Biographische Angaben aus dem Handbuch der Deutschen Kommunisten:
Geboren am 17. Juli 1867 in Wilna, stammte aus einer sehr reichen jüdischen Familie. Er war knapp drei Jahre älter als Lenin, begann aber sechs Jahre vor diesem 1885 seine revolutionäre Tätigkeit in der russischen Arbeiterbewegung. In verschiedenen russisch-polnisch-jüdischen Arbeiterorganisationen aktiv, blieb Jogiches zeitlebens für sein konspiratives Geschick bekannt. Er gehörte der Volkstümler-Gruppe an, die 1887 ein Attentat auf den Zaren plante (weswegen Lenins Bruder Alexander hingerichtet wurde). Jogiches selbst war innerhalb der Arbeiterbewegung stets ein Gegner Lenins, er lehnte vor allem dessen Zentralismus-Theorie ab, ebenso die Agrarkonzeption und die Ansichten zur nationalen Frage. In Wilna war Jogiches in der ersten marxistischen Gruppe der russischen Arbeiterbewegung, wurde 1889 verhaftet und zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, danach floh er im Juni 1890 in die Schweiz. Dort trat er in Verbindung zu Georgi Plechanow, dem Nestor des russischen Marxismus. Um (gemeinsam mit Alexander Parvus-Helphand und David Rjasanow) die »Sozialdemokratische Bibliothek« herauszugeben, brachte er bedeutende Finanzmittel in einen Verlag ein. In Zürich lernte Jogiches Rosa Luxemburg kennen, mit der ihn bald ein Liebesverhältnis verband. Von Zürich aus gehörte Jogiches 1894 (er hatte die verschiedensten Pseudonyme, das bekannteste war Tyszka) zu den Gründern und Führern der Sozialdemokratie des Königreichs Polen. Seit 1899 Schweizer Staatsbürger, übersiedelte er auf Wunsch Rosa Luxemburgs, die seit 1898 in Deutschland lebte und ihn dazu gedrängt hatte, 1900 nach Berlin. Beide wirkten nun aktiv in der polnisch-russischen Sozialdemokratie, Rosa Luxemburg aber besonders in der SPD. Nach Ausbruch der russischen Revolution 1905 ging Jogiches zusammen mit Rosa Luxemburg nach Warschau, um dort die Revolution gegen den Zarismus zu unterstützen. Beide wurden am 6. März 1906 inhaftiert, aber während Luxemburg im Sommer entkommen konnte, wurde Tyszka im Dezember 1906 zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ihm gelang dann im April 1907 die Flucht und Rückkehr nach Deutschland. Im Jahr 1907 war die Lebensgemeinschaft zwischen Jogiches und Luxemburg beendet, sie lösten zwar ihre Liebesbeziehungen, aber keineswegs ihre engen politischen Bindungen. Über das schwierige persönliche Verhältnis geben vor allem ihre Briefe Auskunft. Beider Wohnung in Berlin-Friedenau mit Bibliothek, Archiv und Arbeitsplatz blieb zunächst gemeinsames Zuhause, bis Rosa Luxemburg 1911 nach Berlin-Südende umzog. Im Mai 1907 nahm Jogiches am Parteitag der russischen Sozialdemokratie in London teil und wurde dort in das ZK der SDAPR gewählt. Von Berlin aus leitete er die inzwischen Sozialdemokratische Partei des Königreichs Polen und Litauens genannte Partei (SDKPiL) und ihre illegalen Zeitungen, er wurde aber wegen seines autokratischen Führungsstils in der illegalen Organisation isoliert, die Auseinandersetzungen mit Lenin und dessen Anhängern verschärften sich. In Berlin lebte Jogiches zurückgezogen. Bei Ausbruch des Weltkrieges zählte er als Internationalist sofort zu den linken Kriegsgegnern in der SPD. Er wurde zum eigentlichen Organisator und nach der Inhaftierung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts 1915/16 Führer der Gruppe Internationale bzw. der Spartakusgruppe. Jogiches’ große Organisationsfähigkeit und die Kenntnisse in der konspirativen Tätigkeit ermöglichten es ihm, die kleine illegale Gruppe zu leiten sowie den Druck und Vertrieb ihrer Schriften – vor allem der »Spartakusbriefe« – zu organisieren. Im »Neudruck« der »Spartakusbriefe«, 1920 von der KPD herausgegeben, hieß es: »Genosse Leo Jogiches hatte die redaktionelle und technische Zusammenstellung bis zu seiner Verhaftung im Frühjahr 1918 in Händen«, er habe sein »außergewöhnliches Talent als Organisator und Redakteur« bewiesen. Unter den Pseudonymen Krumbiegel und Kraft war er der Motor der Spartakusgruppe, unterstützt von Mathilde Jacob und anderen. Er führte die Spartakusgruppe zentralistisch, um sie auf feste, internationalistische Positionen zu bringen. Dabei verfolgte er rabiat seine eigenen politischen Überzeugungen und änderte als Redakteur der »Spartakusbriefe« sogar Artikel von Genossen in seinem Sinne. Er setzte sich auch mit seiner Vorstellung durch, nicht Spaltung der SPD sei die »Parole«, sondern »Zurückerobern der Partei von unten«. Da er gegen die Spaltung der Arbeiterbewegung auftrat, ging die Spartakusgruppe 1917 auch in die USPD und lehnte das Streben der Bremer Linksradikalen ab, eine eigene Partei zu bilden. Während des Berliner Munitionsarbeiterstreiks im März 1918 konnte die Polizei Jogiches, den sie schon lange fieberhaft suchte, in Berlin verhaften, er saß bis zur Novemberrevolution im Gefängnis. Sofort nach der Revolution wurde Jogiches zum Organisator des Spartakusbundes, als Mitglied der Zentrale hatte er maßgeblichen Anteil sowohl an den programmatischen Aussagen als auch am organisatorischen Zusammenhalt und Ausbau der Gruppe. Jogiches’ überragende Rolle im Spartakusbund umschrieb sein innerparteilicher Gegner Karl Radek so: »Durch sein Zimmer im Büro des Spartakusbundes marschierte tagtäglich die ganze Partei durch. Jeder Delegierte von der Provinz wurde in diese Retorte gebracht und kam mit der Meinung je nach seinem Temperament heraus, daß entweder die Parteiorganisation sich in ausgezeichneten Händen befinde oder daß sie unter einer Diktatur ächze.« Freilich waren inzwischen im Gegensatz zu Jogiches viele Spartakusführer und vor allem -anhänger von der Politik Lenins und der Bolschewiki überzeugt und drängten auf die Bildung einer selbständigen Partei. Jogiches war sich mit Rosa Luxemburg nicht nur in der Kritik an der Russischen Revolution sowie der Strategie von Lenin und Trotzki einig, sondern wandte sich auch gegen den Austritt des Spartakusbundes aus der USPD. Mit seinen Organisationsvorstellungen scheiterte er jedoch auf der Vorkonferenz des Bundes am 29. Dezember 1918 in Berlin. Dort wurde gegen drei Stimmen (Leo Jogiches, Karl Minster und Werner Hirsch) die sofortige Bildung einer eigenen Partei beschlossen. Auch bei der Namensgebung auf ihrem Gründungsparteitag konnte sich Jogiches nicht durchsetzen. Gemeinsam mit Rosa Luxemburg hatte er in der Sitzung der Zentrale des Spartakusbundes vorgeschlagen, sie »Sozialistische Partei« zu nennen, um damit die Verbindung zu den Massen wie auch die Abgrenzung von Lenin zu demonstrieren. Für »Sozialistische Partei« votierten nur drei Spartakusführer, aber vier waren für »Kommunistische Partei« ( Paul Levi enthielt sich der Stimme mit der Begründung, ihm sei es gleichgültig, wie die Partei sich nenne). Der Gründungsparteitag der KPD wählte Jogiches zwar in die Zentrale, doch der Kongreß war für ihn eine Niederlage und intern kritisierte er dessen Ergebnisse heftig. Aber nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 trat er sofort wieder an, um die KPD zu leiten. Bereits am 10. März 1919 wurde auch Leo Jogiches verhaftet und am gleichen Tag in einer Zelle im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit ermordet.
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