Diebstahl, Sachbeschädigung, Körperverletzung und Passvergehen zählten zu den Gründen für eine Einweisung.

Seit 1953 entschieden die Organe der Jugendhilfe im Ministerium für Volksbildung über eine solche Anordnung, davor oblag diese Entscheidung den Gerichten. Ein Widerspruch gegen eine einmal verfügte Anordnung war kaum möglich. Daneben konnten Eltern ihre Kinder auch eigenständig in Heimen unterbringen und „freiwillige Erziehungsverträge“ mit der Jugendhilfe abschließen. Dabei haben wohl die wenigsten geahnt, was ihre Kinder in den Heimen unter staatlicher Obhut bei der Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit und beruflichen Ausbildung erleiden würden.

Schule und Bildung in der Heimerziehung

Kinder und Jugendliche in der DDR hatten ein Recht und eine Pflicht auf Bildung und Arbeit. Wie sich diese Ausbildung darstellte, hing davon ab, ob die Heranwachsenden in einem Normal- oder in einem Spezialkinderheim und daran anschließend in einem Jugendwerkhof untergebracht waren. In Normalkinderheimen besuchten die Kinder und Jugendlichen ortsansässige Bildungseinrichtungen. Die spätere Berufswahl geschah jedoch aus organisatorischen Gründen im Kollektiv, so dass alle die gleiche Ausbildung erhielten oder nur eine geringe Auswahl hatten. Individuelle Entscheidungsmöglichkeiten waren nicht gegeben.

Kinder, die wegen ihrer angeblichen Schwererziehbarkeit in Spezialkinderheimen untergebracht waren, konnten die ortsansässigen Bildungseinrichtungen nicht besuchen. Sie wurden innerhalb der Heime unterrichtet und hatten somit keine Möglichkeit, dem von Zwang und militärischen Drill geprägten Alltag der Heime zu entkommen.

Die schulische Ausbildung dauerte trotz einer Schulpflicht von zehn Schuljahren in den Spezialkinderheimen nur bis zur achten Klasse. Daran schloss sich eine dreijährige Lehrzeit im Jugendwerkhof an, die aber nur mit einem Teilfacharbeiterabschluss beendet werden konnte. Der Mangel an schulischer und beruflicher Qualifizierung zog signifikante Nachteile u. a. bei der beruflichen Teilhabe nach sich die das Leben der Betroffenen bis heute vielfach prägt.

Normal- und Spezialheime in der DDR

Das System der Heimerziehung in der DDR unterschied grundsätzlich zwischen Heimen für „normal erziehbare“ und „schwer erziehbare“ Kinder und Jugendliche.

In Normalkinderheimen wurden Kinder und Jugendliche untergebracht, bei denen keine „Erziehungsschwierigkeiten“ erwartet wurden, Waisen oder Kinder, deren Erziehungsberechtigte durch berufliche Tätigkeit, Krankheit oder aus anderen Gründen ihrer „Pflicht“ der sozialistischen Erziehung nicht nachkommen konnten.

In Spezialheimen wurden Kinder und Jugendliche untergebracht, die als „schwer erziehbar“ galten und „deren Umerziehung in ihrer bisherigen Erziehungsumgebung trotz optimal organisierter erzieherischen Einwirkung der Gesellschaft nicht erfolgreich verlief.“ (§ 1 , Abs. 2, Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe (1965). Hierunter zählte die DDR-Pädagogik alle Heranwachsenden, deren Verhaltensweisen und Leistungen im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Forderungen standen und sich u.a. in sogenannter Disziplinlosigkeit, Verhaltensauffälligkeiten und kriminellem Verhalten niederschlugen.

Dieses durch die DDR-Führung definierte Fehlverhalten wurde auf eine bisherige pädagogische Vernachlässigung, vorrangig in der Familie, zurückgeführt. Daher sollte innerhalb der Spezialheime eine „Ausmerzung aller negativer Einflüsse“ (zit. Gatzemann 2009, S. 41) stattfinden und durch militärische Disziplin, Kollektiverziehung und notfalls mit Gewalt eine Umerziehung zur sozialistischen Persönlichkeit erreicht werden.

Im Mai 1989 existierten 401 Normalkinderheime und 73 Spezialkinderheime. Dazu gehörten 41 Jugendwerkhöfe sowie der 1965 als Disziplinareinrichtung im System der Spezialheime eingerichtete Geschlossene Jugendwerkhof Torgau. In den Jahren 1949 bis 1990 haben etwa 495.000 Minderjährige die Heime der DDR durchlaufen; 135.000 davon die Spezialheime. Rund 6.000 Jugendliche lebten für eine gewisse Zeit im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau.

Jugendwerkhof - Eine besondere Form des Spezialheims

Ab 1951 wurden in Jugendwerkhöfen „erziehungsschwierige und straffällige Jugendliche“ (Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik vom 03. Dezember 1951, Nr. 140, S. 1105) im Alter von 14 bis 18 Jahren aufgenommen, die in der Regel über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügten. Die Jugendwerkhöfe existierten über die gesamte DDR verteilt und wurden abseits der Ballungsräume in alten Gutshöfen, Jagdschlössern und ehemaligen Strafanstalten eingerichtet.

Das Ziel der Jugendwerkhöfe war es durch einen Umerziehungsprozess im Sinne der SED „politisch-ideologisch gefestigte“, „charakterlich stabile“ und „lebenstüchtige“ junge Menschen in die sozialistische Gesellschaft zu entlassen (vgl. Krausz 2010, S. 32 ff.).

