Besatzungszonen

Der Eiserne Vorhang
Auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 bekräftigen die „Großen Drei“, der britische Premier Winston Churchill, US-Präsident Harry S. Truman und der sowjetische Diktator Josef Stalin, das besiegte Deutsche Reich gemeinsam zu verwalten. Deutschland wird in Besatzungszonen und seine Hauptstadt Berlin in Sektoren aufgeteilt. Die Siegermächte sollen ihre Territorien jeweils in eigener Verantwortung administrieren, über Deutschland als Ganzes betreffende Fragen wollen sie fortan gemeinsam in einem Kontrollrat in Berlin entscheiden. Allerdings zerfällt das so ungleiche Bündnis binnen weniger Monate. Die Demarkationslinie zwischen der britischen und amerikanischen Zone einerseits sowie der sowjetischen andererseits wird zur Weltanschauungsgrenze. Churchill hat das schon früh geahnt. Bereits vier Tage nach der deutschen Kapitulation verwendet er in einem Telegramm an Truman erstmals das Bild vom „Eisernen Vorhang“, der mitten in Europa niedergegangen sei und den Kontinent nun teile.

Besonders in Berlin spitzt sich die Lage zu. Die ehemalige Reichshauptstadt ist in vier Sektoren aufgeteilt; hier sind die drei Siegermächte und zusätzlich Frankreich gezwungen, besonders eng zusammenzuarbeiten. Doch schon in den ersten Monaten der Vier-Mächte-Besatzung kommt es in Berlin zu harten Konflikten. Ab Frühjahr 1946 eskalieren die Auseinandersetzungen – sowohl offen in Form von Propagandaschlachten als auch verdeckt durch zahlreiche Geheimdienstaktionen. So scheitert die Hoffnung auf eine Zusammenarbeit der Siegermächte innerhalb kurzer Zeit. Statt Frieden für Europa und die Welt bricht nunmehr der Kalte Krieg zwischen Ost und West aus.

Blockade

Rettung aus der Luft

Nirgendwo ist die Konfrontation zwischen westlicher Demokratie und sowjetischer Diktatur deutlicher als in Berlin. Im Oktober 1946 gibt es freie Wahlen in der ganzen Stadt – die ersten seit 1932 und die letzten bis 1990. Die Menschen sprechen sich klar für die traditionsreiche Sozialdemokratie und die neu gegründeten Christdemokratische Partei aus. Dagegen erhält die Sozialistische Einheitspartei (SED), die aus der KPD und den mit ihr zwangsweise vereinigten Teilen der SPD besteht, nur ein Fünftel der Stimmen. Dennoch verweigern die Sowjets im Juni 1947 dem gewählten Oberbürgermeister Ernst Reuter die Bestätigung.

Als ein Jahr später in Westdeutschland die Deutsche Mark (DM) als neue Währung eingeführt wird, widersetzt sich der sowjetische Stadtkommandant einer Lösung des Währungsproblems in Berlin. Daraufhin bekommen auch die drei Westsektoren die DM. Stalin reagiert mit einer totalen Blockade aller Land- und Wasserwege von den westlichen Zonen in die Westsektoren Berlins. Auch die Stromversorgung und Nahrungslieferungen aus dem Umland in die Millionenstadt werden unterbrochen. Rund um Berlin sowie an der Sektorengrenze innerhalb der Stadt lässt die ostdeutsche Übergangsverwaltung Kontrollpunkte einrichten. Während der Blockade sind die drei westlichen Sektoren der Stadt vom Umland indes nicht völlig abgeschnitten; Besuche sind möglich. Wer allerdings von der ostdeutschen Polizei beim Schmuggeln erwischt wird, dem drohen empfindliche Strafen. Der US-Militärgouverneur Lucius D. Clay widersetzt sich der sowjetischen Erpressung. Er greift den tollkühnen Vorschlag eines britischen Offiziers auf und setzt durch, dass die drei Westsektoren Berlins ab sofort per Flugzeug versorgt werden. Die Luftbrücke läuft an. Bald landen im Minutentakt Versorgungsflugzeuge. Kleinlaut lenken die Sowjets im Mai 1949 ein und geben die Verkehrswege von und nach West-Berlin wieder frei.

