Dieser Text wurde im Sommer 2022 in Russland verfasst. Die Bundesstiftung Aufarbeitung sieht im Einvernehmen mit der Autorin/dem Autor von einer Namensnennung ab.

Entstehung von Memorial in der Zeit von Glasnost und Perestroika und seine Bedeutung für den innersowjetischen/-russischen Vergangenheitsdiskurs

Ein Regal mit Kästen voller Karteikarten, auf denen Informationen zu Personen festgehalten sind
Karteikarten von Opfern stalinistischer Repression im Archiv von Memorial in Moskau © Memorial Moskau

Während des Stalin-Terrors in der Sowjetunion wurden aus politischen Gründen über 3 Millionen Menschen verurteilt, davon über 700 Tausend zur Todesstrafe. Die Archive des NKWD sind bis heute nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Die damalige Geheimpolizei der Sowjetunion OGPU wurde als wichtigstes Ressort in das sowjetische Innenministerium eingegliedert.

Mitte der 1980er Jahre, mit Michail Gorbatschow als Generalsekretär des ZK der KPdSU, wurde in der Sowjetunion die offene Diskussion über Stalins Repressalien und deren Verurteilung möglich. „Landesweit entstanden in kurzer Zeit zahlreiche „informelle“ Vereine. Es gab einen einfachen Grund: mit dem Beginn der Perestroika wurde die Mitarbeit bei spontanen Bürgerinitiativen plötzlich nicht mehr als Straftat geahndet, – und mit einem Mal, nach nur wenigen Monaten, war das Land voll von Diskussionsklubs, Jugendvereinen, Kultur- und Aufklärungsorganisationen beliebiger Art“[1], schrieb Soziologe Andrej Alexejew 2013 in seinem Artikel über die ersten Jahre von Memorial.

Einer der Hauptarbeitsbereiche war die Identifizierung von Massenhinrichtungsstätten und Lagerfriedhöfen, die Klärung der Entstehungsgeschichte von Bestattungen und die Ermittlung der Namen derer, die in anonymen Gräbern bestattet wurden. Diese Arbeit wurde auf dem Butowo-Gelände in Moskau durchgeführt, wo in den Jahren des Terrors die Gebeine von über 20 000 Menschen verscharrt wurden, ebenso in Lewaschowo in der Nähe von St. Petersburg.

In Moskau tagte der Klub „Demokratische Perestroika“, er hielt seine Sitzungen im Saal des Zentralinstituts für Wirtschaft und Mathematik der Russischen Akademie der Wissenschaften ab. 1987 gründeten einige Teilnehmer dieser Treffen eine Initiative, mit dem Ziel ein Denkmal für die Opfer des stalinistischen Terrors zu errichten. Dies waren N. Braginskaja, A. Weisberg, J. Zhemkowa, A. Zwerew, P. Kudjukin, W. Kusin, D. Leonow, O. Orlow, L. Ponomarjow, J. Samodurow, J. Skubko. Anfangs wollte man die Gruppe auch so nennen – „Pamjatnik“ (Monument), aber um Assoziationen mit der rechtsextremen Gruppe „Pamjat“ (Erinnerung) zu vermeiden, wurde der Name „Memorial“ gewählt. Die Aktivisten sammelten über hundert Unterschriften berühmter Persönlichkeiten. Mit einem Appell, der die Notwendigkeit eines solchen Denkmals in Moskau unterstrich, übergaben sie die Liste der Regierung. Sie erhielten jedoch keine Antwort.

Portrait von Andrei Sacharow an der Fassade des Sacharow-Zentrums in Moskau
Portrait von Andrei Sacharow an der Fassade des Sacharow-Zentrums in Moskau. 2008 © Bundesstiftung Aufarbeitung

Sofort entstand die Idee, nicht nur ein Denkmal, sondern ein Gedenkzentrum zu schaffen, das ein Forschungszentrum, eine Bibliothek und ein Archiv umfassen würde. In den Jahren 1987 und 1988 sammelten Memorial-Aktivisten Unterschriften von Bürgern für die Errichtung eines Denkmals für die Opfer der Repressionen. Im Juli 1988 verabschiedete das Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion eine Resolution, die die Errichtung eines Denkmals für die „Opfer von Gesetzlosigkeit und Unterdrückung in den Jahren des Personenkults“ in Moskau genehmigte. Kurz zuvor, im Juni 1988, organisierte Memorial eine Kundgebung, bei der Andrei Sacharow sprach, der kurz zuvor aus der Verbannung zurückgekehrt war.

Die Aktivisten der Bewegung wollten, dass sich die Organisationsstruktur der Bewegung diametral von den bürokratischen sowjetischen Institutionen unterschied. Freiwillige der Bewegung organisierten im Zentrum von Moskau eine Befragung von Passanten, sie fragten nach möglichen Mitgliedern des öffentlichen Rats von Memorial. Andrej Alexejew schreibt in dem schon erwähnten Artikel: „Die Moskauer Initiative wurde innerhalb weniger Tage in mehreren großen Städten der Union (vor allem in Leningrad) aufgegriffen. Der Prozess der Unterschriftensammlung hat Menschen zusammengebracht und auch in diesen Städten entstanden Memorial-Gruppen. In den folgenden Monaten erfasste die Memorial-Bewegung wirklich das ganze Land“[2]. Der öffentliche Rat wurde aus den Kandidaten gebildet, die von den meisten Befragten unterstützt wurden.

