Etwas mehr als ein Jahr nach seiner Gründung trafen sich die Mitglieder des ABiD e. V. zu ihrem zweiten Verbandstag. Wie unter einem Brennglas traten auf dieser Versammlung die Schwierigkeiten beim Zusammenwachsen der ost- und westdeutschen Behindertenbewegung deutlich zutage. 

Dabei ging es um unterschiedliche Herangehensweisen in Fragen des politischen Diskurses, der Ablehnung von Sondereinrichtungen wie Förderschulen oder Werkstätten und schließlich um die Versuche westdeutscher etablierter Sozial- und Behindertenverbände, den ABiD e. V. zu vereinnahmen und als eigenständige politische Kraft zu verhindern.

Die Auseinandersetzungen im Vorfeld des zweiten ABiD-Verbandstags

Besonders an diesem zweiten Verbandstag war, dass hier erstmals auch verstärkt Protagonisten der westdeutschen Behindertenbewegung teilnahmen, die soziokulturell anders aufgewachsen waren als ihre ostdeutschen Pendants. Ihr politischer Kampf dauerte schon länger und hatte zehn Jahre zuvor bei den Protesten anlässlich des internationalen UNO-Jahres der Behinderten 1981 seinen Ursprung, zugleich aber auch seinen damaligen Höhepunkt erreicht. Sie trafen nun auf eine einerseits motivierte, andererseits durch die Folgen der Wiedervereinigung aber auch zutiefst verunsicherte und in organisierter politischer Interessenvertretung noch recht unerfahrene ostdeutsche Bewegung. 

Die daraus resultierenden Spannungen und Diskussionsprozesse sollen anhand der beiden wichtigsten Sprachrohre der jeweiligen Bewegungen, den Zeitschriften „Die Randschau – Zeitschrift für Behindertenpolitik“ und „Die Stütze“ skizziert werden. Sämtliche Ausgaben beider Zeitschriften sind mittlerweile als PDF auf der Website www.archiv-behindertenbewegung.org abrufbar und damit frei verfügbar.

„Die Randschau“ war seit 1986 bundesweit als Publikation der westdeutschen Behindertenbewegung oder – wie sie sich zuweilen noch immer nannte – „Krüppelbewegung“ bekannt. Als Medium der neuen ostdeutschen Behindertenbewegung und als spätere Verbandszeitung des ABiD e. V. fungierte die Zeitschrift „Die Stütze“. Das erste Heft erschien am 12. Januar 1990 und veröffentlichte auf Seite drei den Aufruf zur Gründung eines Behindertenverbands in der DDR. Mitunterzeichner dieses Aufrufes war Dr. Ilja Seifert, der spätere Vorsitzende des neuen Verbands. Der ABiD e. V. gründete sich schließlich zunächst unter diesem Namen am 13. April 1990 im „Pionierpalast“, dem heutigen Freizeit- und Erholungszentrum FEZ in Ost-Berlin. 

Einen ersten Ausblick auf die sich anbahnenden Konflikte gab die Randschau in ihrer Ausgabe 1/1991, die sich schwerpunktmäßig mit einer Bestandsaufnahme der Behindertenbewegung als solche, zehn Jahre nach dem internationalen UNO-Jahr, befasste. Unter der Teilüberschrift „Bewegung im Osten“ hieß es dort unter anderem: 

„Der in den letzten Ausgaben der Randschau gelobte Allgemeine Behindertenverband – ABiD e. V. – krankt zum einen an den vielfältigen Angriffen seiner GegnerInnen, die versuchen, ihn in der Öffentlichkeit als PDS-Gruppierung zu diffamieren. Allen voran fungieren der ‚REICHSBUND‘ [heute: Sozialverband Deutschland, Anm. d. Autors, Hervorhebung im Original], der Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderte (BSK) und der ‚Verband der Kriegsopfer, Behinderten-, Hinterbliebenen- und Sozialrentner e. V. (VdK)‘ als Zwietrachtsäer; diese möchten den ABiD lieber heute als morgen aufgelöst sehen. Zum anderen verfügt der ABiD, der erst vor einem knappen Jahr von Behinderten aus den FNL [Fünf Neuen Ländern, Anm. des Autors] aus dem Boden gestampft wurde, über strukturelle Defizite, die es ihm schwer machen, den Anspruch der Basisdemokratie auf allen Ebenen einzulösen.“ (Die Randschau, 6. Jg., Nr. 1, März/Mai 1991, S. 9.)
 