Die Jugendwerkhöfe waren von der Außenwelt weitgehend isolierte Orte, sämtliche unerwünschte Einflüsse (z.B. aus dem Westen, durch Religion etc.) wurden erfolgreich abgeschirmt. Dort herrschte ein System von strikten Regeln und einer rigiden Kontrolle derselben, militärischen Gepflogenheiten, straffen Zeitplänen, harter körperlicher Arbeit, brutalen Strafen und vor allem des Ein- und Unterordnens im Interesse des Kollektivs.

Bei Verstößen gegen die zahlreichen Regeln innerhalb der Heime, mussten die Jugendlichen mit harten Strafen durch die Erzieher aber auch durch das Kollektiv selbst rechnen. Körperliche Gewalt war als Strafe gesetzlich verboten, stattdessen waren Verwarnungen und Tadel vor der Gruppe als Disziplinierungsmaßnahmen vorgesehen. Tatsächlich kamen aber praktisch alle Formen von gewalttätigen Übergriffen vor, von der Ohrfeige bis zur Prügel mit dem Schlagstock; in besonders drastischen Fällen führte die Gewaltanwendung zur fahrlässigen Tötung.

Es wurden weiterhin Strafen angewendet, die heute als Folter gelten. Beispielsweise mussten die Jugendlichen für das unerlaubte Entweichen vom Gelände des Jugendwerkhofes bis zu 12 Tage in Isolationshaft verbringen. Weitere Formen der Disziplinierung umfassten den Entzug von Freizeit und Arbeitsentgelt. Zudem führte die tägliche schwere Arbeit und der Sport unter militärischem Drill oft auch zur physischen Überforderung.

Die Jugendlichen mussten sich an den Gesamtkosten ihrer oftmals ungewollten Unterbringung beteiligen und erhielten daher monatlich nur einen Teil ihres Lehrlingsentgeldes. Dabei richtete sich die Höhe dieses Taschengeldes nicht nur nach den erbrachten Leistungen, sondern auch entsprechend dem „politischen Wohlverhalten“. Außerdem wurden die Jugendlichen als günstige Arbeitskräfte in der Industrie und Landwirtschaft eingesetzt. Das Ministerium für Volksbildung der DDR sicherte einigen Unternehmen die Heranwachsenden sogar als Arbeitskräfte zu. Diese mussten dann schwerer bis schwerster körperlicher Arbeit nachgehen. Die Arbeitsverhältnisse rückten so in die Nähe zur Zwangs- und Strafarbeit.

Insgesamt waren die Jugendwerkhöfe Orte, an denen eine Gewaltanwendung billigend in Kauf genommen wurde, um die gewünschte Verhaltens-, Einstellungs- und letztlich Persönlichkeitsveränderung der Jugendlichen herbeizuführen. Falls dies innerhalb der Jugendwerkhöfe nicht gelang, wurden die Jugendlichen ab 1965 als letzte Disziplinierungsmaßnahme in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen.

Geschlossener Jugendwerkhof Torgau

Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau wurde 1964 auf einem ehemaligen Gefängnisgelände eingerichtet und glich auch im Inneren einer Strafvollzugsanstalt. Hier sollten laut Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe vom 22. April 1965 „(...) Jugendliche im Alter von 14 bis 20 Jahren aufgenommen (werden), die in Jugendwerkhöfen und Spezialkinderheimen die Heimordnung vorsätzlich schwerwiegend und wiederholt verletzten“. (zit. Ministerium für Volksbildung 1965: „Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe“ §2 Absatz 3) Dazu gehörten beispielsweise Fluchtversuche, wiederholte Arbeitsverweigerungen, „Aufwiegeleien“ und „Kritik am gesellschaftlichen System in der DDR“. Die Einweisung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau erfolgte durch einen Antrag des jeweiligen Jugendwerkhof-Direktors beim Ministerium für Volksbildung der DDR.

Im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau sollte durch strenge Disziplin und absolute Unterordnung jegliche „negative Lebensgewohnheit“ der Jugendlichen zerstört werden. Dem „gesellschaftswidrigen Verhalten“ der Jugendlichen ein Ende zu bereiten, darin lag für Günther Lehmann, erster Direktor der Einrichtung, die Voraussetzung für einen „optimalen Umerziehungsprozess“ in den Jugendwerkhöfen (vgl. Lehmann zit. n. Gatzemann 2009, S. 76 ff.).

Die „grüne Hölle Torgau“, wie die Insassen den Geschlossenen Jugendwerkhof wegen seiner grünen Wände nannten, begann für die Jugendlichen nach der Einweisung. Die Haare wurden geschoren, alle persönlichen Gegenstände abgenommen und die Heimkleidung angelegt - es folgten drei Tage in einer Isolationszelle. Bei einer wiederholten Einweisung nach Torgau verlängerte sich diese Folter, die abschrecken und auf den Aufenthalt in Torgau vorbereiten sollte, auf 12 Tage.

Der darauf folgende Alltag war geprägt durch ständige Überwachung, extreme Disziplin, Gewalt und das gänzliche Fehlen persönlichen Freiraums. Frühsport, Arbeit und der Toilettengang - alles geschah im Kollektiv, nach einem rigiden Zeitplan und unter dem militärischen Kommando des Erziehers. Prügel, Arrest (zum Teil in Wasser- und Dunkelzellen in unnatürlicher Haltung), Essensentzug und Zwangssport gehörten für die ca. 6.000 Jugendlichen, die zwischen 1965 und 1989 in Torgau inhaftiert waren, zu den alltäglichen Disziplinierungsmethoden. Dies führte zur gezielten Brechung der Persönlichkeiten, die viel zu oft in Suizid endete.