Arseni Roginski im Gespräch mit Irina Scherbakowa
Arseni Roginski im Gespräch mit Irina Scherbakowa. 2008 © Bundesstiftung Aufarbeitung

Es waren die prominentesten Wissenschaftler, Schriftsteller und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens dieser Zeit – Jewgeni Jewtuschenko, Bulat Okudzhawa, Juri Afanassjew, Boris Jelzin und andere. Von allen vorgeschlagenen Kandidaten weigerte sich nur der Schriftsteller Solschenizyn, am öffentlichen Rat von Memorial teilzunehmen, er lebte im Ausland und meinte, er wäre nicht in der Lage, aktiv an der Arbeit des Rates teilzunehmen. Zum ersten Vorsitzenden des öffentlichen Rates wurde Andrej Sacharow gewählt. Einer der wichtigsten Initiatoren von Memorial seit der Gründung und im Laufe von Jahrzehnten war Arseni Roginski (1946-2017).

Bei der Gründungskonferenz 1989 war Memorial die größte Volksbewegung in der UdSSR. Sie entwickelte sich aus einer Struktur, die aus vielen unabhängigen Organisationen bestand[3]. Der Verein erhielt den Namen „Internationale Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge Memorial“. „1987 wurde das mehr als zwanzigjährige Zensurverbot für Veröffentlichungen aufgehoben, die der wichtigsten russischen Tragödie des 20. Jahrhunderts gewidmet waren – dem stalinistischen Terror, der das Leben von Millionen Bürgern forderte und das Schicksal von zig Millionen anderen besiegelte. (…) Eine Flut von Publikationen und Zeitschriften wurden veröffentlicht und zeigte ein schreckliches Bild von Willkür, Rechtlosigkeit und Grausamkeit in der relativ jungen Vergangenheit. Das Land reagierte mit Fassungslosigkeit.“[4], so Alexejew.

In den Anfangsjahren der Bewegung kamen die Aktivisten von Memorial zu der Einsicht, dass die Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses des Landes nicht dem Staat anvertraut werden durfte, der die Repressionen durchführte. Es galt zu verhindern, dass die neuen Denkmäler zu einer neuen Geschichtsfälschung beitragen würden. „Was für ein Denkmal wird die Kommunistische Partei ihren Opfern errichten – ein pompöses Denkmal für „die treuen Söhne des Vaterlandes, die in den Jahren der Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit zu Unrecht verurteilt wurden“, oder ein Denkmal, bei dem Millionen von enteigneten Bauern und Opfern des „roten Terrors“ im Bürgerkriegs und Tausende von Dissidenten der Ära Chruschtschow und Breschnew ausgeschlossen bleiben?“[5] fragt Andrej Alexejew in seinem Artikel.

Die Aktivisten der Bewegung glaubten, dass Memorial zu einer unionsweiten öffentlichen Organisation werden sollte, deren Aufgabe sein sollte, sich unabhängig vom Staat und den staatlichen Institutionen für die Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses der Menschen einzusetzen.
Es war notwendig, die Wiederherstellung der Bürgerrechte derjenigen zu erreichen, die während der Jahre der Regierungszeit Chruschtschows nicht rehabilitiert wurden. Viele haben die Perestroika nicht mehr erlebt; aber ihre Verwandten hatten immer noch ein moralisches Bedürfnis nach der Rehabilitierung ihrer Angehörigen. Außerdem sollte die Rehabilitierung nicht so stattfinden, wie sie unter Chruschtschow praktiziert wurde. Da waren die Unrechtsurteile als Fehler im sonst fairen System erklärt worden. Jetzt sollte man über die Opfer staatlicher Willkür und politischen Terrors sprechen, über die Opfer von Verbrechen, die von den Behörden absichtlich begangen wurden. Der Staat sollte seine historische Schuld vor den Bürgern eingestehen. Die rechtliche Rehabilitierung sollte durch eine zumindest symbolische Geldentschädigung unterstützt werden – ein Zeichen der Anerkennung der juristischen Schuld des Staates.

Im März 1990 fanden zum ersten Mal in der Geschichte Russlands demokratische Parlamentswahlen statt. Fast alle Kandidaten die von Memorial unterstützt wurden, haben die Wahlen gewonnen. Der Vertreter von Memorial, Sergei Kowaljow, wurde Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses für Menschenrechte und machte sich sofort an die Arbeit an der Ausarbeitung des Gesetzes zur Rehabilitation. Die Experten von Memorial beteiligten sich aktiv an der Arbeit an dem Gesetzentwurf. Die Verabschiedung des Gesetzes stieß auf ernsthafte Hindernisse, aber nach dem August-Putsch wurde das Gesetz der Russischen Föderation „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repression“ doch vom Parlament gebilligt, vom Präsidenten unterzeichnet und trat in Kraft.