 

Klassenkampf

Politik gegen das Volk

Im Jahr 1952 beschließt die SED den Aufbau des Sozialismus. In den Jahren zuvor hatte sie in Ostdeutschland mit sowjetischer Unterstützung ihre Diktatur errichtet. Seit 1949 ist Deutschland in zwei Staaten geteilt. Während sich in der westdeutschen Bundesrepublik die Lebensbedingungen stetig verbessern, führt die SED den Klassenkampf gegen die eigene Bevölkerung. Bauern werden in Genossenschaften gepresst, private Unternehmer mit immer höheren Steuern in die Knie gezwungen, Christen verfolgt. Als im Juni 1953 eine Steigerung der Arbeitsleistung von zehn Prozent angeordnet wird, gehen in Ost-Berlin die Bauarbeiter auf die Straße. Am 17. Juni weitet sich der Protest auf die ganze DDR aus. In über 700 Städten und Gemeinden gehen rund eine Million Menschen auf die Straße. Sie fordern freie Wahlen und ein Ende der Diktatur. Die SED-Herrschaft steht vor dem Aus. Da fahren sowjetische Panzer auf und schlagen den Protest nieder; mindestens 55 Menschen kommen ums Leben.

Der Volksaufstand ist ein Schock für die SED. Zunächst reagiert die Parteiführung mit Zugeständnissen, die die Lage entspannen und die Versorgung verbessern sollen. Gleichzeitig aber wird die Staatssicherheit ausgebaut. 1958 fühlt sich die Partei wieder erstarkt. Auf ihrem V. Parteitag kündigt sie an, den „Aufbau des Sozialismus“ wieder in allen Bereichen voranzutreiben. Die SED beschränkt sich dabei nicht auf ideologische Kampagnen. Mit Druck wird die Kollektivierung der Landwirtschaft durchgesetzt. Private Unternehmer, aber auch Handwerker, Bäcker, Fleischer und viele der verbliebenen privaten Einzelhändler werden enteignet oder in Produktionsgenossenschaften genötigt. Wieder werden Christen in der DDR drangsaliert. Die Landwirtschaft verzeichnet dramatische Einbrüche, die Versorgungslage spitzt sich zu. Anfang der sechziger Jahre hat die SED die DDR erneut in die Krise geführt.

 

Mauerbau

Der 13. August 1961

Mitten in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 ist es so weit: Um 1.05 Uhr gehen die Lichter aus. Das Brandenburger Tor, Symbol der offenen deutschen Frage, sonst hell erleuchtet, liegt in der lauen Sommernacht schlagartig im Dunkeln. Nur schemenhaft sind die Schützenpanzer zu erkennen, die durch das klassizistische Bauwerk rollen, und Uniformierte, die an der Bezirksgrenze von Mitte zu Tiergarten eine Postenkette bilden. Nicht nur hier, sondern überall rund um die drei westlichen Sektoren Berlins marschieren in diesen Minuten bewaffnete DDR-Kräfte auf. Sie sperren die etwa 80 bis dahin vorhandenen offiziellen Übergänge, ziehen über Straßen, durch Ruinengrundstücke und Parks Stacheldraht.

Deutsche aus Ost-Berlin und der DDR dürfen die Sektorengrenze nur noch mit speziellen Passierscheinen überschreiten – also praktisch gar nicht. Gegen 1.45 Uhr ist ganz West-Berlin abgesperrt und von bewaffneten Posten umstellt.

Vom Frühjahr 1961 an bedrohte die Fluchtwelle die Existenz der DDR. Mit diesem Argument setzte Walter Ulbricht bei Nikita Chruschtschow durch, dass West-Berlin völlig abgeriegelt wird. SED-Sicherheitschef Erich Honecker tarnt die „Operation Rose“ perfekt. Obwohl umfangreiche Vorbereitungen nötig sind, tausende Soldaten, Polizisten und Männer aus den paramilitärischen „Betriebskampfgruppen“ eingesetzt werden, gelangen vorab keine Details über die Abriegelung an die Öffentlichkeit. Einzelne Gerüchte lassen zwar den Bundesnachrichtendienst aufhorchen. Jedoch können sich Politiker in Bonn und West-Berlin nicht vorstellen, dass die DDR tatsächlich die Sperrung der innerstädtischen Sektorengrenze wagt und damit einen klaren Verstoß gegen den Vier-Mächte-Status begeht.

 

Realpolitik

Reaktion der Alliierten

Der Westen wird durch den Mauerbau überrumpelt. Die drei Schutzmächte sehen aber keinen Grund für harte Gegenmaßnahmen. Man bleibt gelassen: US-Präsident John F. Kennedy segelt vor Massachusetts, der britische Premier Harold MacMillan jagt in Schottland, der französische Präsident Charles de Gaulle erholt sich in der Champagne. Alle drei sehen in der Abriegelung lediglich eine Festschreibung der politischen Realität. Kennedy stellt lapidar fest: „Wir werden jetzt nichts tun, denn es gibt keine Alternative außer Krieg.“

Peinlich genau achten die USA darauf, dass ihre Rechte nicht angetastet werden. Kennedy hat Nikita Chruschtschow schon am 25. Juli 1961 signalisiert, worauf der Westen bestehen wird – und worauf nicht. Unabdingbar sind für ihn die Präsenz der Alliierten in West-Berlin, freie Zugangswege von und nach West-Berlin sowie die Selbstbestimmung der West-Berliner. Ost-Berlin kommt in Kennedys Fernsehansprache nicht vor.

