Unveränderte Fassung des 2008 erschienen Artikels im Band „Orte des Erinnerns an den Holodomor in der Ukraine 1932/33“. Eine Überarbeitung ist angestrebt
Die »Große Hungersnot« in der Sowjetunion gehört zu den größten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts und war nach Meinung des russischen Historikers Viktor Danilov das fürchterlichste Verbrechen Stalins« [1]. In der gesamten Sowjetunion hat die Hungersnot etwa sechs bis sieben Millionen Todesopfer gekostet. Im Fall der Ukraine kommen der ukrainische Historiker Stanislaw Kultschyzkyj und der australische Forscher Stephen G. Wheatcroft mit unterschiedlichen Methoden auf etwa 3,0–3,5 Millionen Opfer als direkte Hungertote der »Großen Hungersnot« 1932 / 1933 (und ganz überwiegend des Jahres 1933). [2] Andere Schätzungen liegen noch höher: Der russische Experte Nikolaj A. Iwnizkij geht von 7–8 Millionen Toten (Ukraine: 4–6 Millionen) als Folge der Hungersnot 1932 / 1933 aus. [3] Damit hatten die Ukrainer die absolut höchsten Opferzahlen zu beklagen. In Kasachstan, wo bezogen auf die heutigen Grenzen eine Gesamtbevölkerung von 6.198.467 Menschen (Volkszählung 1926) lebte, werden die Verluste für die Jahre 1930–1933 auf etwa 2 Millionen geschätzt, darunter bis zu 1,7 Millionen (überwiegend kasachische) Nomaden, die mit brutaler Gewalt zur Sesshaftigkeit gezwungen wurden. In der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) gab es außer Kasachstan (damals Autonome Republik der RSFSR) weitere große Hungergebiete. Kerngebiete der Hungersnot waren die Region Nordkaukasus mit dem besonders betroffenen Gebiet Kuban sowie den Gebieten Don und Stawropol, die Regionen Untere und Mittlere Wolga (einschließlich der Autonomen Republik der Wolgadeutschen). Außerhalb dieser Regionen hungerten die Menschen auch im südlichen Ural und Westsibirien sowie in den Gebieten Kursk, Tambow und Wologda. [4]
Die exakten Zahlen der Opfer werden sich wohl nie ermitteln lassen. Die Sowjetmacht leugnete die Hungersnot von Anfang an und versuchte, die statistische Erfassung der Toten zu verhindern. Die Hungersnot blieb in der Sowjetunion bis zur Zeit der Perestrojka ein streng gehütetes Tabu, an dem offiziell auch in der Zeit des Tauwetters nach Stalins Tod nicht gerüttelt wurde. Auch im Westen wurden die Ausmaße der Katastrophe lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen, obwohl bereits aufmerksame Zeitgenossen darüber berichteten. [5] In der Ukraine wurde das offizielle Beschweigen erst im Herbst 1987 allmählich durchbrochen, als der ukrainische KP-Chef Wolodymyr Schtscherbyzkyj in seiner Rede anlässlich der Feiern zum 70. Jahrestag der »Großen Oktoberrevolution« über die Hungersnot sprach, die seiner Meinung zufolge durch Missernten hervorgerufen worden war. Vorausgegangen war eine Einsetzung der »Kommission über die ukrainische Hungersnot« durch den amerikanischen Kongress. Nicht zuletzt die befürchtete Instrumentalisierung der Hungerskatastrophe durch die USA zur Zeit der Feiern zum »Großen Oktober« veranlassten die sowjetukrainische Führung 1986, eine Untersuchung der Ereignisse von 1932 / 1933 in Auftrag zu geben, um die Ergebnisse der Kommission des amerikanischen Kongresses widerlegen zu können. Die »Große Hungersnot« ist vielen Ukrainern bis heute als traumatisches Ereignis im Gedächtnis geblieben und als »Holodomor« [6] ein Schlüsselereignis der nationalen Erinnerung. [7]
Ohne die von der sowjetischen Regierung 1929 in Angriff genommene Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, d.h. die mit Macht und Zwang betriebene Zusammenfassung der bäuerlichen Kleinbetriebe zu größeren Produktionseinheiten und die Übernahme der Agrarwirtschaft in staatliche Regie, hätte es 1932/1933 keine Hungersnot gegeben. Sie löste endgültig die von Lenin im Jahre 1921 eingeführte »Neue Ökonomische Politik« (NÖP) ab, die als flexible Sozial- und Wirtschaftspolitik zur Überwindung der nach dem Bürgerkrieg desaströsen Wirtschaftslage eingeleitet wurde und partiell marktwirtschaftliche Elemente zuließ. Bereits 1927 / 1928 wollte die sowjetische Führung die Bauern anlässlich einer Getreidekrise, die die Versorgung der Städte in Zentralrussland und der Ukraine zu gefährden schien, in Kollektivwirtschaften, d.h. Kolchosen zwingen.
Die seit 1929 betriebene Zwangskollektivierung wurde in der Ukraine und in anderen Schwarzerdegebieten in kürzester Zeit und außerordentlich brutal durchgeführt. Sie war ein elementarer Bestandteil von Stalins ‚Revolution von oben‘: in ihrem Mittelpunkt stand die forcierte Industrialisierung des Landes, die zu einer tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Transformation des Staates führte und sich mit der endgültigen Etablierung Stalins im Zentrum der Macht und damit der Ausformung der UdSSR zum totalitären Staat verband. Der Kollektivierung lagen weniger ökonomische als vielmehr politische Motive zugrunde. Mittels der Kolchose sollte die Bauernschaft als zentrales Hindernis für die Etablierung der stalinistischen Diktatur unterworfen werden. Zugleich sollten die Kolchosen primär den Städten, der Industrie und der Roten Armee als Stützen des proletarischen Sowjetstaates dienen. Die Zwangskollektivierung sollte letztlich den Machtanspruch der Kommunistischen Partei (KP) überall durchsetzen und der Zentralisierung und Vereinheitlichung des Sowjetstaates dienen. Die Auseinandersetzung der Bolschewiki mit dem Dorf war aber zugleich Teil der ‚Kulturrevolution‘ und damit ein Kampf um Symbole, Lebensformen, Kulturen, also um die Köpfe der Menschen. Das Dorf war Hort von Traditionen, die die Nation konstituierten, sowie Ort der Pflege von Glaube und Kirche, die mit einer homogenen proletarischen Kultur und dem Anspruch der Stalinistischen Führung um absolute Deutungsmacht grundsätzlich kaum vereinbar waren. [8]
Bereits die ersten Versuche der sowjetischen Führung, im Jahre 1927/28, die Bauern in Kollektivwirtschaften zu zwingen, scheiterten. Stalin deutete den Widerstand gegen die Kollektivierung in »Sabotage von Kulaken« um, die dem Sowjetstaat ihre Macht demonstrieren wollten. Etwa gleichzeitig mit dem Beginn der Zwangskollektivierung erklärte Stalin Ende Dezember 1929 die »Liquidierung der Kulaken als Klasse«. Als Kulak (von russisch, wörtlich: »Faust«; ukrainisch: Kurkul) bezeichnete man die wohlhabenden, tüchtigeren Bauern oder solche, die sich der Zwangskollektivierung widersetzten. Der Kulak wurde zum (willkürlich dehnbaren) Inbegriff des »Klassenfeindes« und Sündenbock schlechthin. Die Zwangsmaßnahmen gegen Kulaken reichten von Einlieferungen in Konzentrationslager, Deportationen in entfernte Landesteile bis hin zu Erschießungen und richteten sich schließlich nicht mehr gegen die Minderheit wohlhabender Bauern, sondern die Masse der Mittelbauern.
