Bereits seit dem 18. Jahrhundert prägte eine grundsätzliche Kontroverse den Umgang mit gehörlosen Kindern: Anhänger der gebärdensprachlichen Methode setzten sich dafür ein, die Gebärden, die taube Menschen zur Kommunikation untereinander nutzten, zu studieren und im Schulunterricht mit gehörlosen Kindern anzuwenden. Befürworter der lautsprachlichen Methode hingegen befürchteten, dass die Kinder dadurch auf Kontakte mit anderen tauben Menschen beschränkt bleiben würden und waren der Auffassung, dass ihnen nur das Erlernen der gesprochenen Sprache die Integration in die Gesellschaft ermöglichen würde. Ausgehend von der Annahme, dass lediglich eine gesprochene Sprache eine „richtige“ Sprache sein könne, die die Formulierung komplexer Gedanken erlaubt, verfolgte diese Unterrichtsmethode das Ziel, den gehörlosen Kindern die Gebärden abzugewöhnen und ihnen stattdessen das Lippenlesen und das Nachahmen von Lauten beizubringen. So sollte ihnen die lautsprachliche Kommunikation mit hörenden Menschen ermöglicht werden.
Auf dem Mailänder Kongress 1880 sprachen sich Gehörlosenlehrer aus ganz Europa mehrheitlich dafür aus, in Zukunft nur noch die lautsprachliche Methode anzuwenden. Damit war die Kontroverse vorerst entschieden. In Deutschland wurde die Resolution des Mailänder Kongresses besonders konsequent umgesetzt: Gebärden wurden weitestgehend aus dem Unterricht an den Gehörlosenschulen verbannt und immer weniger Gehörlosenlehrerinnen und -lehrer beherrschten die Gebärdensprache.
Das galt im Wesentlichen auch für die DDR, wo noch der erhebliche Einfluss der ebenfalls lautsprachlich geprägten sowjetischen Gehörlosenpädagogik hinzukam. Hörgeschädigte und taube Kinder besuchten in der DDR in aller Regel spezielle Gehörlosenschulen oder Internate, die es in den meisten Großstädten gab, aber auch auf dem Land. In Güstrow beispielsweise befand sich seit 1951 eines der bedeutendsten Internate, auf das taube Kinder aus der ganzen DDR geschickt wurden.
Der Unterricht an diesen Schulen allerdings hatte auch in der DDR vor allem das Ziel, die Kinder zum Gebrauch der gesprochenen Sprache zu erziehen. Die nach Auffassung der lautsprachlichen Gehörlosenpädagogik „naiven, primitiven“ Gebärden hingegen sollten den Kindern abgewöhnt werden, da Gebärden – so die Überlegung – sie nur beim Erlernen der Lautsprache behindern würden. Die Schülerinnen und Schüler durften also im Unterricht nicht gebärden – wer es doch tat, bekam oft Schläge auf die Finger. Wie überall sonst erreichte diese Unterrichtsmethode jedoch auch in der DDR meist das Gegenteil der erhofften Wirkung: Am Ende beherrschten die Kinder in vielen Fällen weder die gesprochene noch die Gebärdensprache richtig und es fiel ihnen erst recht sehr schwer, sich mit anderen zu verständigen. Auch hatten sie häufig große Wissenslücken auf anderen Gebieten wie zum Beispiel Mathematik, Geschichte oder Biologie, weil sie dem Unterricht in diesen Fächern aufgrund der Kommunikationsschwierigkeiten kaum folgen konnten. Die Ausstattung der Schulen war zudem oft mangelhaft: Technik, die die Kommunikation zwischen Lehrerinnen und Lehrern einerseits und Schülerinnen und Schülern andererseits erleichtern sollte, war in vielen Fällen nicht vorhanden oder funktionierte nicht.
Im Fall der Internate kam noch hinzu, dass die Kinder für deren Besuch schon früh von ihren Familien getrennt wurden. Bereits die Ankunft im Internat war für viele der Schülerinnen und Schüler ein traumatisches Erlebnis: Aufgrund von Verständigungsproblemen und ungenügenden Informationen im Vorfeld verstanden sie in vielen Fällen zunächst überhaupt nicht, wo sie waren, was sie dort erwartete und warum sie sich von ihren Eltern verabschieden mussten. Da die Eltern oft weit entfernt von der Schule wohnten, konnten diese ihre Kinder bestenfalls an den Wochenenden, meist jedoch nur in den Ferien besuchen. Auch sonst konnten Schülerinnen und Schüler das Internat nur zu seltenen Anlässen verlassen.
Der Tagesablauf an den Schulen war in der Regel minutiös durchgeplant und die Schülerinnen und Schüler mussten strikte Verhaltensregeln befolgen. Nicht nur das Benutzen von Gebärden stand unter Strafe. Selbst geringfügigstes Fehlverhalten wurde oft drakonisch und nicht selten mit Schlägen oder anderen Formen körperlicher und emotionaler Gewalt sanktioniert. Diese Gewalterfahrungen und die frühe Herausnahme aus der Familie verursachten bei nicht wenigen Schülerinnen und Schülern nachhaltige psychisch-emotionale Probleme, unter denen sie zum Teil noch heute leiden.
Gleichwohl muss festgehalten werden, dass das Ziel der rein lautsprachlichen Erziehung in der Praxis spätestens ab den 1970er-Jahren zunehmend aufgeweicht wurde. Aufgrund des geringen Erfolgs dieser Methode griffen kreative Lehrkräfte immer öfter auf visuelle Kommunikationsmittel wie Bilder, Filme und Fingeralphabete als Alternativlösung zurück. Damit unterwanderten sie den Anspruch eines rein lautsprachlichen Schulunterrichts, der dennoch während der gesamten Zeit der DDR die maßgebende Leitlinie blieb.