Entwicklung von Memorial und seine Projekte in den 1990er Jahren

Solowezki-Stein für die Opfer politischer Repression auf dem Lubjanka-Platz
Solowezki-Stein für die Opfer politischer Repression auf dem Lubjanka-Platz 2016 © Bundesstiftung Aufarbeitung

Am 30. Oktober 1990 wurde auf dem Lubjanka-Platz gegenüber dem KGB-Gebäude das Denkmal für die Opfer politischer Repressionen eröffnet. Es war ein großer Granitstein, der auf Initiative von Memorial von den Solowezki-Inseln[6] geliefert wurde. Bei der Eröffnung des Denkmals fand eine Kundgebung statt, an der mehr als 10 000 Menschen teilnahmen. Seitdem ist das Denkmal ein traditioneller Ort für politische Aktionen und Gedenkveranstaltungen. Ein Jahr später, gleichzeitig mit der Verabschiedung des Rehabilitationsgesetzes, erklärte der Oberste Rat der Russischen Föderation den 30. Oktober offiziell zum Gedenktag für die Opfer politischer Repressionen. Im November 1990 überließen die Moskauer Behörden Memorial ein bescheidenes Gebäude in der Maly-Karetny-Gasse. Dort zogen die Bibliothek und das Archiv ein. Während des Augustputsches 1991 verteilten Memorial-Aktivisten Flugblätter, in denen aufgefordert wurde, die Rückkehr des Totalitarismus zu verhindern. Eines der Hauptelemente in der Struktur der Bewegung war das Forschungs- und Informationszentrum „Memorial“. Es koordinierte die Arbeit zahlreicher Verbände von Memorial in verschiedenen Regionen des Landes. Das Forschungs- und Informationszentrum (FIZ) „Memorial“ befasste sich mit der Erforschung der Geschichte des Staatsterrors und der politischen Verfolgung in der Sowjetunion, ihrer Repressionsmechanismen und des Widerstands.

Bis 2015 arbeitete FIZ „Memorial“ an folgenden Forschungsprogrammen:

  • Die Geschichte des Gulag
  • Die Geschichte repressiver Behörden
  • Die Geschichte des sozialistischen Widerstands gegen das Regime
  • Das Schicksal von politischen Gefangenen
  • Die religiöse Verfolgung
  • Das polnische Programm
  • Die Opfer zweier Diktaturen
  • Die Geschichte des Dissens in der UdSSR
  • Die Topographie des Terrors

Mitarbeiter des karelischen Memorial unter der Leitung von Juri Dmitrijew fanden in Sandarmoch die Überreste von mehr als 6 000 Menschen. In der Region Irkutsk wurde das Gelände Piwowaricha mit Überresten von mehr als 17 000 Menschen entdeckt. Massengräber wurden auch in Jekaterinburg entdeckt – etwa 20 000 bis 40 000 Tote. Memorial ersuchte die Behörden der jeweiligen Regionen, an den Orten der Massengräber Gedenktafeln anzubringen. Dutzende solcher Schilder, Obelisken und Denkmäler wurden auf dem Territorium Russlands, der Ukraine, Kasachstans und anderer Länder aufgestellt. Begleitet wurde diese Arbeit von reger Verlagstätigkeit. Nennen wir nur einige Veröffentlichungen von Memorial, die der Geschichte des stalinistischen Terrors gewidmet sind:

  • «Лубянка: ВЧК – ОГПУ – НКВД – НКГБ – МГБ – МВД – КГБ, 1917–1960: Справочник» (1997) (Lubjanka: sowjetische Geheimdienste 1917-1960: ein Handbuch, 1997)
  • Справочник «Система исправительно-трудовых лагерей» (1998) (Handbuch „System der Zwangsarbeitslager“,1998)
  • «Творчество и быт ГУЛАГа: Каталог музейного собрания общества „Мемориал“» (1998) (Kreativität und Leben im Gulag: Katalog der Museumssammlung der Gedenkgesellschaft, 1998)
  • «Репрессии против российских немцев» (1999) (Repressionen gegen Russlanddeutsche, 1999)

Die zweite wichtige Richtung in der Arbeit von Memorial waren Menschenrechtsaktivitäten. Als das brutale Vorgehen gegen eine Demo in Tiflis im Frühjahr 1989 zu Todesfällen führte, organisierte Memorial Proteste in Moskau. Im Laufe des Jahres 1989 stellte Memorial wiederholt Streikposten neben der Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR auf und forderte die Freilassung aller damals in der UdSSR verbliebenen politischen Gefangenen. Um diese Aktionen herum bildete sich im Herbst 1989 die Menschenrechtsgruppe von Memorial, und 1991 wurde das Menschenrechtszentrum „Memorial“ gegründet, das die Menschenrechtsarbeit von Memorial organisieren und koordinieren sollte; offiziell registriert wurde es 1993[7]. Die Memorial-Aktivisten beschafften sich selbstständig Informationen über Ereignisse in Konfliktregionen, arbeiteten in Karabach, Südossetien, Transnistrien, Tadschikistan und anderen Orten. Die Organisation spielte während der beiden Tschetschenienkriege eine sehr wichtige Rolle. An der Beobachtungsmission im Nordkaukasus waren verschiedene Vereine und Gruppen beteiligt, aber Memorial war der Hauptorganisator und Koordinator der Arbeit. Das Menschenrechtszentrum „Memorial“ untersuchte die Tötungen von Zivilisten während der Tschetschenienkriege, veröffentlichte Listen von gefallenen und vermissten Soldaten. Die Arbeit im Nordkaukasus ist zu einem der Hauptthemen von Memorial geworden.