Die Zwangskollektivierung ging mit Getreiderequirierungen einher, die die Bauern auch zur Abgabe des Futtergetreides zwangen. Vieh musste geschlachtet werden, das dann für Feldarbeiten nicht mehr zur Verfügung stand. Dadurch sank die Getreideanbaufläche spürbar – in der Ukraine von 1931 bis 1932 um 14%. Ein ähnliches Ausmaß erreichte der Rückgang im nördlichen Kaukasus. [9] Durch die brutalen Enteignungen und Deportationen Hunderttausender als »Kulaken« diffamierter Bauern und damit die Beseitigung von meist besonders tüchtigen Bauern wurde die Wirtschaftskraft des Dorfes geschwächt – ein weiterer wichtiger Faktor zum Verständnis der späteren Hungersnot. [10]
Die Zwangskollektivierungen und Getreiderequirierungen lösten den – teilweise bewaffneten – Widerstand der Bauern aus, der sich in den nichtrussischen Republiken mit nationalem Bewusstsein verband und daher hier besonders stark war. Er wurde mit brutalen Mitteln niedergeschlagen: An der mittleren Wolga, in der Ukraine und im Kaukasus gingen Einheiten der Roten Armee mit Artillerie und Giftgas gegen rebellische Bauern vor. Besonders heftig war der Widerstand in der Ukraine, wo sich im März 1930 eine Million Ukrainer im offenen Aufruhr befanden. [11] Hier war das Bewusstsein für bäuerliches Eigentum an Grund und Boden fester verankert als bei den Russen. [12] Auch nach der gewaltsamen Niederschlagung des Widerstandes blieb die Arbeitsmoral niedrig. Die Arbeit in den Kolchosen wurde weiterhin schlecht erledigt. Die Bauern versuchten Getreide beiseite zu schaffen, um im Winter zu überleben. Diesem Überleben diente auch der weit verbreitete passive Widerstand gegen die Getreiderequirierungen.
Die Hungersnot war eine direkte Folge der Zwangskollektivierung und der »Entkulakisierung«, die zu einem willkürlichen Umsturz der Eigentums- und Produktionsverhältnisse und zu einer Zerrüttung der Lebensgrundlagen der Bauern und der landwirtschaftlichen Produktivität führten. Daraus folgten zurückgehende Ernteerträge, die in Verbindung mit den schlechten klimatischen Bedingungen im Jahre 1932 dazu führten, dass zu wenig Getreide zur Verfügung stand. Doch nicht die Trockenheit, sondern vor allem die brutalen Getreidebeschaffungskampagnen im Winter 1932 / 1933, die der ohnehin schwer geschädigten Landwirtschaft das letzte Korn nahm, waren die Ursache für eine Hungersnot mit Millionen von Toten. Schon deswegen war die sowjetische Partei- und Staatsführung für die Hungersnot verantwortlich.
Standen in der Ukraine in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre noch ein Drittel der Getreideernte für den Markt zur Verfügung und zwei Drittel für die Ernährung von Mensch und Tier sowie für Saatgut, so wurden den Bauern von der Ernte 1932 mehr als die Hälfte weggenommen. Die Sowjetmacht hatte nicht etwa die Linderung der Hungersnot zur ersten Priorität erhoben, sondern entsprechend ihrer politisch-ideologischen Prämissen beispielsweise zwischen 1931 und 1933 Millionen von Tonnen Getreide exportiert, um mit den gewonnenen Devisen die Schwerindustrialisierung zu finanzieren. Alternativen gab es: Michael Ellman zufolge reichten die Weizenexporte 1932 / 1933 aus, um fünf Millionen Menschen ein Jahr lang zu ernähren. [13]
Die Partei- und Staatsführung reagierte im Mai 1932 unangemessen und senkte nur zögerlich die Beschaffungsquoten. Eine grundsätzliche Änderung der mit Repression verbundenen Politik gab es nicht. Stalin und seine Entourage standen dem Hunger von Millionen von Bauern gleichgültig gegenüber. An den Berichten über die Hungersnot aus der Ukraine, die auch über Fälle von Kannibalismus informierten, fand Wjatscheslaw Molotow, die rechte Hand Stalins, nur bedenkenswert, dass nun auch die Arbeiter in den Städten hungerten. Stalin hielt die Bauern selbst für die Schuldigen der Hungersnot und sah »nur noch Wirklichkeiten, die er selbst inszeniert hatte« [14]. Stalin war schon wegen unterlassener Hilfeleistung für den Tod von zahlreichen Menschen verantwortlich. Die Hungersnot wurde verschwiegen, Berichte darüber sogar verfolgt. Es wurden keine Hilfegesuche an die internationale Gemeinschaft gerichtet und der Import von Getreide nicht vorgenommen.
In den ländlichen Regionen der Ukraine kam es schon 1931/1932 zu verbreitetem Hunger. Die Opfer des Frühjahr 1932, dem eine schlechte Getreideernte 1931 vorausging, belaufen sich auf 144.000 Opfer. Nach einer erneuten schlechten Getreideernte in der Ukraine 1932 verhungerten die Menschen in der Ukraine spätestens seit dem Spätherbst 1932. Die Hungersnot erreichte ihren Höhepunkt im Juni 1933. Mit der neuen Ernte 1933 endete das Hungersterben.