Die Deutschen aber sind nicht bereit, die Absperrung zu akzeptieren. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt schreibt nach Washington: „Untätigkeit und reine Defensive könnten eine Krise des Vertrauens gegenüber den Westmächten verursachen.“ Daraufhin schickt Kennedy seinen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson nach Berlin, ernennt Lucius D. Clay zu seinem Sonderbeauftragten und lässt die West-Berliner US-Garnison durch 1500 GIs verstärken; auch Briten und Franzosen schicken zusätzliches Militär. Mit Panzern zeigen die Schutzmächte Präsenz. Das Vertrauen der West-Berliner kehrt zurück, besonders als Kennedy im Juni 1963 selbst die Stadt besucht und die berühmten Worte spricht: „Ich bin ein Berliner!“ Offiziell geregelt wird der durch den Mauerbau radikal veränderte Status von Berlin erst 1972 im Viermächteabkommen.

Verzweiflung

Leid und Freiheitsdrang

Der Bau der Mauer spaltet nicht nur Berlin, er trennt auch Familien und Freunde. In den ersten Tagen nach dem 13. August hat die Absperrung der Demarkationslinie noch Lücken. Tausende Ost-Berliner nutzen diese Chance. Allein in den ersten zwölf Stunden setzen sich drei Dutzend junge Leute schwimmend durch den Landwehrkanal, den Heidekampgraben und den Britzer Zweigkanal in den Westen ab. Auch über Friedhofs- und Werksmauern an der Sektorengrenze ist anfangs noch relativ ungefährdet der Weg nach West-Berlin möglich. Viel schwieriger wird die Flucht, als vom 15. August 1961 an eine Sperre aus Beton- und Ziegelsteinen die Stacheldrahtverhaue in der Innenstadt ersetzt. Einigen Dutzend dienstverpflichteten Maurern gelingt der Sprung in die Freiheit; auch zahlreiche Grenzposten desertieren. Bis zum 23. August 1961 dürfen West-Berliner mit ihren Personalausweisen in den Ost-Teil fahren. Doch das SED-Politbüro unterbindet diese Möglichkeit, weil viele Ostdeutsche mit eingeschmuggelten West-Berliner Ausweisen die DDR verlassen. Für die nächsten zweieinhalb Jahre ist die Trennung der Menschen fast total. Nur Briefe und Telegramme kommen noch durch, stets streng kontrolliert und oft mit tagelanger Verspätung.

Bis in den Herbst 1961 hinein kriechen Flüchtlinge durch Abwasserkanäle in den Westen und scheuen sich dabei nicht, durch Fäkalien zu tauchen. An einigen Stellen gelingen noch im September 1961 am helllichten Tag gut koordinierte Massenfluchten durch zuvor zerschnittene Drahtverhaue.
An den Grenzsperren kommt es zu erschütternden Szenen: Junge Brautpaare im Westen verabschieden sich von ihren Eltern im Osten; geflüchtete Väter sehen ihre Frauen und Kinder oft für Jahre zum letzten Mal, Verlobte oder Geschwister müssen Abschied nehmen.

 

Kahlschlag

Freies Schussfeld

Um Fluchten zu verhindern, richtet die DDR auf ihrer Seite der Demarkationslinie Sperrgebiete ein. An der innerdeutschen Grenze wurde schon seit 1952 fast überall ein 500 Meter breiter Streifen völlig frei gemacht; Einwohner wurden zwangs-umgesiedelt, ihre Häuser abgerissen. Diese erste Massendeportation von 11 000 Menschen wird damals SED-intern unter dem Codewort „Aktion Ungeziefer“ durchgeführt.

An der Sektorengrenze ist eine raumgreifende Absperrung unmöglich. Teilweise liegen zwischen den Häusern in West- und Ost-Berlin nur eine schmale Straße und zwei Bürgersteige – kaum mehr als 15 Meter. Bis in den September hinein flüchten Ost-Berliner, indem sie sich aus ihren Fenstern abseilen oder in Sprungtücher der West-Berliner Feuerwehr stürzen. Dabei sterben mehrere Menschen, andere werden schwer verletzt.