Die Menschenrechtsaktivitäten von Memorial beschränkten sich nicht auf Gebiete bewaffneter Konflikte. Die Aktivisten der Organisation beobachteten ständig Fälle politischer Verfolgung in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Das Menschenrechtszentrum „Memorial“ begleitete die bekanntesten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Russland am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). 1996 startete das Menschenrechtszentrum das Programm „Migration und Recht“, das Flüchtlingen und Binnenvertriebenen rechtliche Unterstützung bot. 1999 wurde unter der Leitung von Witali Ponomarjow das Zentralasien-Projekt gestartet, das die politische und religiöse Verfolgung in der Region überwachte. 2008 startete das Menschenrechtszentrum „Memorial“ das Programm „Unterstützung für politische Gefangene und andere Opfer politischer Repression“; im Rahmen dieses Programms wurde Menschen geholfen, die aus politischen Gründen verfolgt werden. Die Organisation begann, auf ihrer Website eine Liste von Personen zu veröffentlichen, die aus politischen, religiösen und anderen Gründen in Russland inhaftiert sind. Im November 2019 startete das Programm „Schutz der Menschenrechte durch internationale Mechanismen“, ein „Generator von Beschwerden“ beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der dank der Bemühungen von Anwälten des Memorial und OWD-Info[8] geschaffen wurde.

Staatlichen Repressionen gegen Memorial nach der Jahrtausendwende in der Ära Putin und Veränderungen in der staatlichen Erinnerungskultur und -politik

Es sei darauf hingewiesen, dass Memorial sich bei seiner Arbeit nie auf die bedingungslose Unterstützung der russischen Behörden verlassen konnte. Die Organisation erreichte ihre Ziele nur mühsam, indem sie sich auf den sympathisierenden Teil der politischen Elite des Landes stützte. Nach der Machtübernahme durch W. Putin wurde die Erinnerung an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und generell der Kult der früheren militärischen Siege Russlands zur Grundlage der staatlichen Ideologie in der Russischen Föderation. Historische Tatsachen, die das Bild Russlands als siegreiches Land verzerrten, das andere Völker befreite und dem Bösen Widerstand leistete, wurden bald totgeschwiegen. Die Erinnerung an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg begann einem religiösen Kult zu ähneln und ersetzte in dieser Eigenschaft die sowjetische Ideologie des Marxismus-Leninismus. Ein markantes Beispiel für den religiösen Charakter der Erinnerung an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg ist die 2020 erbaute „Hauptkirche der Streitkräfte Russlands“. Die Dimensionen des Gotteshauses wiederholen symbolisch verschiedene Zahlen (zum Beispiel beträgt der Durchmesser der Trommel der Hauptkuppel 19,45 Meter). Die Wände des Tempels sind mit Wandgemälden zu militärischen Themen geschmückt, auf denen zahlreiche Kanonen und Maschinengewehre zu sehen sind. Die Mosaiken zeigen sowjetische Generäle. Alexander Soldatow behauptete 2020 in seinem Artikel in Nowaja Gaseta, ursprünglich seien auch Abbildungen von Stalin und Putin geplant gewesen, aber dazu kam es doch nicht[9].

Natürlich störten jetzt die Untersuchungen zu Stalins Repressionen den Aufbau eines „richtigen“ Bildes der Vergangenheit und Gegenwart, deshalb wurde Memorial in seiner Arbeit behindert. Gleichzeitig reagierten die Behörden der Russischen Föderation und bestimmter Regionen des Landes, insbesondere Tschetscheniens, immer schärfer auf die Menschenrechtsaktivitäten von Memorial.
Die „Orange Revolution“ in der Ukraine 2004 verstärkte den Argwohn des Kreml gegenüber NGOs, die „auf Geheiß des Westens“ handelten. 2012 trat in Russland ein Gesetz über „ausländische Agenten“ in Kraft, wonach alle NGOs, die aus dem Ausland finanziert werden und politisch aktiv sind, zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden. Jetzt nahmen die Behörden Organisationen wie Memorial als „Agentennetz, das im Interesse externer Mächte und derjenigen Menschen arbeitet, die destruktive Aktivitäten ausführen“[10] wahr, wie der Politologe Jewgeni Mintschenko formuliert hat.

Schreibmaschine und Unterlagen auf einem Schreibtisch
Memorial wurde in seiner Arbeit immer wieder von staatlichen Restriktionen betroffen. © Memorial Moskau

Die Verfolgung durch Behörden hing auch mit dem Trend zur „Rehabilitierung des Stalinismus und der Unzulässigkeit der Kritik an Geheimdiensten“[11] zusammen, behauptete 2021 der Chef der Stiftung „Petersburger Politik“ Michail Winogradow. Irina Scherbakowa, Vorstandsvorsitzende des Bildungszentrums Memorial und eine seiner GründerInnen, meint in ihrem Artikel „Memorial unter Druck“ in der Zeitschrift Osteuropa: „Memorials ständige Erinnerung an die Massenrepressionen lief dem allgemeinen Trend zuwider, die sowjetische Vergangenheit weichzuspülen. Die moralische Relativierung gewann an Boden. Immer häufiger war die These zu hören, dass es keine Geschichte, sondern nur Historiker gäbe, keine unumstrittenen Fakten, sondern nur den Umgang mit ihnen. Eine russische Version des Nolteschen Denkens griff um sich: Die sowjetische Erfahrung sei nicht einzigartig, auch in anderen Ländern habe es Massenverbrechen gegeben“[12]. Die offiziellen Medien der Russischen Föderation haben der Öffentlichkeit die Vorstellung eingetrichtert, dass es keine objektive Geschichte gibt, es gebe nur unterschiedliche Interpretationen davon, dass es in der Politik keine moralischen Kategorien gibt, sondern nur nationale Interessen etc. „Die Kreml-Ideologen orientierten sich immer stärker an der sowjetischen Vergangenheit, die eine Quelle des Nationalstolzes werden sollte. Ein neuer Patriotismus, der sich auf heroische, mythologisierte, helle Seiten der kommunistischen Epoche stützte, sollte zur Staatsideologie werden. Antiwestliche imperiale Rhetorik war nicht zu überhören, der erwähnte „Krieg der Erinnerungen“ mit den Ex-Sowjetrepubliken Ukraine, Georgien und den baltischen Staaten verschärfte sich“[13], so Scherbakowa.