Wie in den anderen Hauptgetreideanbaugebieten der UdSSR ist auch im Fall der Ukraine der nationale Faktor nicht die unmittelbare Ursache für das Gesamtereignis der Hungersnot von 1932 / 1933. Demnach haben die Bolschewiki die Hungersnot nicht von langer Hand geplant, um die Ukrainer per se als Volk oder Ethnos zu vernichten. Gleichwohl gibt es gute Argumente und Belege für die These, dass »die Stalin-Führung mit besonderer Brutalität gegen die ukrainischen Bauern und die ukrainischen Kosaken am Kuban vorging«, was die große Zahl der Opfer im Vergleich zu den Hungergebieten an der Wolga erklärt [15]. Historiker wie Terry Martin haben agrarpolitische und nationalitätenpolitische Ansätze verbunden und herausgearbeitet, dass die Stalinsche Führung im Verlauf der Hungersnot (und zwar seit Sommer 1932) in dem national aufgeladenen Widerstand der ukrainischen Bauernschaft gegen Kollektivierung und Getreidebeschaffung die Ursache für die Getreidebeschaffungskrise in der Ukraine sah [16]. Zugleich hielt Stalin die Kommunistische Partei der Ukraine für unzuverlässig und illoyal und verdächtigte sie, Interessen der Ukraine Vorrang vor den Interessen der UdSSR einzuräumen. Der national gedeutete Widerstand wurde von Stalin zugleich mit einer relativ liberalen Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ukrainisch kurz USSR) verknüpft, die – mit Unterstützung Moskaus – nachhaltig von der ukrainischen Parteiführung betrieben wurde und der Republik ein gewisses Maß an nationaler Autonomie verschafft hatte. Diese »nationale« Interpretation führte zu den seit Ende 1932 beschlossenen Terrormaßnahmen in der Ukraine, die ihrerseits die Hungersnot in den ethnischen ukrainischen Gebieten verschärften. [17] Sie bot der sowjetischen Führung 1932 / 1933 Anlass und Rechtfertigung, Hungerterror zu nutzen, um sämtlichen tatsächlichen oder potentiellen nationalen Widerstand in der USSR und im (mehrheitlich ukrainischen) Nordkaukasus auszurotten und die Nationalitätenpolitik unter die Kontrolle des Moskauer Zentrums zu bringen. [18]
Zwei Elemente bildeten das Kernstück der sowjetischen Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre. Die Politik der Einwurzelung (Korenisazija) diente der gezielten Bevorzugung von Nichtrussen beim Aufstieg in die sowjetischen Eliten sowie der Erhöhung des Anteils Einheimischer in den Republik-Apparaten von Partei und Regierung. Das zweite Element war die Förderung von nichtrussischen Sprachen, d.h. die Ukrainisierung im Bildungswesen, den Medien und der Verwaltung. Diese Politik diente nicht nur der Lösung nationaler Spannungen, sondern auch der Kontrolle der nichtrussischen Republiken und ihrer Bindung an die sowjetische Ordnung.
Insofern sollte die Förderung der nichtrussischen Völker die Herrschaft der Partei festigen: Nationsbildung war ein Instrument der Sowjetisierung. Außerdem erfüllte die Förderung der Ukrainisierung in den 1920er Jahren zunächst noch eine wichtige Funktion der sowjetischen Außenpolitik. Als ukrainisches ‚Piemont‘ mit einer vorbildlichen Sprach- und Bildungspolitik sollte die USSR die unter einer restriktiven Sprachpolitik leidenden Ukrainer im benachbarten Polen und Rumänien für die sowjetische Ordnung einnehmen und den Anspruch auf die Vereinigung aller ethnographisch ukrainischen Gebiete in einer Sowjetukraine festigen. [19]
Die Ukrainisierung führte im Bildungsbereich zu bemerkenswerten Ergebnissen, die den Erwartungen der Bolschewiki eigentlich zuwiderliefen. Nicht nur die Ukrainisierung im Schulund gesamten Bildungswesen verlief erfolgreich: Im Jahre 1933 erfassten die ukrainischsprachigen Schulen 88% der Schüler der Republik. Es entstand neben einer der europäischen Moderne zugewandten kulturellen Intelligenz auch eine selbstbewusste »nationalkommunistische« Parteiführung, die Freiräume der Republik zu wahren und zu erweitern suchte. Sie konnte beispielsweise mit Rückendeckung Stalins das Patronat des Volkskommissariats für Bildungswesen der Republik für die Ukrainisierung der ukrainisch besiedelten Gebiete der RSFSR (z.B. Nordkaukasus) durchsetzen.
In der Zeit der Zwangskollektivierung Anfang der dreißiger Jahre hatten sich die politischen Rahmenbedingungen für die Nationalitätenpolitik jedoch grundlegend verändert. Die Autonomie einer strategisch bedeutenden Republik wie der Ukraine war mit der sich seit Ende der zwanziger Jahre etablierenden Alleinherrschaft Stalins kaum noch vereinbar. Zugleich drohte sich das ‚Piemont-Prinzip‘ gegen die Sowjetunion selbst zu wenden. Im Kontext der gewalttätigen Kollektivierung wurden die Nachbarländer der Sowjetunion zu Zufluchtsorten für Verfolgte und die Gebiete der dort lebenden Landsleute zum Hort der dörflichen und nationalen Traditionen, »welche die Machthaber der Sowjetunion unter Barbareiverdacht stellten«. [20] Auch die positive außenpolitische Funktion einer nationalen Modellrepublik schien zu entfallen: In dem Staatsstreich von Józef Piłsudski im Jahre 1926 sah die sowjetische Führung einen drohenden Angriff des Weltimperialismus auf die UdSSR und befürchtete, der polnische Staat könne eine Zusammenarbeit mit bürgerlichen Ukrainern gegen die Sowjetunion nutzen. So ordnete das ernsthaft mit einer militärischen Intervention Polens rechnende Politbüro der KP nach der militärischen Niederschlagung der Bauernaufstände im Jahre 1930 Strafdeportationen aus Grenzgebieten der USSR zu Polen an, wo es zu Aufständen gekommen war. Als Brücke zur Verbreitung der Weltrevolution über Polen in die westeuropäischen Länder hatte die Ukraine nun keine Bedeutung mehr. [21]
Im Lichte dieses Anfang der dreißiger Jahre veränderten Umfeldes der Nationalitätenpolitik ist der Brief Stalins an Kaganowitsch über die Lage in der USSR und die Notwendigkeit des Austauschs der Führung der Republik vom 11. August zu lesen. Der Diktator drückt seinen massiven Ärger über den sich abzeichnenden Zusammenbruch der Getreiderequirierungen in der Ukraine und das Unvermögen der ukrainischen Führung aus. Er konstatiert: »Wenn wir uns nicht um eine Verbesserung der Situation in der Ukraine bemühen, können wir die Ukraine verlieren.« Er deutete Widerstand gegen die Getreiderequirierungen national und machte die ukrainische Republikführung dafür verantwortlich, dass sich im ukrainischen Parteiapparat ‚bewusste und unbewusste Petjuras‘ [22] (also antisowjetische ukrainische Nationalisten) und ‚Agenten Piłsudskis‘ befänden. Noch am 25. Juli 1932 hatte Stalin gewisse Senkungen der Getreideablieferungspläne für die Ukraine autorisiert. Seine scharfe Stellungnahme zur Lage im ukrainischen Parteiapparat war die Folge von Informationen der GPU darüber, dass sich in zwei Gebieten »50 Rayonparteikomitees gegen den Plan der Getreideerfassung ausgesprochen und ihn für unrealistisch erklärt« hätten. Weitere GPU-Berichte über Weigerungen von ukrainischen Funktionären der unteren Ebene, die Getreidebeschaffungspläne wegen des dann sicher drohenden Hungers zu erfüllen, stärkten Stalin in seiner Sicht. Folge war nicht Hilfe für die vom Hunger bedrohten Bauern, sondern Terror durch Hunger, der in der Ukraine schließlich besonders brutale Formen annehmen sollte. [23]
