"If you mean when will Chernobyl be completely save—the half-life of Plutonium 239 is 24,000 years. Perhaps we should just say, not in our lifetimes."
In diesem Satz, den der Drehbuchautor der Miniserie Chernobyl dem sowjetischen Wissenschaftler Waleri Alexejewitsch Legassow in den Mund legt, sind die Langzeitfolgen der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl in ihren Grundzügen zusammengefasst. Die erfolgreiche amerikanisch-britische Fernsehreihe von 2019 führt die vielfache Auseinandersetzung mit einem Jahrhundertereignis fort: Der Explosion des vierten Reaktors des sowjetischen Atomkraftwerks „Tschernobyl Wladimir Iljitsch Lenin“ am 26. April 1986. Der Atomunfall wurde als erster in die höchste Kategorie der siebenstufigen internationalen Bewertungsskala für nukleare Vorfälle eingestuft. Seine Folgen sind bis heute wahrnehmbar. Sowohl medial als auch politisch ist das Reaktorunglück nicht zuletzt wegen seiner Symbolträchtigkeit und Einmaligkeit noch immer sehr präsent.
Die Ursachen der Detonation waren menschliche Fehleinschätzung, Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften und bauliche Mängel. Ein Testlauf, der die Notstromversorgung und sichere Abschaltung des Reaktors prüfen sollte, misslang. In der Folge kam es zu einer Kernschmelze und der Explosion des Reaktors. Über das zerstörte Reaktordach gelangte eine große Menge strahlender Materie in die Atmosphäre. Innerhalb kürzester Zeit verbreitete sich radioaktiver Niederschlag über ganz Europa und darüber hinaus. Die direkte Umgebung des Reaktors war durch den Fallout besonders betroffen und gilt noch heute als stark belastet.
Nach der Explosion versuchten Feuerwehr und Einsatzkräfte der Armee, den Brand zu löschen und den Reaktor zu kühlen, um weitere Detonationen und Kettenreaktionen zu verhindern. 116.000 Menschen mussten unmittelbar evakuiert werden. Weitere 210.000 Menschen wurden in den Folgejahren umgesiedelt. Ganze Dörfer in der Umgebung riss man in der Hoffnung ab, die Verbreitung verstrahlten Materials so zu verhindern.
Um den Reaktor zu versiegeln und dessen Umfeld zu säubern, wurden in der darauffolgenden Zeit sogenannte Liquidatoren in den Einsatz geschickt. Es handelte sich dabei um Einwohner aus der Sperrzone sowie Soldaten und Reservisten, die sich für die lebensgefährlichen Aufräumarbeiten freiwillig meldeten oder zwangsverpflichtet wurden. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation wurden 600.000 bis 800.000 ‚Liquidatoren‘ rekrutiert. Gleichzeitig begann man mit dem Bau des sogenannten Sarkophags, einer massiven Schutzhülle aus Beton und Stahl um den havarierten Reaktor.
Der radioaktive Niederschlag, der sich nach der Explosion über die Atmosphäre verbreitete, hat weite Gebiete vergiftet. Etwa 6.400 km² Agrarfläche mussten in der Region von Tschernobyl aufgrund der hohen Strahlenbelastung aufgegeben werden. Die wirtschaftlichen Folgen des Unglücks für die Sowjetunion waren immens – nicht zuletzt aufgrund des enormen Prestigeverlusts, der mit der Katastrophe verbunden war. Die finanziellen Kosten, der Verlust des politischen Renommees und die wirtschaftlichen Schäden werden daher mitverantwortlich gemacht für den Zusammenbruch der Weltmacht Anfang der 1990er-Jahre. Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow bezeichnete in seinen Memoiren den Atomunfall von Tschernobyl gar als einen „Sargnagel der Sowjetunion“.