Gleich am ersten Tag nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über „ausländische Agenten“ wurde am Gebäude von Memorial „ausländischer Agent ♥ USA“ geschrieben. Und eine Woche später, am 28. November 2012, hängten Unbekannte ein Transparent mit der Aufschrift „Hier sitzt ein ausländischer Agent“ auf dem Dach des Gebäudes auf[14]. Von 2007 bis 2011 dauerte ein Rechtsstreit mit der Generalstaatsanwaltschaft, bei dem die Rehabilitierung der „Opfer von Katyn“[15] und die Freigabe des Untersuchungsmaterials gefordert wurden. 2007 wurden in Inguschetien der Leiter vom dortigen Memorial, Oleg Orlow, und drei Journalisten des Fernsehsenders REN entführt; die letzteren kamen nach Nasran (Hauptstadt der Region), um über Proteste gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte zu berichten.

Hinweisschild zum Gebäude von Memorial in St. Petersburg
Hinweisschild zum Forschungs- und Informationszentrum (FIZ) „Memorial“ in St. Petersburg © Bundesstiftung Aufarbeitung

Am 4. Dezember 2008 wurde im Forschungs- und Informationszentrum „Memorial“ in St. Petersburg eine Durchsuchung durchgeführt. Am 15. Juli 2009 wurde eine Mitarbeiterin von Memorial Grosny, Natalja Estemirowa, getötet. Mehrere Mitarbeiter von Memorial Grosny mussten emigrieren. Die Arbeit des Büros wurde für sechs Monate ausgesetzt. Das Menschenrechtszentrum „Memorial“ erhielt 2014 von den russischen Behörden den Status „ausländischer Agent“, und der Verband „Memorial International“ erlitt das gleiche Schicksal 2016. Es folgten außerplanmäßige Inspektionen – zum Beispiel forderte das Justizministerium innerhalb weniger Tage die Vorlage von 9 000 Dokumenten über die Aktivitäten des Menschenrechtszentrums und dann 30 000 von „Memorial International“. Am 13. Dezember 2016 wurde Juri Dmitrijew, Leiter vom karelischen Memorial, unter zweifelhaften Vorwürfen festgenommen.

2016 wurden die Organisatoren und Teilnehmer der Preisverleihung für die Gewinner des 17. russlandweiten Wettbewerbs der historischen Forschungsarbeiten für Gymnasiasten „Ein Mensch in der Geschichte. Russland – das 20. Jahrhundert“, eines der Projekte von Memorial, von Aktivisten rechtsradikaler Gruppen angegriffen, die Polizei schaute nur zu. Die Angreifer spritzten grüne Farbe auf die Teilnehmer, beleidigten und bewarfen sie mit Eiern.

Am 9. Januar 2018 wurde Ojub Titijew, Büroleiter vom Forschungs- und Informationszentrum „Memorial“ in Grosny, aufgrund erfundener Anschuldigungen festgenommen.
Im August 2019 wandte sich die Abteilung des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) für Inguschetien an Roskomnadsor[16] mit der Anzeige, dass einige Memorial-Publikationen nicht als „ausländische Agenten“ gekennzeichnet seien. Die Höhe der verhängten Geldbußen betrug 4,7 Millionen Rubel.

Eskalation der juristischen Verfolgung und administrativen Gängelung von Memorial bis zu deren Verbot. Zerschlagung der Organisation und Versuche, die Archive zu sichern und die Arbeit fortzusetzen.

Noch 2014 und 2015 forderte die Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation den Obersten Gerichtshof auf, Memorial aufzulösen, aber dank der öffentlichen Kampagne zur Unterstützung der Organisation setzte sie ihre Arbeit fort. 2021 eskalierte die Situation.

Am 14. Oktober 2021 brach eine Gruppe unbekannter vermummter Männer in das Gebäude von Memorial in Moskau, in der Straße in Karetny Rjad ein, wo der Film Gareth Jones (2019) der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland über die Hungersnot in der ukrainischen Sowjetrepublik 1933 gezeigt wurde. Die Angreifer sprangen auf die Bühne und begannen unisono „Schande“ und „Nieder mit dem Faschismus“ zu rufen. Die Polizei und Vertreter anderer Sicherheitsdienste sperrten die Besucher der Filmvorführung im Memorial-Haus ein. Sie erhielten Fragebögen zur Eingabe persönlicher Daten und mussten angeben, ob sie vorbestraft waren. Um 23.00 Uhr wurden die Zuschauer aus dem Gebäude gelassen. Die Mitarbeiter von Memorial wurden weiterhin in dem Gebäude festgehalten und ihre Computer wurden beschlagnahmt.