Die Beschlagnahmung zugunsten der Getreidebeschaffung ließ die Kolchosen in der Ukraine ohne Getreidevorräte. Bereits am 18. November 1932 fasste das ZK einen Beschluss zur Einführung von Naturalienstrafen für solche Bauern, die den Getreideablieferungsplan nicht erfüllten. Als Strafe wurde beispielsweise die Ablieferung von Fleischbeständen in hohen Quoten festgesetzt. Wenn man bedenkt, dass in der Folge der barbarischen Massenrazzien den Bauern schließlich sämtliche Nahrungsmittel weggenommen wurden, dann waren Hungersnot und der Tod zahlreicher Menschen auf dem ukrainischen Dorf die zwangsläufige Folge. Hungerterror und Kampf gegen den ukrainischen Nationalismus waren eng miteinander verknüpft: Am 18. November beschloss das ZK Repressionen gegen »kulakische und konterrevolutionäre Elemente« durch »Liquidierung der wichtigsten kulakischen und konterrevolutionären Petljura-Nester«. Insgesamt erreichte der Terror, der die Getreidereqirierungen in den Dörfern der Republik begleitete, zwischen Sommer und Ende 1932 ein unerhörtes und sich steigerndes Ausmaß: In Fällen, die mit der Getreidebeschaffung zusammenhingen, wurden zwischen dem 1. Juli und dem 15. November 1932 11.000 Menschen und allein zwischen dem 15. November und 15. Dezember nochmals 16.000 Menschen verhaftet. Im März 1933 befanden sich in der Ukraine infolge der Getreidekampagne 90.000 Menschen in Konzentrationslagern der Ukraine und des Nordkaukasus. Zu den Repressierten gehörten Tausende bäuerlicher Familien einschließlich Frauen und Kinder. [24]
Der Hauptschlag des Terrors richtete sich gegen das Bauerntum im Nordkaukasus im Allgemeinen und die Kuban-Kosaken im Besonderen. Der Kreis (Okrug) Kuban gehörte zur Region (Kraj) Nordkaukasus, die Teil der RSFSR war. Am Kuban lebten 1926 915.000 Ukrainer, darunter 580.000 Kosaken. In der ganzen Region Nordkaukasus lebten 3,1 Millionen Ukrainer. Vor allem gegen die Kuban-Kosaken richtete sich der ganze Hass von Lasar Kaganowitsch, dem Gefolgsmann Stalins, der die Repressionen im Nordkaukasus umsetzen sollte. [25] Die Kosaken zeichneten sich durch einen ausgeprägten politischen Eigensinn aus, widersetzten sich der Kollektivierung und galten den Bolschewiki als »Träger kulakischer Ideologie«. Kaganowitsch bereitete umfangreiche Repressionen gegen die Bauern im Nordkaukasus und Säuberungen der Parteiorganisation der Region (vor allem im Kuban) vor.
Der außerordentliche Terror im Nordkaukasus und der Ukraine wurde vom ZK und der sowjetischen Regierung, also der sowjetischen Staats- und Parteiführung, unter ihrem Vorsitzenden Molotow am 14. Dezember 1932 beschlossen. Die Getreidebeschaffungskrise wurde im Fall der Ukraine mit einer ‚mechanischen‘ (anstelle einer »richtigen bolschewistischen«) Durchführung der Ukrainisierung begründet, die wegen mangelnder Sorgfalt bei der Auswahl der Kader u. a. zum Eindringen von ‚bourgeoisen-nationalistischen Elementen und Petljuristen‘ in die Partei geführt habe. Noch harscher fiel das Verdikt über die Ukrainisierung im Nordkaukasus aus: Sie habe den Feinden der Sowjetmacht eine legale Form gegeben und sei für die Opposition gegen die Sowjetmacht durch Kulaken, Offiziere, zurückgekehrte Kosaken und ehemalige Mitglieder der Kuban-Rada verantwortlich. Kurz: Die Getreidebeschaffungskrise war demnach das Ergebnis des Widerstandes von Verrätern innerhalb des regionalen Apparats der Sowjets und der Partei, die erst durch die Ukrainisierung in die Apparate gelangt seien. Folge war der Abbruch der Ukrainisierung und die Russifizierung von Amtssprache, Zeitungen, Zeitschriften und Schulunterricht. Auch in allen anderen Territorien der UdSSR außerhalb der USSR wurde die Ukrainisierung beendet.
Als Strafmaßnahme leitete der Beschluss vom 14. Dezember brutalen Terror gegen die Kuban-Kosaken ein, den man durchaus als Auftakt für die ethnischen Säuberungen der späten dreißiger Jahre in der UdSSR sehen kann. Der GPU wurde befohlen, »in kürzester Zeit alle Bewohner der Kosaken-Staniza [Kosaken-Siedlung – Anm des Autors] Poltawskaja als eine der am meisten konterrevolutionären Staniza in die nördlichen Gebiete der UdSSR zu deportieren, ausgenommen diejenigen, die der Sowjetmacht wirklich ergeben sind [...] und ... diese Staniza mit gewissenhaften Rotarmisten-Kolchosbauern zu besiedeln [...]«. Wenig später wurden auch in den übrigen Städten und Dörfern des Kuban-Gebietes Kosaken verhaftet und schließlich insgesamt mehr als 60.000, vielleicht sogar bis zu 100.000 Menschen deportiert. [26]
Der Terror ging jedoch weiter. Zwar wurden zwischenzeitlich die Getreideerfassungsquoten von der sowjetischen Führung gesenkt, womit diese stillschweigend eingestand, dass insbesondere in der Ukraine dem Staat keine größeren Mengen Getreide durch die Bauern vorenthalten wurden. Vor allem fürchteten Stalin und andere Sowjetführer um die Ernte des Jahres 1933. Dies bedeutete jedoch keineswegs, dass die Führung mit ihren Handlungen den Willen demonstrieren wollte, die vom Hungertod bedrohten Menschen zu retten. Nur wenige Tage später setzte sich der Terror in der Ukraine mit einer außerordentlich brutalen Maßnahme fort. Hintergrund war die Tatsache, dass im Winter 1932/1933 Hunderttausende aus der Ukraine in die angrenzenden Territorien Weißrusslands und der RSFSR flüchteten, um dort Nahrungsmittel zu finden und dem Hunger in der Heimat zu entkommen. Diese Fluchtmöglichkeit vor dem Hunger wurde nun mit einer geheimen, von Stalin und Molotow unterzeichneten Direktive vom 22. Januar 1933 zunichtegemacht, die die Organe der GPU in der Ukraine und im Nordkaukasus anwies, die Flucht der Bauern aus der USSR in die angrenzenden Gebiete der Nachbarrepubliken zu blockieren.