Im September 1961 beginnen DDR-Grenzpolizisten, Gebäude entlang der Mauer zu räumen. Mehrere tausend Ost-Berliner müssen ihre Wohnungen aufgeben. Oft stehen Umzugswagen ohne Vorwarnung vor den Haustüren. Zuerst sind die Bernauer Straße im Stadtteil Wedding und die Harzer Straße in Treptow betroffen, denn hier bilden die Außenmauern der Häuser auf DDR-Seite die Bezirks- und damit Sektorengrenzen. Von 1964 an schaffen die Grenztruppen dann konsequent „freies Schussfeld“: Geräumte Gebäude in Mauernähe werden abgerissen. An der Bernauer Straße bleiben nur Reste der Erdgeschosse mit den vermauerten Türen stehen, an der Harzer Straße werden bald ganze Häuserzeilen komplett geschleift. Nicht nur Wohngebäude, sondern sogar Kirchen werden gesprengt. Bis in die achtziger Jahre hinein dauert die systematische Säuberung des „grenznahen Bereichs“ an.

 

Grenzregime

Minen und Stalinrasen

Die SED-Führung lässt die Grenze rund um West-Berlin und an der innerdeutschen Grenze systematisch ausbauen. Wo es ausreichend Platz gibt, wird eine fünf Kilometer breite Sperrzone eingerichtet, die nur mit Sonderausweisen betreten werden darf. Pioniere der Grenztruppen verlegen von Herbst 1961 an längs der innerdeutschen Grenze bis zu 1,3 Millionen Anti-Personen-Minen sowjetischer Bauart. Die Minen sind so ausgelegt, dass Füße und Beine zerfetzt, aber die Opfer nicht sofort getötet werden. Seit 1970 kommen spezielle Splitterminen mit zielgerichteter Wirkung hinzu, die am letzten Zaun auf DDR-Gebiet angebracht werden – in Richtung Osten. Diese „Selbstschussanlagen“ durchsieben jeden Menschen, der sie auslöst. In einem geheimen Bericht heißt es, „durch SM-70 geschädigte Grenzverletzer“ wiesen „tödliche bzw. so schwere Verletzungen auf, dass sie nicht mehr in der Lage sind, den Sperrzaun zu überwinden“. Bis zu 440 Kilometer der innerdeutschen Grenze werden mit 60 000 dieser Mordautomaten nahezu unüberwindlich gemacht; fast 50 Millionen Mark wendet der SED-Staat allein dafür auf. Hinzu kommen Maßnahmen wie Stolper- und Signaldrähte, Laternen und Gitter mit zehn Zentimeter langen Stahlnägeln, die „Stalinrasen“ genannt werden. Im Sprachgebrauch der Grenztruppen heißen diese Matten „Flächensperren“; sie werden oft an Flussufern und anderen „fluchtgefährdeten“ Stellen montiert. Selbst mit schwerem Schuhwerk ist es unmöglich, über „Stalinrasen“ zu gehen.

Entlang der 155 Kilometer langen Grenze rund um West-Berlin machen ein Jahr nach dem 13. August 1961 tausende Kilometer Stacheldraht und Mauern aus Hohlblocksteinen Fluchten fast unmöglich. Zehn Jahre später sind fast alle Drahtverhaue durch massive Sperren aus Betonplatten oder Zäune aus scharfem Streckmetall ersetzt. 60 Prozent der Grenze sind zudem durch Sperrgräben verstärkt, es gibt mehr als 200 Laufanlagen für speziell abgerichtete Hunde und fast 250 Wachtürme. Minenfelder und Selbstschussanlagen werden an der Grenze zu West-Berlin aber auf Anweisung der Sowjets nicht installiert.

 

Schießbefehl

Tote und Verletzte

Jedes unerlaubte Verlassen der DDR ist lebensgefährlich. Die ersten der insgesamt wohl etwa 1000 Toten der innerdeutschen Grenze gibt es schon 1949, drei Jahre bevor sie durch Drahtverhaue gesperrt und damit praktisch unpassierbar gemacht wird. Mit dem Mauerbau in Berlin wird auch das letzte Schlupfloch geschlossen. Kein „normaler“ DDR-Deutscher weiß, dass die bewaffneten Posten der Grenztruppen anfangs keine Munition dabeihaben; die SED will eine Eskalation vermeiden, solange unklar ist, wie sich die westlichen Schutzmächte verhalten. Neun Tage nach der Abriegelung ist sich Walter Ulbricht sicher, dass sein Kalkül aufgegangen ist und der Westen nichts unternimmt. Er kündigt im Politbüro an: „Auf die Deutschen, die den deutschen Imperialismus vertreten, werden wir schießen. Wer provoziert, auf den wird geschossen!“ Am folgenden Morgen bekommen alle Männer im Grenzdienst scharfe Patronen. Nur zwei Tage später erschießen Transportpolizisten im Humboldthafen nahe dem Reichstag den 24-jährigen Schneidergesellen Günter Litfin.