Der Streit um die Ziele und Ausrichtung des ABiD e. V.

In ihrer zweiten Ausgabe des Jahres 1991 berichtete die Randschau dann breit über den Verbandstag des ABiD e. V. im Mai 1991. Dabei plädierte Michael Eggert, Mitglied der Alternativen Liste und Ende der 1980er-Jahre erster Rollstuhlfahrer im West-Berliner Abgeordnetenhaus, in einem Artikel leidenschaftlich für eine Zusammenarbeit mit dem ABiD und der ostdeutschen Behindertenbewegung: 

„Machen wir uns nichts vor, wir müssen neu anfangen und können nicht dort weitermachen, wo wir unseren Konsens gefunden hatten. Wer glaubt, unsere provinzielle Kuschelecke im Westen war schon hart genug erkämpft und noch längst nicht bequem genug, wird sich nicht nur geistig auf die Socken machen müssen; wer glaubt, die im Osten sollen doch selber sehen, wie weit sie mit ihren Vorstellungen kommen, wird selber im eigenen Saft schmoren und erleben, wie die Ostler gegen uns ausgespielt werden.“ (Die Randschau, 6. Jg., Nr. 2, Juni/Juli 1991, S. 10-12, hier S. 12.)

Die Stütze selbst berichtete breit in ihrer Doppelausgabe 11/12 vom zweiten Verbandstag. In unterschiedlichen Beiträgen wurden die zum Teil leidenschaftlich diskutierten Konfliktpunkte in Bezug auf die Ausrichtung der zukünftigen Verbandsarbeit beleuchtet. Dabei ging es zum einen um eine Quote im Vorstand, dessen Posten zwischen Menschen mit Behinderungen und deren Angehörigen aufgeteilt werden sollten, sowie zum anderen um die Zukunft von Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Insbesondere die Vertreter aus den westdeutschen Bundesländern brachten aus ihrem langjährigen politischen Kampf um die Rechte und Selbstbestimmung von Behinderten andere Erfahrungen mit als die Delegierten aus den fünf neuen Bundesländern. 

Schutzräume oder Sonderwelten?

Anders als in der Bundesrepublik gab es in der DDR keine Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Vielmehr wurden diese in sogenannten geschützten Bereichen innerhalb der regulären Betriebe integriert. Daneben bezogen viele Menschen mit Behinderungen eine Invalidenrente. Grundsätzlich sah der Einigungsvertrag vor, dass es behinderten Menschen in der DDR nach dem Beitritt nicht schlechter gehen sollte als vorher. Dennoch befürchteten viele ostdeutsche Delegierte, dass sie ihre Arbeitsplätze verlieren würden. Auch die möglicherweise drohende Auflösung der geschützten Bereiche bzw. die Kritik an diesen Sondereinrichtungen konnten manche aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen nicht nachvollziehen. Beispielhaft hier der von Waltraud Jähnichen in der Stütze verfasste Bericht über den Delegierten Bernd Knabe: 