Gleichzeitig wurden die GPU-Organe in verschiedenen russischen und weißrussischen Gebieten angewiesen, die bereits nach Norden geflüchteten Bauern zu verhaften, »konterrevolutionäre Elemente« auszusortieren und den Rest wieder in die Heimatdörfer, d.h. in die Hungergebiete zurückzuschicken. Diese Blockade-Maßnahmen galten nur für die Ukraine und den Nordkaukasus, nicht für die Hungergebiete an der Wolga und in Sibirien. Die Blockade sollte die Verbreitung von Informationen über den Hunger als auch das Anwachsen sozialer Spannungen in verschiedenen Regionen der UdSSR unterbinden und der Säuberung von angeblichen antisowjetischen und nationalistischen Elementen dienen, was Deportationen in den Norden der UdSSR einschloss. Im Rahmen der Blockade-Aktionen sind beispielsweise bis zum 13. März 1933 219.460 Menschen festgesetzt worden und davon 186.588 wieder in ihre Heimatorte zurückgeschickt worden. 9.385 wurden vor Gericht gestellt, davon 2.823 verurteilt. 10.657 wurden in Filtrationslagern festgehalten.
Gleichzeitig mit diesen brutalen Repressionen wurde das Jahr 1933 zur entscheidenden Periode der »Sowjetisierung« der Ukraine und der Festigung des politischen Systems der stalinistischen Diktatur. Das Kolchossystem und damit die zwangskollektivierte Landwirtschaft wurden zum Eckstein des stalinschen Herrschaftssystems. Die Institutionen der Landwirtschaft wurden umfassend gesäubert, neue Institutionen zur Kontrolle der Landwirtschaft in der Ukraine eingeführt. Insgesamt wurden mehr als 190.000 Menschen aus den Kolchosen vertrieben, davon mehr als die Hälfte Leitungspersonal. Moskau übernahm direkt die Kontrolle über die Republik: Stalin schickte ihm ergebene Leute in die Ukraine, die von ihm direkt ihre Anweisungen erhielten. Pawel Postyschew wurde der persönliche Vertreter in der Ukraine. Er war zwar nur zweiter Sekretär des ukrainischen ZK, tatsächlich aber der eigentliche Machthaber in der Ukraine. [27]
In umfassenden Parteisäuberungen zwischen Januar und Oktober 1932 wurde in der Ukraine fast das gesamte Führungspersonale der Partei und der Sowjets auf Rayonebene ausgewechselt. Von besonderer Bedeutung waren die Säuberungen im Apparat des ukrainischen Volksbildungskommissariats. Ihm oblag die Durchführung der Ukrainisierungspolitik, das wichtigste Feld der Autonomie der Republik. Auf den Volksbildungskommissar Mykola Skrypnyk, der die erfolgreiche Ukrainisierungspolitik personifizierte, übte die Stalinsche Führung nun massiven Druck aus. Skrypnyk übte nur halbherzig Selbstkritik, verteidigte sogar die bisherige Ukrainisierungspolitik. Im Sommer 1933 entzog er sich weiteren Repressionen durch Selbstmord.
Die Säuberungswelle erfasste sämtliche Institutionen von Kultur, Wissenschaft und Bildung. Allein an pädagogischen Hochschulen wurden 4.000 Lehrer entlassen. Viele Angehörige der kulturellen ukrainischen Intelligenz landeten im Gulag. Mit einer Repressionswelle, die es in diesem Ausmaß in der Sowjetunion noch nicht gegeben hatte, wurde die Ukraine endgültig »in eine wirkliche Festung der UdSSR, in eine tatsächlich vorbildliche Republik« (Stalin) verwandelt. Die Ukrainisierung wurde nicht gänzlich abgeschafft, ihre politische Bedeutung aber spürbar herabgestuft und unter strenge Kontrolle des sowjetischen Zentrums gestellt. [28]
Der Kampf der Stalinschen Führung mit ‚Inseln der Autonomie‘ vor allem in anderen nichtrussischen Gebieten sowie der damit verbundene Terror muss künftig mit dem ukrainischen Fall noch eingehender verglichen werden. [29] Es scheint aber, dass er in der Ukraine in der Hochphase der Hungersnot mit besonderer Heftigkeit wütete. Stalin führte den Krieg gegen die Ukraine mit besonderer Härte, weil sich der Widerstand gegen die Getreiderequirierungen mit nationalem Eigensinn verband und – vielleicht noch wichtiger – weil Stalin selbst diesen Widerstand national deutete.
Der Terror durch Hunger in der Ukraine richtete sich gegen die Autonomietendenzen im Nordkaukasus und die gewachsene Eigenständigkeit der USRR. Die von der Stalinschen Führung betriebene Zentralisierung und Vereinheitlichung des Staatsapparates war mit all dem sowieso kaum vereinbar. In der Zeit der massiven ökonomischen Krise auf dem Dorf, die das Gelingen der ‚Revolution von oben‘ und damit Stalins Machtstellung zeitweise durchaus in Frage stellte, musste Stalin solche Inseln der Autonomie und des potentiellen Widerstandes als Gefahr wahrnehmen. Dies war vor allem ein Kampf gegen politischen Eigensinn: Der wirtschaftlich selbständige Bauer musste daher ebenso wie der Kosak im Kuban oder nationalbewusste ukrainische Intellektuelle als Feind vernichtet werden.
Ob die Vernichtung von Millionen ukrainischer Bauern ein Genozid im Sinne der Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948 war, kann hier nicht entschieden werden. Ausgehend von dem bisher Gesagten könnte man politisch-»autonomistisch« argumentieren. Danach lässt sich sehr wohl eine besondere nationale Färbung des Verlaufes der Hungerkatastrophe in der Ukraine zeigen, jedoch verschiebt sich tendenziell das Gewicht der Interpretation von der – für die Einstufung als Genozid wichtigen – absichtsvollen Planung (das ukrainische Ethnos zu treffen) oder Intention hin zum Ergebnis der Hungersnot, d.h. den Folgen der gegen jede Form von Autonomie gerichteten Gewaltpolitik, die jedoch die ukrainische Nation und ihre weitere Nationsbildung besonders brutal getroffen haben.