Von nun an gilt der Schießbefehl, der nicht auf einem einzelnen Dokument basiert, sondern in verschiedenen Versionen existiert. Eine Weisung an die Grenztruppen vom 14. September 1961 lautet: „Auf Flüchtlinge, die sich der Festnahme durch Flucht in die Bundesrepublik zu entziehen versuchen, dürfen nach einem Warnschuss gezielte Schüsse abgegeben werden.“ Der Einsatzstab des SED-Politbüros legt kurz darauf fest: „Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden.“ Und Erich Honecker, Ulbrichts Nachfolger als SED-Chef, ordnet am 3. März 1974 unmissverständlich an: „Nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden.“ In Kraft bleibt der Schießbefehl bis Anfang April 1989; seine Aufhebung bleibt jedoch ein streng gehütetes Geheimnis.

Klein-Berlin

Mödlareuth in Thüringen

Die US-Soldaten in Deutschland nennen das Fünfzig-Seelen-Dorf in Oberfranken „Little Berlin“. Wie die Hauptstadt im Großen wird es im Kleinen zum Symbol der deutschen Teilung. Denn mitten durch den winzigen Ort verläuft die innerdeutsche Grenze.

Grenzort war Mödlareuth am Tannbach schon seit Jahrhunderten, liegt doch der eine Teil des Ortes auf thüringischem Gebiet und der andere auf bayerischem. Doch Auswirkungen für die Einwohner hatte das lange Zeit nicht. Sie lebten wie jede andere Dorfgemeinschaft, hatten eine Volksschule, ein Wirtshaus und einen Männergesangsverein. Zur Kirche ging es sonntags ins benachbarte bayerische Pfarrdorf Töben.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg Thüringen sowjetisch besetzt wird und Bayern amerikanisch, ändert sich daran zunächst nichts, auch wenn man nun einen Passierschein braucht. Selbst nach Gründung der Bundesrepublik und der DDR ist die Grenze für die Mödlareuther noch durchlässig. 1952 wird alles anders: Das SED-Regime beginnt damit, die Demarkationslinie zu befestigen. Das Dorf liegt nun im „Schutzstreifen“ und darf von Bundesbürgern gar nicht mehr, von Ostdeutschen nur noch mit Sondergenehmigung betreten werden. Als politisch unzuverlässig geltende Einwohner des Ortes werden zwangsumgesiedelt.

Zug um Zug wird die innerdeutsche Grenze in Mödlareuth zu einem unüberwindbaren Hindernis ausgebaut. Anstelle eines Bretterzauns entsteht Mitte der sechziger Jahre eine 3,40 Meter hohe Betonmauer ähnlich der in Berlin. Sie dient nicht nur als Sperre, sondern auch als Sichtblende, denn selbst das Grüßen oder Winken von Ost nach West ist verboten. 37 Jahre wird es dauern, bis auch in Mödlareuth die Mauer nicht mehr trennt. Die Freude unter den Menschen ist in „Klein-Berlin“ nicht geringer als in der Hauptstadt.

 

Fluchten

Mit dem Mut der Verzweiflung

Entgegen den allgemeinen Menschenrechten gestattet die SED-Führung ihrer Bevölkerung nicht, das Land in Richtung Westen zu verlassen. Ausreiseanträge für eine Übersiedlung werden häufig abgelehnt und haben Nachteile im Beruf sowie Repressionen durch die Stasi zur Folge. Was bleibt, ist für viele nur die Flucht.

Die Gründe sind mannigfaltig: politische Unterdrückung und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, aber auch der Wunsch nach Familienzusammenführung gehören dazu. Vielfältig sind auch die Fluchtwege. Sie führen mit schweren Fahrzeugen direkt durch die Grenzsperranlagen, durch mühsam gegrabene Tunnel, durch die Luft mit Heißluftballonen oder Flugzeugen und über die Ostsee, ob im Schlauchboot, auf einem Surfbrett oder sogar schwimmend. Viele setzen sich mit gefälschten Pässen über das „benachbarte sozialistische Ausland“ ab oder werden in Kofferräumen über die Grenze geschmuggelt. Die Mehrheit der „Republikflüchtigen“ bilden jedoch die „Verbleiber“, wie sie im Stasi-Jargon genannt werden: diejenigen, die vom West-Besuch nicht zurückkehren.