Unmittelbar nach der Explosion meldete die Kraftwerksleitung nach Moskau, dass es lediglich zu einem Brand gekommen und der Reaktor intakt geblieben sei. Die eigentlich sofort notwendige Evakuierung der nahegelegenen Stadt Prypjat verzögerte sich durch diese falsche Nachricht drastisch. Es sollte in der Zeit nach der Katastrophe ein sich wiederholendes Phänomen und Problem werden, dass die Ereignisse durch die Verantwortlichen relativiert und unterschätzt wurden. Zu einer offiziellen Erklärung sah sich die sowjetische Regierung erst veranlasst, nachdem am 28. April 1986 ein schwedisches Kernkraftwerk erhöhte Werte meldete, die nicht aus der eigenen Anlage stammten. Die Tragweite der Ereignisse kam jedoch erst sukzessive an die Öffentlichkeit. War anfangs noch von einem Unfall die Rede, so sprach die Sowjetunion einige Tage später erstmals von einer „Katastrophe“ und meldete unmittelbare Todesopfer. Am 14. Mai klärte Gorbatschow in einer Fernsehansprache die Bevölkerung über die Reaktorkatastrophe auf.
Die DDR zeigte sich zunächst solidarisch mit der Kommunikationsstrategie des „Bruderlandes“ Sowjetunion. Die SED-Führung versuchte, die Bürgerinnen und Bürger durch verharmlosende, falsche oder ausbleibende Informationen zu beruhigen. Nachdem auch der sowjetische Nachrichtendienst meldete, dass der Reaktor beschäftigt worden sei, wurde die Nachricht an die Bevölkerung weitergegeben. Die erhöhte Gefahr durch den Austritt radioaktiver Stoffe unterschlug man jedoch. Hierüber wurde erst berichtet, als die Strahlenbelastung messbar nachließ. Gegensätzliche Aussagen in den Medien der Bundesrepublik – die Deutsche Presse-Agentur hatte am Abend des 28. April eine Eilmeldung zu Tschernobyl abgegeben – kommentierte man mit dem Vorwurf, dass diese lediglich Propaganda sei und von der atomaren Aufrüstung der Bundesrepublik ablenken solle. Es handele sich um eine „Kampagne“ gegen die Sowjetunion und eine „Verteufelung“ des Sozialismus.
Schon kurz nach der Explosion und dem radioaktiven Fallout über Europa gab es in der DDR plötzlich ein ungewöhnlich breites Angebot an Gemüse in den sonst notorisch knapp bestückten Kaufhallen des Landes. Dass es aufgrund der möglicherweise hohen Strahlenbelastung nicht an ausländische Abnehmer verkauft werden konnte und deswegen so reichhaltig verfügbar war, wurde öffentlich verschwiegen. Stattdessen gab es lediglich von staatlicher Seite den Hinweis, den Salat gründlich zu waschen. Da viele Menschen über westliche Medien vor dem Verzehr der Lebensmittel gewarnt wurden, war die Nachfrage allerdings geringer als angenommen. Die überschüssigen Nahrungsmittel wurden daher kostenlos an Schulen und Kindergärten verteilt. Regierungsintern gab das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS) eine Warnung heraus und riet insbesondere davon ab, verstrahltes Futtermittel für Milchkühe zu verwenden. Da es jedoch an möglichem Ersatzfutter mangelte, wurde auf die Hinweise nur teilweise reagiert. Der Leiter des SAAS spielte die Tragweite der Katastrophe dementsprechend mit der Äußerung herunter: „Jeder Schuster kloppt sich mal auf den Daumen.“
Die Menschen in der DDR reagierten mit Unverständnis darauf, dass die Parteiführung sie so unzureichend informierte. Da durchweg beschwichtigend über den Vorfall berichtet wurde, verstärkte sich das öffentliche Misstrauen gegenüber staatlichen Aussagen. Wie so oft schlug sich die gesellschaftliche Meinung auch in Witzen nieder. So lautete einer der Radio-Eriwan-Witze jener Zeit: „Hätte die Katastrophe von Tschernobyl vermieden werden können? – Im Prinzip ja, wenn nur die Schweden nicht alles ausgeplaudert hätten.“ Eine kritische Auseinandersetzung mit der Katastrophe und den Gefahren der Atomenergie wurden seitens der Staatsführung unterbunden. Die entsprechende Stimmungslage registrierte das Ministerium für Staatssicherheit sehr genau. In einem Bericht vom 6.Mai 1986 warnte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) der Staatssicherheit nachdrücklich vor „politisch-ideologischen Folgereaktionen“. Die Entwicklung einer Anti-Atomkraft-Bewegung wie in der Bundesrepublik wollte man unbedingt verhindern. Den Kernkraftwerksgegnern wurde „feindlich-negatives Verhalten“ unterstellt.