Die »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords« definiert Völkermord in Artikel II als »Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören ...«. Eines von mehreren Problemen der Anwendung dieser Definition auf Ereignisse wie den Holodomor liegt darin, dass sie in unterschiedlichen Forschungstraditionen und Staaten unterschiedlich ausgelegt wird. In Deutschland und einigen Staaten Europas dominiert eine restriktive Auslegung von Genozid, nach der neben der Intention zur Zerstörung einer Gruppe durch Massenmord auch die unbedingte Absicht bestehen muss, den abstrakten Willen zur vollständigen Ausschaltung dieser Gruppe auch in konkreten Mordtaten umzusetzen. [30]
In der Ukraine vertritt die überwiegende Mehrheit der Historiker die These vom Genozid gegen das ukrainische Volk oder die ukrainische Nation. Bereits seit der späten Perestrojka wurde der Holodomor – im Unterschied zu Russland und Kasachstan – zu einem Eckstein in einem nationalukrainischen, antisowjetischen Geschichtsbild, mit dem die Nationalbewegung Ruch die Unabhängigkeit einer demokratischen Ukraine von Moskau und den Übergang zu einer Wirtschaft mit Privateigentum legitimierte. Unter ukrainischen Historikern setzte sich die Genozid-These bereits nach Erlangung der Unabhängigkeit (August 1991) in der ersten Hälfte der 1990er Jahre durch. [31] Diese Mehrheitsposition ist zweifelsohne auch Ergebnis der besonders intensiven Politisierung der sowjetischen Vergangenheit seit der Perestrojka, was aber selbst noch kein Argument für oder gegen die Genozid-These darstellt.
In der westlichen Forschung hat sich ein breites Spektrum von Forschungsmeinungen herausgebildet, das von Akzeptanz bis zu eindeutiger Ablehnung der Genozid-These reicht und hier nur angedeutet werden kann. [32] Der italienische Historiker Andrea Graziosi beispielsweise akzeptiert die Genozid-These. Er sieht mit Bezug auf die UN-Konvention den Tatbestand der Intention als erfüllt und hält es für ausreichend, dass ein Teil einer nationalen Gruppe zerstört wird, was im Falle des Holodomor gegeben sei. Die von Stalin in konkreten Entscheidungen vorbereitete und seit Ende 1933 bewusst herbeigeführte »antiukrainische Politik« habe zu den hohen, massenhaften Verlusten des ukrainischen Ethnos geführt, die sich von anderen Republiken deutlich unterschieden. Jedoch unterscheidet Graziosi den Holodomor deutlich vom Holocaust. Der Holodomor sei nicht auf die Zerstörung einer ganzen Nation ausgerichtet gewesen, habe Menschen nicht direkt getötet und sei politisch, nicht ethnisch oder rassisch bedingt gewesen. [33] Dies leitet zu dem Einwand der Gegner der Genozid-These über, wonach keine Direktive Stalins vorliege, Millionen von Bauern zu töten. Befürworter der Genozid-These halten dem entgegen, dass die Terrormaßnahmen, wie die Wegnahme aller Lebensmittel oder die Abriegelung der Sowjetukraine gegen die Flucht von Hungernden in die Nachbarrepubliken, einer Tötungsabsicht gleichkämen.
Gegner der Genozid-These verweisen darauf, dass auch andere Getreideanbaugebiete und damit nicht nur Ukrainer, sondern Angehörige anderer Ethnien außerhalb und innerhalb der Ukraine außerordentlich vom Hunger betroffen waren. Die Städte in der USSR (wo der Anteil der Ukrainer erheblich angestiegen war) und außerhalb der USSR, wo es – wenn auch in geringerem Maß als das Dorf – ebenfalls Hunger gegeben habe, seien von der prekären Versorgungslager gleichermaßen betroffen gewesen. [34] Innerhalb der ukrainischen Städte hätten Russen wie Ukrainer Hunger gelitten. Sofern die Behörden versucht hätten, die schlimme Lage wenigstens für Teile des Landes zu verbessern, habe ihre Sorge nicht primär russischen Regionen gegolten, um im Nebeneffekt ukrainischen Eigenwillen zu brechen: es hätten sich nicht nationale, sondern bolschewistisch-marxistische Prioritäten (z.B. Versorgung der Städte und der Arbeiterschaft) durchgesetzt. [35] Trotz dieser noch längst nicht beendeten Kontroverse machen jedoch zahlreiche Historiker Stalin persönlich oder die sowjetische Führung für den Tod von Millionen von Bauern verantwortlich, so dass in der westlichen Forschung die »Große Hungersnot« weithin als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt wird.
Seit dem Amtsantritt des ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko Anfang 2005 gehört die national eingefärbte Auseinandersetzung mit der totalitären sowjetischen Vergangenheit zum Kernbestand der geschichtspolitischen Agenda des Staates. Im Zentrum steht die nachhaltige staatliche Förderung der Erinnerung an die Opfer des Holodomor in der Ukraine der Jahre 1932 / 1933. Erster Kristallisationspunkt präsidialer Erinnerungspolitik wurde das von Juschtschenko initiierte und am 28. November 2006 vom ukrainischen Parlament angenommene Gesetz »Über den Holodomor in der Ukraine in den Jahren 1932–1933«. Es enthielt die Anerkennung des Holodomor als »Genozid am ukrainischen Volk« und stufte die Leugnung des Holodomor als widerrechtlich ein. Das Gesetz wurde mit den Stimmen der national-demokratischen (»orangen«) Fraktionen und der Fraktion der Sozialisten angenommen. Die Partei der Regionen, die in den russischsprachigen ostukrainischen Regionen ihre Basis hat, sprach sich wegen der Genozidthese bis auf zwei Abgeordnete gegen das Gesetz aus. Jedoch bezeichnete sie den Holodomor als nationale Tragödie und betonte die Verantwortung der sowjetischen Führung für das Verbrechen.