Die Flucht ist risikoreich. Die Zahl der gescheiterten Versuche ist ungleich höher als die der Erfolge. Zu den Todesopfern gehören Chris Gueffroy, der im Februar 1989 erschossen wird, sowie Winfried Freudenberg, der im März 1989 mit einem improvisierten Gasballon abstürzt. Sie sind die letzten, die auf dem Weg von Deutschland nach Deutschland sterben.

 

Menschenhandel

Freikauf politischer Gefangener

In der Zeit zwischen dem Mauerbau und dem Mauerfall werden in der DDR mehr als eine Viertelmillion Frauen und Männer aus politischen Gründen inhaftiert. Viele werden als gescheiterte „Republikflüchtlinge“, als Fluchthelfer oder wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Opposition zu langen Jahren Haft verurteilt.

Für jeden Achten von ihnen erfüllt sich eine Hoffnung, über die lange nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird: Sie werden von der Bundesrepublik freigekauft. Der „Menschenhandel“ beginnt 1962 am Ende der Ära Adenauer, in der Amtszeit des Ministers für gesamtdeutsche Fragen Rainer Barzel. Eine wichtige Rolle spielen bei der Anbahnung der Kontakte die Evangelischen Kirchen in Deutschland. Nach mühevollen Gesprächen, die auf Ost-Berliner Seite der Rechtsanwalt Wolfgang Vogel führt, wird Weihnachten 1962 der erste Freikauf vereinbart. 20 politische Häftlinge und ebenso viele Kinder kommen frei. Der Preis sind drei Eisenbahnwaggons mit Düngemittel. Doch sehr bald schraubt Ost-Berlin die Forderungen herauf. Sind es in der Anfangszeit 40 000 DM, die pro Häftling bezahlt werden müssen, liegt der Kopfpreis in den achtziger Jahren bei fast 100 000 DM. Begründet wird die Summe, die von der Bundesrepublik oft durch Warenlieferungen beglichen wird, mit den Ausbildungskosten in der DDR.

Problematisch ist die Auswahl der Inhaftierten. Während auf DDR-Seite SED-Generalsekretär Honecker oder sein Staatssicherheitsminister Erich Mielke in vielen Fällen persönlich entscheiden, obliegt dies in der Bundesrepublik dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Der zuständige Staatssekretär Ludwig Rehlinger schreibt später: „Durch Angehörige und Hilfsorganisationen kannten wir viele Namen und Schicksale. Es war jedes Mal klar, dass die DDR nur wenige Häftlinge freilassen würde. So war es vor allem an uns, zu entscheiden, für wen wir uns besonders einsetzten. Eine sehr belastende Aufgabe.“ Bis 1989 gelangen auf dem Wege des Freikaufs 33 755 Menschen aus Bautzen, Hoheneck oder anderen berüchtigten DDR-Zuchthäusern in die Freiheit.

 

„Normalisierung“

Geregeltes Nebeneinander

In den siebziger Jahren scheint die deutsche Frage an Bedeutung zu verlieren. Die Welt und immer mehr Westdeutsche gewöhnen sich an die Teilung des Landes. Die Rede ist von „Normalisierung“. Dazu beigetragen hat eine Reihe von Verträgen, die erstmals das Verhältnis zwischen Bundesrepublik und DDR regeln. Den Abschluss bildet der im Dezember 1972 unterzeichnete Grundlagenvertrag, in dem es heißt, beide Seiten „respektieren die Unabhängigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten“.

Die Bundesrepublik verzichtet mit dieser De-facto-Anerkennung jedoch weder auf die im Grundgesetz geforderte Wiedervereinigung noch auf eine Staatsbürgerschaft für alle Deutschen. Gleichwohl markiert der Grundlagenvertrag das Ende des westdeutschen Alleinvertretungsanspruchs. Die DDR wird alsbald weltweit anerkannt. 1974 nehmen die Vereinten Nationen beide deutsche Staaten gleichzeitig auf.

Im Binnenverhältnis verfolgen alle Bundesregierungen nun eine Politik der kleinen Schritte. Sie soll die Folgen der Spaltung lindern, die Lebensverhältnisse der Ostdeutschen verbessern und so den Zusammenhalt der Nation festigen. 1973 werden mehr als 3,5 Millionen Reisen nach Ost-Berlin und in die DDR gezählt, dreimal so viele wie 1970. Auch in umgekehrter Richtung gibt es erste Verbesserungen: 40 000 DDR-Deutsche unterhalb des Rentenalters dürfen in „dringenden Familienangelegenheiten“ den Westen besuchen. Die Zahl der innerdeutschen Telefongespräche, die 1970 noch deutlich unter einer Million jährlich liegt, explodiert bis 1980 auf mehr als 23 Millionen. Allerdings verfolgt die SED-Führung eine konsequente Politik der ideologischen Abgrenzung, nicht zuletzt weil der Einfluss des Westfernsehens zunimmt. Die seit Mitte der siebziger Jahre zugelassenen westdeutschen Korrespondenten in Ost-Berlin werden strikt überwacht.