Noch vor der Gründung der DDR begannen Gehörlose in der Sowjetischen Besatzungszone, sich lokal und regional zu organisieren und zu vernetzen. Ab den 1950er-Jahren setzten sich taube Aktivisten in der DDR bei den zuständigen staatlichen Stellen für die Gründung eines landesweiten Verbands für schwerhörige und taube Menschen ein. Dabei nutzten sie geschickt die Rhetorik der SED, indem sie etwa darauf verwiesen, dass auch gehörlose „Werktätige“ zum „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR beitrugen. Dem Anliegen stand die SED zunächst ablehnend gegenüber, denn unabhängige Interessenvertretungen waren in der DDR nicht erlaubt. Erst die Erwägung, dass ein solcher Verband auch eine Möglichkeit darstellen würde, die taube Gemeinschaft über loyale SED-Mitglieder in der Verbandsführung zu beobachten und zu kontrollieren, führte zu einem Einlenken der staatlichen Stellen. Am 1. Juni 1957 wurde schließlich der Allgemeine Deutsche Gehörlosen-Verband (ADGV) gegründet, der sich 1973 in Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband der DDR (GSV) umbenannte. Ab Juli 1957 gab der Verband eine eigene Zeitschrift mit dem Titel „Der Deutsche Gehörlose“ heraus, die später in „Deutsche Gehörlosen-Zeitung“ und ab 1974 in „gemeinsam“ umbenannt wurde.
Als staatlich tolerierter Verband blieb der Handlungsspielraum des GSV in der SED-Diktatur freilich begrenzt. Er musste stets den Spagat meistern, einerseits die Interessen tauber und schwerhöriger Menschen zu vertreten und gleichzeitig ideologisch linientreu zu agieren. Dieser Kompromiss zeigt sich deutlich in der Verbandszeitschrift und anderen Schreiben des GSV, in denen regelmäßig die „Errungenschaften des Sozialismus“ gepriesen und Parteifunktionäre geehrt wurden. Auch stellte der GSV den Primat der lautsprachlichen Erziehung gehörloser Kinder nie ernsthaft in Frage – was allerdings auch dem Umstand geschuldet war, dass es lange dauerte, bis taube Menschen in Ost und West selbst begannen, ihre Gebärden als eine eigenständige Sprache zu begreifen. Seit den 1980er-Jahren fand immerhin auch in der „gemeinsam“ eine verstärkte Auseinandersetzung mit Gebärdensprache statt: Den Leserinnen und Lesern wurden Bilder zum Erlernen von Gebärden präsentiert und es wurden Forderungen nach einem Ausbau gebärdensprachlicher Angebote erhoben. Ab 1983 wurde im DDR-Rundfunk eine Fernsehsendung eigens für höreingeschränktes Publikum ausgestrahlt. 1985 gab der GSV ein Lehr- und Übungsbuch der Gebärden Gehörloser heraus.
Trotz der erreichten Verbesserungen für taube Menschen trug die ideologische Angepasstheit des GSV nicht unwesentlich dazu bei, den Verband bei seiner Basis als Repräsentanten der SED-Diktatur zu diskreditieren. Dies wurde während der Friedlichen Revolution schnell deutlich: Bereits im Dezember 1989 trat die gesamte Verbandsführung erzwungenermaßen zurück, was in der Verbandszeitschrift „gemeinsam“ (Jg. 34 (1990), Nr. 1, Umschlaginnenseite) mit einem „erhebliche[n] Vertrauensverlust“ aufgrund von „Mängel[n] in der Leitungsarbeit“ erklärt wurde.
An der Friedlichen Revolution beteiligten sich auch viele taube DDR-Bürgerinnen und -Bürger. Doch auch während dieser Zeit benötigten sie oft die Unterstützung gebärdensprachkompetenter Menschen, um zu verstehen, was in ihrem Land vor sich ging. In der Leipziger Nikolaikirche etwa, wo sich die Menschen vor den abendlichen Montagsdemonstrationen zum Friedensgebet trafen, gab es einen Pastor namens Heinz Weithaas. Er war selbst ein hörendes Kind tauber Eltern und beherrschte Gebärdensprache. Von ihm konnten zahlreiche gehörlose Leipzigerinnen und Leipziger sich die Hintergründe der Proteste erklären lassen. Weithaas fand auch einen Weg, interessierten tauben Menschen die Teilnahme an den Friedensgebeten zu ermöglichen: Die vorderen Sitzreihen wurden für gehörlose Zuschauerinnen und Zuschauer reserviert, so dass sie die Rednerinnen und Redner gut sehen konnten. Weithaas verdolmetschte außerdem für sie die Predigten in Gebärdensprache.
Doch nicht alle tauben Menschen in der DDR hatten das Glück, solche Unterstützung zu erfahren. In den Gehörlosenschulen waren die Kinder mitunter derart isoliert, dass sie von dem Umbruch fast nichts mitbekamen. Sie bemerkten zwar, dass plötzlich die Pionierhalstücher und die Honecker-Porträts aus den Schulen verschwanden, doch die Hintergründe wurden ihnen mitunter gar nicht oder nur unzureichend erklärt. Den Schülerinnen und Schülern fehlte aufgrund der lautsprachlichen Unterrichtsmethode meist wichtiges Hintergrundwissen, ohne welches sie die Ereignisse nicht verstehen konnten. Einige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die 1989/90 nicht älter als 13 waren, berichten sogar, dass sie erst mit erheblicher Verzögerung vom Zusammenbruch der DDR erfuhren oder dass sie mitunter zuvor noch nicht einmal gewusst hatten, dass zwei deutsche Staaten existierten. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie defizitär die lautsprachliche Unterrichtsmethode war.
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