Juschtschenko möchte das Thema Holodomor und seine Anerkennung als Genozid zur Festigung und »Konsolidierung« der »Einheit der Nation« und damit zweifelsohne auch zur politischmoralischen Legitimation der präsidialen Führung nutzen. Dem Parlament schlug er jüngst vor, die Leugnung des Holodomor (gemeinsam mit der Leugnung des Holocaust) »als Fakt des Genozids am ukrainischen Volk« unter Strafe stellen zu lassen. Darin sehen selbst ukrainische Historiker – zumal im Lichte der andauernden fachlichen Kontroversen – eine problematische Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung. Vor allem wird die Gefahr einer weiteren Politisierung des Holodomor befürchtet, die wie schon in vergangenen Jahren »dem umfassenden Verständnis des Ausmaßes, der Ursachen und der Folgen der Tragödie nur abträglich« (Walerij Wasiljew) sein könne. [36]
Zu den vorrangigen geschichtspolitischen Zielen des Präsidenten und des nationaldemokratischen politischen Lagers gehört außerdem die internationale Anerkennung des Holodomor als Genozid durch die Vereinten Nationen. Die ukrainische Diplomatie konnte dieses Ziel zwar noch nicht erreichen; jedoch ist der Holodomor gerade in jüngster Zeit verstärkt Thema in multilateralen Organisationen geworden. So haben alle 193 Mitgliedsstaaten der UNESCO am 1. November 2007 eine Resolution zur »Erinnerung an die Opfer der Großen Hungersnot (Holodomor) in der Ukraine« unterstützt, die der »Großen Hungersnot (Holodomor)« »mit Millionen unschuldigen Ukrainern«, aber auch der »Millionen von Russen, Kasachen und Vertretern anderer Nationalitäten« gedenkt. Den Text dieser UNESCO-Resolution, die auch von Russland unterstützt wurde, wollte die Ukraine zur Grundlage einer OSZE-Ministerratserklärung machen. Der Konsens dafür kam aber wegen des Widerstands Russlands und der Türkei nicht zustande. Daraufhin hat die Ukraine bei einzelnen Teilnehmerstaaten um Unterstützung für eine eigene Erklärung geworben und eine große Anzahl gewinnen können. Bemerkenswert an dieser auch von Deutschland mitgetragenen Erklärung vom 30. November 2007 ist die Tatsache, dass hier allein die ukrainische Wortschöpfung Holodomor und nicht mehr »Große Hungersnot« verwendet und damit der ukrainische Kontext des Gedenkens der »nationalen Tragödie des ukrainischen Volkes« zusätzlich betont wird. Baldige Fortschritte in der Frage der Anerkennung des Holodomor als Genozid durch die Vereinten Nationen dürften jedoch schon an Russland scheitern. Russland weigert sich, eine nationale oder nationalitätenpolitische Deutung des Holodomor zu akzeptieren. Für die russische Seite gehört die Hungersnot zum »gemeinsamen Gedächtnis« von Ukrainern, Russen und Kasachen sowie anderen Völkern der ehemaligen UdSSR. [37]
Die staatliche Geschichtspolitik kann nicht auf eine machtpolitische Inszenierung der Staatsmacht reduziert werden. Die Zeremonien und Ausstellungen zum Holodomor anlässlich des 75. Jahrestages der Hungersnot illustrierten ein wachsendes Bedürfnis in der Bevölkerung, der lange beschwiegenen Tragödie zu gedenken. Nach Umfragen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie vom November 2007 hat die spezifisch nationale Erinnerung an die Hungersnot in der Ukraine in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Demnach befürworten 63,2% der Ukrainer die Anerkennung des Holodomor als Genozid im Gesetz vom 28. November 2008 (2006: 60,9%) oder sind zumindest eher geneigt der Anerkennung als Genozid zuzustimmen als sie abzulehnen. 72,4% glauben, dass die Hungersnot hauptsächlich durch die Handlungen der sowjetischen Regierung verursacht wurde. Dem stimmen sogar im russischsprachigen Osten (wo die positive Einstellung zur sowjetischen Vergangenheit noch stark verbreitet ist) deutlich über 50% zu. Was die Befragten unter »Genozid« tatsächlich verstehen, müsste sicher zusätzlich abgefragt werden, da es in den ukrainischen Medien nur wenig Informationen zum Begriff des Genozids, seiner Anwendung und den damit verbundenen unterschiedlichen Positionen gibt. Insgesamt aber zeigen die Zahlen, dass der Holodomor in wachsendem Maße allen Regionen der Ukraine als eine national konnotierte totalitäre Vernichtungserfahrung wahrgenommen wird. [38]
[1] Zitiert nach Stephan Merl: War die Hungersnot von 1932–1933 eine Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft oder wurde sie bewusst im Rahmen der Nationalitätenpolitik herbeigeführt? In: Guido Hausmann/ Andreas Kappeler: Ukraine Gegenwart und Geschichte eines neuen Staates. Baden-Baden 1993 (=Nationen und Nationalitäten in Osteuropa, 1), S. 145–166.
[2] Rudolf A. Mark/Gerhard Simon: Einführung. In: Rudolf A. Mark/Gerhard Simon, (Hrsg.): Vernichtung durch Hunger. Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR Berlin 2004 (=Themenheft Osteuropa 12), S. 5–11, hier S. 9.
[3] Nikolaj A. Iwnizkij: Golod 1932–1933 godov. Kto winowat?. In: Sudby rossijskogo krestjanstwa. Moskau 1996, S. 333–363, hier S. 361.
[4] Mark / Simon: Einführung, S. 8–10.
[5] Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. München 1994, S. 201.
[6] Das ukrainische Wort Holodomor hat sich seit der Perestrojka in der ukrainischen Debatte als Bezeichnung für den Hungerterror eingebürgert. Es ist eine Verbindung der ukrainischen Worte für Hunger (Holod) und Krankheit, Seuche oder Massensterben (mor) und verweist auf die gewaltsame Instrumentalisierung der Hungersnot durch die Bolschewiki gegen die sich gegen die Kollektivierung wehrenden Bauern. Mit der Wortschöpfung wird gleichzeitig die Einzigartigkeit des von der sowjetischen Führung verübten Verbrechens angedeutet.
[7] Wilfried Jilge: Holodomor und Nation. Der Hunger im ukrainischen Geschichtsbild. In: Mark/Simon: Vernichtung durch Hunger, S. 147–163, S. 155.
[8] Vgl. Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 377–401; Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. München 2003, S. 122ff.; Dietrich Beyrau: Petrograd, 25. Oktober 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus. München 2001, S. 120.
[9] Hildermeier: Geschichte, S. 399.
[10] Zu Fakten und Zahlen der Hungersnot auch im Folgenden: Mark / Simon: Einführung, S. 8–10 und Hildermeier, Geschichte.
[11] Heinz-Dietrich Löwe: Stalin. Der entfesselte Revolutionär. Göttingen, Zürich 2002 (=Persönlichkeit und Geschichte, 162), S. 223.
[12] Kappeler: Geschichte, S. 194.
[13] Ellman, Michael: Stalin and the Soviet Famine of 1932–33 Revisited. In: Europe-Asia Studies 59 (2007), Nr. 4, S. 663–693, hier S. 679, 690.
[14] Baberowski, Terror, S. 124.
[15] Gerhard Simon: Holodomor als Waffe. Stalinismus, Hunger und der ukrainische Nationalismus. In: Mark/ Simon: Vernichtung durch Hunger, S. 38.
[16] Eine Berücksichtigung des nationalitätenpolitischen Faktors muss die wichtigen Ergebnisse anderer politischer und agrarpolitischer Forschungsansätze nicht oder nicht völlig ausschließen, um zu einem tieferen Gesamtverständnis der Hungersnot zu kommen. Beispielsweise ist zu berücksichtigen, dass die Getreideanbauregionen der Ukraine und des Nordkaukasus grundsätzlich hohe Überschüsse verzeichneten und schon deswegen eine besonders bedeutende Rolle bei der staatlichen Getreidebeschaffung spielten. Vgl. dazu und als Beispiel für andere Ansätze Merl: Hungersnot, S. 152 sowie Stephen G. Wheatcroft: Towards Explaining the Soviet Famine of 1931–1933: Political and Natural Factors in Perspective. In: Food and Foodways 12 (2004) Nr. 2–3, S. 104–136.