 

Maueralltag

Leben im Schatten der Demarkationslinie

Von Osten her schirmen die Grenztruppen die Sperranlagen so gut wie möglich ab – mit Sichtblenden und Sperrgebieten. Anders auf West-Berliner Seite: Hier wird die Mauer ins Leben integriert. Graffiti-Sprayern dient sie als gigantische Leinwand, Camping-Freunden beschert sie ruhige Wochenendrefugien und Kreuzberger Wirten ein Plätzchen für improvisierte Biergärten – als sei die Mauer gar nicht da. Bald ist das Interesse für die lebensgefährliche Grenze mitten durch die Millionenstadt bei den Touristen größer als bei den Einheimischen. Nur wenn wieder einmal geschossen wird, kehrt der Todesstreifen ins allgemeine Bewusstsein zurück. Da die eigentliche Sperranlage überall einige Meter auf östlichem Gebiet zurückgesetzt steht, gibt es mitten in Berlin rechtsfreie Räume, die die West-Berliner Polizei nicht betreten darf. Hier entstehen vielfach illegale Bauten, die bis 1990 und zum Teil legalisiert noch heute existieren.

West-Berliner Kinder, die im Schatten der Mauer aufwachsen, spielen statt „Räuber und Gendarm“ mitunter „Grenzpolizist und Flüchtling“. So realistisch ahmen sie teilweise die Wirklichkeit nach, dass der „Flüchtling“ regelmäßig „totgeschossen“ wird. Kinder verarbeiten die Unmenschlichkeit unbewusst, Erwachsene hingegen oft gar nicht.

Nur scheinbar haben sich die Menschen der Realität angepasst. In Wirklichkeit leiden jedoch viele von ihnen an der „Mauer-Krankheit“, von der Psychiater und Neurologen sprechen. Es handelt sich um ein Syndrom psychosomatischer Störungen, häufig begleitet von Depressionen und dem Gefühl, „eingemauert“ zu sein. West-Berlin nach dem Mauerbau gilt als Stadt mit einer der höchsten Selbstmordraten in der Welt. Für Ost-Berlin liegt die Zahl der Suizide und Suizidversuche allerdings noch höher.

 

Revolution

Wir sind das Volk

Michail Gorbatschows Reformpolitik verändert die Welt. Im Westen weckt sie die Hoffnung auf ein Ende des Wettrüstens, im Osten auf Demokratisierung. Doch die SED hält nichts von Glasnost und Perestroika. In der wirtschaftlich darniederliegenden DDR herrscht Depression. Im Mai 1989 weisen Oppositionelle nach, dass die soeben abgehaltenen Kommunalwahlen gefälscht worden sind. Die Staatsführung reagiert mit Ignoranz und Repression. Die Zahl der Ausreiseanträge wächst. Im Sommer entschließen sich tausende zu einem Urlaub ohne Wiederkehr. Sie reisen nach Ungarn, wo der Eiserne Vorhang an der Grenze zu Österreich durchlässig geworden ist, und besetzen die deutschen Botschaften in Prag und Warschau. Als sie in den Westen ausreisen dürfen und die Parteiführung unbeirrt den 40. Jahrestag der DDR feiert, wird der Protest zur Massenbewegung. Die Worte des Staatsgastes Michail Gorbatschow, „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, wirken nun wie ein Fanal. Hunderttausende gehen in Leipzig, Berlin und anderen Städten auf die Straßen. „Wir sind das Volk“ lautet die Parole der Friedlichen Revolution. Neue politische Gruppierungen formieren sich. Die gleichgeschalteten Blockparteien emanzipieren sich von der SED, die Honecker davonjagt. Doch auch sein Nachfolger Egon Krenz hat der Dynamik der Ereignisse wenig entgegenzusetzen. Um den wachsenden Druck auf die neue Staats- und Parteiführung abzumildern, entschließt sich diese zu einer Regelung, mit der Reisen in den Westen möglich werden sollen.