Am 8. November wandte sich die Staatsanwaltschaft an das Gericht mit der Bitte, zwei zu „ausländischen Agenten“ erklärte Organisationen auf einmal aufzulösen: die internationale Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge „Memorial“ und das Menschenrechtszentrum „Memorial“. Die Staatsanwaltschaft bestand darauf, dass das Menschenrechtszentrum grob und wiederholt gegen die russische Verfassung und Bundesgesetze verstoßen habe. Die Staatsanwaltschaft forderte das Gericht auf, das Menschenrechtszentrum „Memorial“ und alle seine strukturellen Untergliederungen zu liquidieren. Die von der Generalstaatsanwaltschaft eingereichte Klage gegen „Memorial International wies auf Verstöße bei der Kennzeichnung von Nachrichten in sozialen Netzwerken laut dem „Agentengesetz“. Die Generalstaatsanwaltschaft erklärte, dass die fehlende Kennzeichnung in den Materialien von „Memorial International die russischen Gesetze und „die Rechte der Bürger grob verletzt“. In diesem Zusammenhang beantragte die Abteilung die Auflösung der Organisation und aller ihrer Abteilungen.

Am 29. Dezember 2021 beschließt der Oberste Gerichtshof die Auflösung des „Internationalen Memorial, das Moskauer Stadtgericht die Auflösung vom Menschenrechtszentrum „Memorial“. Der Staatsanwalt Dmitri Suchorukow verweist im Gerichtsprozess gegen das Menschenrechtszentrum auch auf weitere Gründe für die Liquidation hin. Er stellt fest, dass die Organisation nicht genehmigte Proteste unterstützte, die nach seinen Worten darauf abzielten, „das Land zu destabilisieren“. Die Praxis von Memorial, Listen politischer Gefangener zu erstellen (von denen einige beispielsweise der Spionage beschuldigt werden), zielt laut Suchorukow darauf ab, eine „negative Wahrnehmung des russischen Justizsystems“ zu schaffen.

Am 28. Februar 2022 genehmigte die Berufungskammer des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation die Entscheidung, den Verband „Memorial International“ aufzulösen.Die Auflösung von Memorial bedeutet einen radikalen und endgültigen Verzicht des russischen Staates auf eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit. Stalinistische Repressionen und andere Tragödien der Vergangenheit werden jetzt entweder totgeschwiegen oder vom Staat propagandistisch instrumentalisiert. Die Auflösung von  Memorial ist ein schwerer Schlag für die Menschenrechtsaktivitäten in Russland und für die Arbeit aller unabhängigen NGOs.
Die Europäische Union, die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Kanada und Australien gaben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie gegen die „unvernünftige Entscheidung“ protestierten, Memorial zum Schweigen zu bringen. Zahlreiche NGOs aus der ganzen Welt haben ebenfalls ihren Protest erklärt. In vielen Städten (Prag, Berlin und anderen) fanden Kundgebungen zur Unterstützung von Memorial statt.

Trotz der Auflösung geht die Arbeit von Memorial weiter. Memorial ist eine internationale Organisation und die Strukturen in anderen Ländern (Deutschland, Polen, Tschechien, Frankreich, Ukraine) arbeiten weiter. Ein riesiges Archiv (Tausende von Dokumente, die über Jahrzehnte gesammelt wurden) wurde weitgehend digitalisiert und die Mitarbeiter von Memorial sind nun damit beschäftigt, den Zugang zu ihren Materialien zu gewährleisten.

Bestandsaufnahme von Memorial 2022 nach dem Verbot und Einschätzung der zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Stalinismusgeschichte innerhalb Russlands sowie im russischen Exil seit dem Überfall auf die Ukraine

Am 24. Februar begann Russland einen Krieg gegen die Ukraine. Vorausgegangen war die Anerkennung der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die Putin am 21. Februar verkündete. Im Zusammenhang mit dieser Anerkennung richtete er einen langen Appell an die Bürger Russlands. Putins Rede erinnerte an eine Vorlesung in der Geschichte der Ukraine, in der der Staatschef der Russischen Föderation zu beweisen versuchte, dass die Ukraine eine zufällige Formation sei, die auf ursprünglich russischen Gebieten entstanden wäre, dass die Bevölkerung dieser Gebiete russisch sei und dass die Ideen der ukrainischen Unabhängigkeit nichts anderes sein sollen als Intrigen der Feinde Russlands. So sagt W. Putin in seiner Rede:

„Die heutige Ukraine wurde voll und ganz und ohne jede Einschränkung von Russland geschaffen, genauer: vom bolschewistischen, kommunistischen Russland. Dieser Prozess begann im Grunde gleich nach der Revolution von 1917. Lenin und seine Mitstreiter gingen dabei äußerst rücksichtslos gegen Russland selbst vor, von dem Teil seiner eigenen historischen Gebiete abgetrennt und abgestoßen wurden. (...) Warum musste man partout mit Gutsherrengeste alle möglichen, immer weiter in den Himmel schießenden nationalistischen Ansprüche an den Rändern des ehemaligen Imperiums befriedigen? Warum musste man den neu geschaffenen, oft völlig willkürlich zugeschnittenen Verwaltungseinheiten, den Unionsrepubliken, riesige Gebiete übergeben, die oft nicht den geringsten Bezug zu ihnen hatten? Und zwar Gebiete, ich sage es noch einmal, mitsamt ihrer Bevölkerung, die zum historischen Russland gehörte.“[17]