[17] Terry Martin: The 1932–33 Ukrainian Terror: New Documentation on Surveillance and the Thought Process of Stalin. In: Wsewolod Isajiw (Ed.): Famine-Genocide in Ukraine 1932–1933. Western Archives, Testemonies and new Research. Toronto/Ontario 2003, S. 97–114. Dieser Aufsatz von Martin lag nur als Manuskript vor. Dafür dankt der Autor Terry Martin.
[18] Vgl. für die Zusammenhänge zwischen Hungersnot und Nationalitätenpolitik in den Folgepassagen grundlegend Simon: Holodomor als Waffe und Terry Martin: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939. Ithaca /London 2001.
[19] Gerhard Simon: Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion. Von der totalitären Diktatur zur nachstalinschen Gesellschaft. Baden-Baden 1986 (=Osteuropa und der internationale Kommunismus, 16), S. 39ff. Kappeler: Geschichte, S. 191.
[20] Jörg Baberowski: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus. München 2003, S. 347.
[21] Vgl. Martin: The 1932–33 Ukrainian Terror und Simon: Holodomor als Waffe, S. 43.
[22] Symon Petljura (1879–1926) war der ukrainische Heerführer und Vorsitzender des Direktoriums der zweiten Ukrainischen Volksrepublik, der im Bürgerkrieg die Zusammenarbeit mit Polen gegen die Bolschewiki suchte. In der sowjetischen Propaganda war er Symbol für Verrat am Volk und antisowjetischen ukrainischen Nationalismus.
[23] Vgl. ebenda und den Brief Stalins sowie die folgenden die Quellen in: Pyrih, R. Ja (Hrsg.): Holodomor 1932–1933 rokiw w Ukrajini. Dokumenty i materialy, Kiew 2007.
[24] Simon: Holodomor als Waffe, S. 50 und zum Terror in der Ukraine und im Nordkaukasus im folgenden grundlegend: Walerij Wasiljew: Zena golodnogo chleba. Politika rukovodstva SSSR i USSR v 1932–1933 gg. In: Wasiljew, W./Schapowal, Ju. (Hrsg.): Komandyry welykoho holodu. Pojisdka W. Molotowa i L. Kahanowytscha w Ukrajini ta Piwnitschyj Kawkas 1932–1933 rr., Kiew 2001, S. 80–151, hier insbesondere S. 103–145, zum Kuban: S. 112, 117, 119.
[25] Zu den Kuban-Kosaken gehörten ukrainische und russische Kosaken. Auch wenn viele Kuban-Kosaken ukrainisch sprachen und sich ukrainisch kleideten, haben sie sich wahrscheinlich primär als Kosaken im nationalen Sinne identifiziert. Nach der Revolution 1917 hatten sie eine separatistische Kuban-Republik (»Kuban-Rada«) gegründet. Im Bürgerkrieg kämpften sie zeitweise zusammen mit General Anton Denikin, einem der Führer der konservativ-monarchistischen Weißen Bewegung. Vgl. Brian J. Boeck: The Kuban Cossack Revival (1989–1993): The Beginnings of a Cossack National Movement in the North Caucasus Region. In: Nationalities Papers 26 (1998), Nr. 4, S. 633–657.
[26] Jörg Baberowski: Ordnung durch Terror: Stalinismus im sowjetischen Vielvölkerreich. In: Isabel Heinemann/ Patrick Wagner (Hrsg.): Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006 (=Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1), S. 145–172, hier: S. 158; Simon: Holodomor als Waffe, S. 26.
[27] Wasiljew: Zena, S. 137ff.
[28] Simon: Holodomor als Waffe, S. 52, 53.
[29] Vgl. z.B. den Fall Aserbajdschan bei Baberowski: Feinde, S. 716ff. Zu von Stalin geplanten Massendeportationen in anderen nichtrussischen Gebieten: Ellman: Stalin and the Soviet Famine, S. 689.
[30] Boris Barth: Völkermorde im 20. Jh. – Geschichte, Theorien, Kontroversen und der Holodomor, gehalten auf der Tagung: »Hungersnot – Holodomor in der Ukraine«. Der Holodomor in der europäischen Erinnerungs- und Gedenkkultur. Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 15.–16. November 2007.
[31] Zu den erinnerungspolitischen Debatten um den Holodomor seit der Perestrojka: Jilge: Holodomor und Nation. Zum wichtigen Einfluss der nordamerikanischen Diaspora: Ebenda: S. 150.
[32] Für einen ausführlicheren Überblick über die Kontroversen: Gerhard Simon: Die Große Hungersnot (Holodomor) in der Ukraine als Völkermord. Tatsachen und Kontroversen. In: Europäische Rundschau [im Erscheinen]. Der Autor dankt Gerhard Simon für das Manuskript.
[33] Andrea Graziosi: Holod u SRSR 1931–1933 rr. ta ukrajinskyj holodomor: tschy moschlywa nova interpretazija? In: Ukrajinskyj istorytschnyj zhurnal 3 (2005), S. 120–131, hier: S. 128–129. In dieser nationalen Optik ist die Tatsache, dass in der USRR polnische, moldauische, russische, deutsche und andere Landbewohner zu den Opfern der Hungersnot gehörten, kein Argument gegen die Genozidthese.
[34] Vgl. Barbara Falk: Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33. Staatliche Ernährungspolitik und städtisches Alltagsleben. Köln/Weimar/Wien 2005 (=Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 38), S. 72ff und S. 307ff.
[35] Hildermeier: Geschichte, S. 401.
[36] Walerij Wasiljew: Zwischen Politisierung und Historisierung. Der Holodomor in der ukrainischen Historiographie. In: Mark / Simon: Vernichtung durch Hunger, S. 165–182, hier: 182.
[37] Erst kürzlich warnte das russische Außenministerium vor einer Verschlechterung der ukrainisch-russischen Beziehungen aufgrund der in der Ukraine betriebenen »Heroisierung« der Geschichte, wobei auch auf den ‚nicht objektiven‘ Umgang mit dem Thema in der Ukraine hingewiesen wurde. Siehe: www.korrespondent.net/ukraine/politics/341334
[38] Vgl. den Bericht: Bolschinstwo ukrainzew stschitajut Golodomor aktom genozida. In: http://korrespondent.net/ukraine/events/217288/print. Zur Geschichtspolitik Juschtschenkos ausführlich Wilfried Jilge: Geschichtspolitik in der Ukraine [am Beispiel des Holodomor], in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8–9 (2007), S. 24–30.