„Er [Bernd Knabe, Anm. d. Autors] ist jetzt 31, Hilfspfleger und seit dem 10. Lebensjahr krank. Sein Wunsch war es, im Gesundheitswesen zu arbeiten. Eigene Probleme, meint er, sind die besten Voraussetzungen, andere zu verstehen und zu helfen. Die zuständigen Stellen verweigerten ihm die Tätigkeit. Epileptiker dürfen auf diesem Gebiet nicht arbeiten. (...) Bernd Knabe schickte man in den Forst. Erst nach mehreren Unfällen sah man ein, das war keine Lösung. Eine Einstellung in seinen ‚Traumberuf‘ erfolgte endlich. Es blieb beim Traum. Man beschäftigte ihn als Haus- und Hofarbeiter. Der Leiter warnte ihn: Sollte sich Bernd weiter so für seine Rechte einsetzen, würde er ihn bei der kleinsten Verfehlung ‚entfernen‘. Was folgte, liegt auf der Hand: Hänseleien, keine Einbeziehung ins Kollektiv, kein fester Aufenthaltsplatz, Isolierung beim Essen, Frühstück gewöhnlich im Keller. Bernd: ‚Ich war der letzte Dreck‘. Versuche, eine Selbsthilfegruppe aufzubauen, wurden erst nach der Wende möglich. Obwohl er einen geschützten Arbeitsplatz hatte, setzte man ihn Ende 1990 auf Warteschleifen. Die erlittenen Demütigungen ließen ihn die Nerven verlieren. Er kündigte selbst. ‚Zum Glück‘ bezieht er seit 1982 Invalidenrente und hat Aussicht auf einen Platz im Rehazentrum Oehrenfeld /Außenstelle Behindertenwerkstatt. Er wird auch in das dortige Wohnheim umziehen und hofft auf die Annahme seiner Person als Behinderter unter Behinderten. Ich konnte ihn verstehen. Die Degradierung zum Menschen 3. Klasse hält auf die Dauer keiner aus.“ (Die Stütze, 2. Jg., Nr. 11+12/91, 10. Juni 1991, S. 8-9.)

Diese Schilderung spiegelte die Erfahrungen vieler Menschen mit Behinderungen in der damaligen Umbruchszeit wider. Die von der westdeutschen Behindertenbewegung abgelehnten und seit Jahren bekämpften Sonderwelten verteidigten die ostdeutschen Aktivisten jetzt als Schutzraum gegen eine als oft unsolidarisch und nur dem Profit dienend empfundene westdeutsche Wirtschafts- und Sozialordnung.

Dr. Ilja Seifert: Gründungspräsident des ABiD e. V.

Nach heftigen Debatten wurde die Satzung des neuen Verbands mit großer Mehrheit, ergänzt um zwei Entschließungen zur freien Wahl des Wohnens, Arbeitens und Lernens sowie zur Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen, auf allen Ebenen verabschiedet. Die Ergänzungen waren durch den wiedergewählten Präsidenten Dr. Ilja Seifert angeregt worden, um die unterschiedlichen Positionen miteinander zu versöhnen – eine große Integrationsleistung des Verbands, der noch heute eine bedeutsame Kraft der gesamtdeutschen Behindertenbewegung ist. [1]

Seifert, selbst auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen, gehörte als Mitglied der PDS der ersten frei gewählten Volkskammer an. Später zog er für die PDS in den Bundestag ein, dem er mit Unterbrechungen von 1990 bis 2013 angehörte. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) führte ihn in den 1980er-Jahren als Inoffiziellen Mitarbeiter (IM). Im Gegensatz zu anderen ehemaligen IM verleugnete er dies nicht, distanzierte sich aber später von seiner und jeder geheimdienstlichen Tätigkeit. Gleichwohl wurde seine Zusammenarbeit mit dem MfS auch verbandsintern stark kritisiert und auf dem dritten Verbandstag kandidierte er nicht mehr für den Vorsitz. Er wurde später Ehrenpräsident des ABiD e. V. Ilja Seifert starb am 10. September 2022. [2]

In einem Interview aus dem Jahr 1991 zog Seifert folgendes Fazit vom zweiten Verbandstag: „Das Wesentlichste ist für mich die Tatsache, daß wir die Kraft bewiesen haben, Konflikte auszutragen. Weder wurden Unterschiede in den Ansichten verkleistert, noch wurden sie durch ‚Mehrheiten‘ pseudodemokratisch weggestimmt. Am Ende ging der ABiD aus diesem 2. Verbandstag – dem 1. gesamtdeutschen – gestärkt hervor.“ (Die Stütze, 2. Jg., Nr. 11+12/91, 10. Juni 1991, S. 11-13, hier S. 13.)

Fußnoten

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