Ressentiments wegen des Zusammenbruchs der UdSSR, Revanchismus, Ansprüche auf nationale Exklusivität und Hegemonie sind die Grundlage von Putins Ideologie, die zum Ausbruch des größten Krieges in Europa nach 1945 führte. Wir glauben, dass dies das Ergebnis der unzureichenden Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit ist, einschließlich der Verbrechen des Sowjetregimes gegen die Menschlichkeit. Die russische Gesellschaft und die Regierung des demokratischen Russlands nahmen in den 1990er Jahren die kollektive Erinnerung an diese Verbrechen zu leicht. Es wurde keine konsistente Politik in Bezug auf die Vergangenheit aufgebaut – es wurde keine Bewertung des sowjetischen Systems abgegeben. Irina Scherbakowa unterstreicht in ihrem Artikel „Memorial unter Druck“: „An die Repressionen in der UdSSR erinnerte die Jelzin-Regierung nur vor Wahlen, wenn ein Sieg der Kommunisten drohte, die wegen der schweren Wirtschaftslage von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung unterstützt wurden. Prominente Liberale, die sich für die Einführung der Marktwirtschaft in Russland engagierten, sahen keinen Sinn darin, Zeit und Anstrengung der Entstalinisierung zu widmen. (…) Sie waren von der Überzeugung geprägt, dass sich mit dem erfolgreichen Aufbau einer Marktwirtschaft alle „ideologischen Probleme“ von selbst lösen würden. Dass es einen Zusammenhang zwischen der Herausbildung einer Zivilgesellschaft, dem öffentlichen Bewusstsein und dem Erfolg der Reformen gab, sahen sie nicht. Als sich die Liberalen nach der Jahrtausendwende endlich eines Besseren besannen, war es zu spät“[18] Sie wurden schon vom politischen Feld geworfen, und Stalin, als Hauptsymbol autoritärer Macht, „ragte“ bereits aus allen Ecken heraus.

Stalin ist schon lange eine der beliebtesten historischen Persönlichkeiten unter Russen, nach einer Studie des staatlichen soziologischen Dienstes WZIOM wusste 2018 ein erheblicher Teil der Bevölkerung nichts über Stalins Repressionen oder hatte eine verzerrte Vorstellung davon[19]. Die Idealisierung der sowjetischen Vergangenheit ist zum grundlegenden Narrativ im heutigen Russland geworden. Bereits im Jahr 2000 wurde die Hymne der UdSSR als Hymne Russlands genehmigt (mit einigen Änderungen im Text). Nach 2012 gewannen in Russland Aufkleber und Aufschriften „Wir können wiederholen“ an Popularität, wobei der Krieg und der Sieg darin gemeint sind. In den Städten Russlands gibt es immer noch Denkmäler für die sowjetischen Führer, von der Partei, sowie von NKWD und KGB. Und jetzt findet auf den besetzten ukrainischen Gebieten eine Rekommunisierung des öffentlichen Raums statt: Die von den ukrainischen Behörden entfernten Lenin-Denkmäler (Nowa Kachowka, Henitschesk) werden wieder aufgestellt, in Mariupol sind wieder Orte in Lenin-Platz, Leninski-Komsomol-Platz, 60-Jahre-UdSSR-Straße umbenannt worden. Dies ist umso bemerkenswerter im Zusammenhang mit Wladimir Putins ablehnender Haltung gegenüber Lenin. Aber wichtiger als persönliche Präferenzen ist im Moment die Rückkehr der besetzten Teile der Ukraine in den allgemeinen russischen Diskurs mit der Verehrung der UdSSR und ihrer Symbole. Schriftsteller Sachar Prilepin, der Putins Politik aktiv unterstützt:

„Jegliche Äußerungen zum Thema, warum wir Lenin/ Stalin, sowie Alexander den Ersten/ Zweiten/ Dritten, Katharina die Große oder Iwan den Schrecklichen wiederbeleben sollten, (…) sind entweder freiwilliger Wahn, oder eine Provokation, oder Betrug“[20].

Wir sehen, wie die Verbrechen der Vergangenheit, die von der Gesellschaft nicht verurteilt wurden, zum Motor neuer Verbrechen werden.