Dennoch wurden die Umweltproteste in der DDR nun immer lauter. Bis dato hatten sich oppositionelle Gruppen nur am Rande mit der Atom- und Energiepolitik beschäftigt. Nach Tschernobyl forderten die unabhängigen Friedens- und Umweltgruppen in und außerhalb der Kirchen nun stärker als zuvor die atomare Abrüstung, den Ausstieg aus der Atomenergie und eine Umstellung der Energiepolitik. Es wurden zudem Kontakte zur westdeutschen Anti-Atom-Bewegung hergestellt. Konkrete Protestaktionen richteten sich beispielsweise gegen den Bau des Kernkraftwerks in Stendal und gegen das Vorhaben, die Anlagen im Kernkraftwerk Lubmin zu erweitern.
In der Bundesrepublik erhielt die Anti-Atomkraft-Bewegung durch das Unglück einen enormen Aufschwung. Sie forderte zunehmend lauter den Ausstieg aus der Atomenergie. Die Bundesregierung reagierte, indem sie nur wenige Wochen nach der Katastrophe das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gründete, das sich auch mit den Folgen von Tschernobyl befassen sollte.
Trotzdem änderte sich die Atompolitik in den Wochen und Monaten nach dem Unglück nicht grundlegend. Rückblickend aber waren die Erfahrungen mit der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl durchaus entscheidend für das Umdenken der deutschen Politik in dieser Frage Ende der 1990er-Jahre: Der Umstieg auf eine alternative Energieerzeugung wurde zunächst anvisiert und teilweise auch umgesetzt. Doch erst nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 wurde der Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022 beschlossen.
Um den Unglücksort von Tschernobyl zieht sich bis heute eine mehrere Kilometer große Sperrzone, in der Böden und Gewässer durch den Fallout weiterhin radioaktiv belastet sind. Heute ist die Schutzzone, die ansonsten von menschlichen Einflüssen weitgehend unberührt bleibt, ein wichtiges Reservat für bedrohte Tier- und Pflanzenarten. Obwohl das belastete Gebiet weiträumig abgesperrt ist, besteht noch immer die Gefahr, dass hier radioaktive Stoffe freigesetzt werden. Bis heute gelten daher in einigen, im näheren Umkreis von Tschernobyl gelegenen Teilen von Belarus, Russland, der Ukraine oder auch Österreich Einschränkungen bei Nutzung und Konsum von Lebensmitteln. Auch in südlicheren Regionen Deutschlands wird weiterhin erhöhte Radioaktivität in Wildtieren und Pilzbeständen festgestellt.
Die gesundheitlichen Folgen der Nuklearkatastrophe sind bis heute eklatant. Neben den Menschen, die durch die unmittelbare Strahlenbelastung ums Leben kamen, sind sehr viele Krebs- und Leukämieerkrankungen auf den Vorfall zurückzuführen. Die tatsächliche Zahl der Todesfälle, die mit der Katastrophe verbunden sind, ist umstritten, da die Krankheitsfälle nicht immer eindeutig auf die radioaktive Belastung zurückzuführen sind. Neben akuten Erkrankungen werden auch zahlreiche genetische Schäden als Folgen registriert. Hinzu kommen soziale und psychische Traumata sowie geringere körperliche Gesundheitsfolgen und eine insgesamt kürzere Lebenserwartung der Einwohner um Tschernobyl.