Mauerfall

Der 9. November 1989

Es ist genau 18.53 Uhr, als SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski im internationalen Pressezentrum in Ost-Berlin verkündet: „Die DDR-Staatsführung hat sich dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, auszureisen.“ Auf Nachfrage eines Journalisten, wann die neue Reiseregelung in Kraft trete, blättert Schabowski in seinen Papieren und antwortet irrtümlich: „Sofort, unverzüglich.“

Der SED-Funktionär löst damit eine Lawine aus. Denn kaum verbreiten westliche Nachrichtenagenturen die überraschende Meldung, machen sich unzählige Ost-Berliner auf den Weg zu den Grenzübergangsstellen. An der Bornholmer Straße stauen sich gegen 21 Uhr Trabants und Wartburgs. In Sprechchören fordern die Menschen die Öffnung der Grenze, doch der verantwortliche Offizier hat keine Weisung.

Im Bundestag in Bonn erheben sich die Abgeordneten von ihren Plätzen und stimmen das Deutschlandlied an. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ist kaum verhallt, als an der Bornholmer Straße die ersten Ost-Berliner passieren dürfen. Nach und nach werden auch andere Übergänge geöffnet, zum Beispiel am Checkpoint Charlie. Der Druck sei einfach zu groß gewesen, wird Honecker-Nachfolger Egon Krenz später sagen.

Berlin gerät innerhalb kürzester Zeit in einen Ausnahmezustand. Hunderttausende aus beiden Teilen der Stadt feiern an den Kontrollpunkten, auf dem Kurfürstendamm und vor dem Brandenburger Tor, dem Wahrzeichen der deutschen Teilung. Nach 28 Jahren fällt die Mauer. Ein Jahr später gibt es die DDR nicht mehr. Deutschland ist in Frieden und Freiheit wiedervereinigt.

 

Aufarbeitung

Strafprozesse und Gedenken

Unrecht, das in der DDR begangen worden ist, muss grundsätzlich nach den Strafgesetzen der DDR geahndet werden. Denn das sogenannte Rückwirkungsverbot gehört zu den wichtigsten rechtsstaatlichen Prinzipien. Doch wie soll die Justiz des wiedervereinigten Deutschland jene Männer bestrafen, die an der innerdeutschen Grenze getötet haben? Sie verstießen ja nicht gegen DDR-Recht, sondern befolgten eindeutige Befehle.

Um die Täter dennoch zur Verantwortung ziehen zu können, greift der Bundesgerichtshof auf den Grundsatz des Juristen Gustav Radbruch zurück. Danach gilt geschriebenes Recht nicht, wenn es elementar gegen die Menschenrechte verstößt – und die gewaltsame Vernichtung eines Lebens ist die höchste Form der Menschenrechtsverletzung. Mehr als 2000 Ermittlungsverfahren werden gegen Todesschützen der innerdeutschen Grenze geführt. Etwa 300 Personen werden rechtskräftig verurteilt, doch nur 30 Täter müssen tatsächlich ins Gefängnis.

Nur noch gegen zehn weitere Personen, die wegen DDR-Unrechts angeklagt werden, wird eine Gefängnisstrafe verhängt. Darunter sind Egon Krenz, Heinz Keßler und Günter Schabowski, die als Mitglieder in der Partei- und Staatsführung für die Schüsse an der Mauer verantwortlich waren. Gegen viele der Hauptverantwortlichen, wie zum Beispiel gegen SED-Chef Erich Honecker und Stasi-Minister Erich Mielke, werden die Verfahren wegen der Grenztoten eingestellt, weil die Angeklagten nach den Kriterien eines Rechtsstaates nicht verhandlungsfähig sind. Im Jahr 2005 ist die juristische Aufarbeitung des DDR-Unrechts abgeschlossen: Bis auf Mord im engen Sinne der juristischen Definition sind alle Straftaten verjährt.

„Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“, kommentiert die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley ernüchtert die juristische Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht. Doch trotz berechtigter Kritik haben die Strafverfahren einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung des DDR-Unrechts geleistet.

Neben der längst noch nicht abgeschlossenen wissenschaftlichen Erforschung des DDR-Unrechtsstaates bleibt das Gedenken. Eine Vielzahl von Einrichtungen, wie die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße, die Gedenkstätte Deutsche Teilung auf dem Gelände der ehemaligen Grenzübergangsstelle Marienborn bei Helmstedt, das deutsch-deutsche Museum Mödlareuth sowie zahlreiche weitere größere und kleinere Gedenkstätten und Museen an der einstigen innerdeutschen Grenze und in Berlin haben sich der Aufgabe verschrieben, an das unmenschliche SED-Grenzregime und dessen Opfer zu erinnern und historisch-politische Bildungsarbeit zu leisten.