Gedenkfriedhof im Wald
Auf dem Gedenkfriedhof in Sandormoch befinden sich zahlreiche individuelle Mahnmale und Gedenkzeichen für die Opfer der Repressionen. 2017 © Bundesstiftung Aufarbeitung

Es ist davon auszugehen, dass, wenn W. Putin an der Macht bleibt, die Möglichkeiten zur Untersuchung der stalinistischen Repressionen und anderer Verbrechen des Sowjetregimes, die Möglichkeiten zur Verewigung der Erinnerung an die Opfer äußerst begrenzt sein werden, ganz zu schweigen von den Menschenrechtsaktivitäten. Diese Arbeit wird sich zunehmend ins Ausland verlagern und im Umfeld und mit Kräften der „neuen“ russischen Emigration stattfinden. So wurde am 5. August 2022 am Internationalen Gedenktag für die Opfer des Großen Terrors, in Prag die von der Gesellschaft Gulag.cz organisierte Ausstellung „Sandarmoch – wo Bäume Gesichter haben“ eröffnet. Sie berichtet von der Sandarmoch-Gedenkstätte in Karelien, dem Ort der Hinrichtungen während des stalinistischen Terrors 1937-1938, und seinem Entdecker Juri Dmitrijew, der vom derzeitigen russischen Regime inhaftiert wurde. Irina Scherbakowa, Vorstandsvorsitzende des Bildungszentrums Memorial, kommentierte die Fortsetzung der Arbeit von Memorial in Russland im Kontext der Eröffnung der Ausstellung in Prag: „Die Bedingungen sind sehr schwierig, weil im Land die Zensur herrscht. Ein nachlässiges Wort kann für die Menschen sehr schwerwiegende Folgen haben, die selbst mit der Breschnew-Ära nicht zu vergleichen sind: schreckliche Strafen, Verfolgung. Ich habe den Eindruck, dass jede Gelegenheit genutzt wird, um die Bildungsaktivitäten fortzusetzen – um Ausflüge zu Orten zu organisieren, die mit der Topographie des Terrors verbunden sind. Und die Tatsache, dass die Ausstellung eröffnet wird, dass junge Künstler aus verschiedenen Ländern daran teilnehmen, ist sehr wichtig. Das ist das einzige, was wir jetzt der neuen Barbarei entgegensetzen können, die auf uns zukommt“[21].

Quellen

[2] Ebd.

[3] Die Vereinigung ist dezentral organisiert. Neben Memorial International existieren rechtlich eigenständige regionale Memorial-Organisationen in vielen Städten Russlands. Außerdem gibt es ein selbstständiges Rechtszentrum »Memorial« (Правозащитный центр) und ein Forschungs- und Informationszentrum »Memorial«. Dazu kommen Gruppen in der Ukraine, Kasachstan, Lettland, Polen, Deutschland, Italien, Frankreich und seit 2016 in Tschechien (Wikipedia)

[5] Ebd.

[6] Im 20. Jahrhundert wurden die Solowezki-Inseln zu einem Symbol der russischen Geschichte, zum Inbegriff des Roten Terrors in Sowjetrussland und nachfolgend des Großen Terrors. Das Solowezki-Lager zur besonderen Verwendung bildete die Keimzelle für den berüchtigten Gulag und beherbergte auf dem Höhepunkt 1931 um 71 800 Häftlinge (Wikipedia)

[7] Näheres siehe old.memo.ru

[8] OWD-Info ist ein russisches nichtstaatliches Menschenrechtsmedienprojekt zur Bekämpfung politischer Verfolgung. OWD-Info überwacht politisch motivierte Verfolgung und Fälle von Amtsmissbrauch durch die russische Polizei gegen Inhaftierte, bietet Rechtshilfe in Form von Rechtsberatung und einer rund um die Uhr erreichbaren Telefon-Hotline (über die Hotline erhält das Projekt die meisten Informationen, die sie dann in ihren Berichten auf der Website veröffentlicht), Beratung eines Anwalts in der Kommunikation mit der Polizei, Rechtsbeistand vor Gericht (bis zur Einreichung einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte).

[11]  Michail Winogradow, Chef der Stiftung „St. Petersburger Politik“, ebenda.

[12]  Irina Scherbakowa, Memorial unter Druck, in: Osteuropa, 3–4/2020, S. 215–228.

[13]  Ebd.

[14]  Jewgenija Ljosina, Memorial und seine Geschichte, in: Osteuropa, 11-12/2014, S. 165-176

[15]  Beim Massaker von Katyn (auch Massenmord von Katyn oder Massenerschießungen von Katyn) erschossen Angehörige des sowjetischen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) vom 3. April bis 11. Mai 1940 etwa 4 400 gefangene Polen, größtenteils Offiziere, in einem Wald bei Katyn, einem Dorf 20 Kilometer westlich von Smolensk. Diese Tat gehörte zu einer ganzen Reihe von Massenmorden, die im Frühjahr 1940 an mindestens fünf verschiedenen Orten in den Unionsrepubliken Russland, Ukraine und Belarus an 22 000 bis 25 000 Berufs- oder Reserveoffizieren, Polizisten und Intellektuellen verübt wurden. Die Opfer zählten überwiegend zu den Vorkriegseliten der unabhängigen Zweiten Polnischen Republik. Die Entscheidung zu diesen Massenmorden fällte der sowjetische Diktator Josef Stalin, das Politbüro der Kommunistischen Partei bestätigte die Hinrichtungsbefehle. Der Ortsname „Katyn“ repräsentiert in Polen diese Mordreihe und wurde zum nationalen Symbol für das Leiden Polens unter sowjetischer Herrschaft im Zweiten Weltkrieg. (Wikipedia)

[16]  Roskomnadsor (Роскомнадзор), der Föderale Dienst für die Aufsicht im Bereich der Informationstechnologie und Massenkommunikation ist die russische Regulierungs-, Aufsichts- und Zensurbehörde für Massenmedien, Telekommunikation und Datenschutz.

[18] Irina Scherbakowa, Memorial unter Druck, in: Osteuropa, 3–4/2020, S. 215–228.