Durch die Explosion und bei den unmittelbaren Aufräumarbeiten in den darauffolgenden Tagen und Wochen kamen vermutlich mehrere hundert Personen zu Tode. Unklar ist, welche Spätfolgen die bei den Aufräumarbeiten eingesetzten ‚Liquidatoren‘ davongetragen haben. Viele wurden von der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten allein gelassen und ihre gesundheitlichen Folgen kaum beobachtet. Vor allem private Initiativen aus verschiedenen Ländern unterstützen die Betroffenen durch Hilfspakete und Spenden. Für die Kinder und Jugendliche aus Tschernobyl wurden Erholungsaufenthalte in anderen Regionen und im Ausland organisiert.
In Tschernobyl selbst halten bis heute Maßnahmen und Aufräumarbeiten an, die die Strahlung eindämmen sollen. Der Reaktorblock 3, der von der Explosion der vierten Kammer des Kraftwerks nicht betroffen war, wurde nach den Ereignissen lediglich für einige Monate heruntergefahren. Er ging kurze Zeit nach dem Unfall wieder ans Netz und lieferte noch bis zur Jahrtausendwende Strom. Die Region spielt weiterhin eine wichtige Rolle für die Energieversorgung des Landes. Noch immer arbeiten etwa 1.500 Personen in und um das Kraftwerk und den Unglücksort.
Ungeklärt ist bis heute, wie mit den Überresten des zerstörten Reaktors und den stark verstrahlten Gebäuden und Bauteilen im unmittelbaren Umfeld umgegangen werden soll. Auch für die Bergung des noch in der Reaktorruine verbliebenen Brennstoffs gibt es bislang keine Lösung. Der zunächst als Provisorium errichtete Schutzmantel über dem havarierten Reaktor zeigte schon früh undichte Stellen, aus denen radioaktiver Staub entwich. Daher wurde von 1997 bis 2016 eine verbesserte Schutzanlage über der Anlage errichtet. Ihre Lebensdauer ist auf 100 Jahre angesetzt. Das seit 1986 bestehende Sperrgebiet darf weiterhin nur mit offizieller Genehmigung betreten werden. In den letzten Jahren hat sich allerdings ein zunehmender Tagestourismus mit geführten Touren eingestellt, der durch den ukrainischen Staat gefördert wird.
Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kultur- und Medienlandschaft ist die Reaktorexplosion nach wie vor präsent. Auf der ganzen Welt widmen sich immer wieder Ausstellungen, Konzerte oder Tagungen der Katastrophe und ihren Folgen. Auch in vielen Staaten der ehemaligen Sowjetunion finden regelmäßig Gedenkveranstaltungen statt. Das Nationalmuseum in Kiew widmet einen Ausstellungsteil den verschwundenen Dörfern und Folgen des Unglücks. In vielen Städten, beispielsweise in Moskau, Kiew, Charkiw oder Saporischschja, wurden Mahnmale errichtet. Der ‚Liquidatoren‘ wird in der Nähe des zerstörten Reaktors mit einem Denkmal gedacht.
In der Literatur wird das Thema Tschernobyl regelmäßig aufgegriffen. Bereits zwei Monate nach der Explosion begann Christa Wolf mit der Arbeit an ihrer Erzählung Störfall. Nicht zuletzt wegen der darin geäußerten Kritik an der weiteren Kernkraftnutzung erlangte es nach seinem Erscheinen 1987 große Popularität.
2011 wurde die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch im Deutschlandfunk anlässlich des 15. Erscheinungsjubiläums ihres Buches Tschernobyl-Gebet interviewt. Unter dem Eindruck der Nuklearkatastrophe von Fukushima gab sie eine warnende Prognose ab:
"Ich für meinen Teil hatte keinen Zweifel daran, dass sich so etwas wiederholen würde. Es genügt eigentlich, sich einmal in der Tschernobyl-Zone aufgehalten zu haben – und ich war dort mehrfach, seit der Unfall passiert ist und immer wieder –, um zu wissen, dass der Mensch hier vor einer ganz neuen Herausforderung steht, und dass das nicht abgeschlossen ist, dass sich so was wiederholen kann. Ihr Buch trägt den Untertitel: Eine Chronik der Zukunft."