In ihrer Begrüßung der Gäste zur Geschichtsmesse 2024 in Suhl ist Direktorin Dr. Anna Kaminsky auf Chancen und Herausforderungen bei der Gestaltung der Erinnerungskultur eingegangen.
„Zum einen sind seit dem Ende der zweiten Diktatur in Deutschland mittlerweile 35 Jahre vergangen. Für die jungen Generationen liegt diese Zeit sehr weit zurück. Sie stellen neue Fragen. Zum anderen sind Millionen Menschen nach Deutschland gekommen, die wiederum ihre Erfahrungen und Einstellungen mitbringen. Durch diese Vielfalt dürfen die Bewertungsgrundlagen historischer Ereignisse und die durch das Grundgesetz gesetzte Wertebasis aber nicht relativiert werden.“
Dr. Kaminsky warnte vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse davor, antisemitische und antiisraelische Kampagnen zu legitimieren und betonte, dass antidemokratischen Positionen begegnet werden muss, egal von wem sie geäußert werden.
Die Bundesstiftung Aufarbeitung freut sich auf lebendige, aufschlussreiche Debatten und gute Gespräche auf der Geschichtsmesse 2024!
Begrüßung von Dr. Anna Kaminsky
Ich freue mich, Sie zu unserer 16. Geschichtsmesse begrüßen zu können. Seien Sie herzlich willkommen.
Die Geschichtsmesse will in diesem Jahr „neue Perspektiven auf die Aufarbeitung von Diktaturen in Deutschland und Europa“ eröffnen. Ich will dazu im Folgenden sechs Thesen formulieren.
Viel zu lange ist die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit zumeist in zwei separaten Bahnen verlaufen – der Aufarbeitung des Nationalsozialismus auf der einen Seite und der Auseinandersetzung mit den kommunistischen Diktaturen auf der anderen. Die Gründe für die Segmentierung unserer Erinnerungskultur sind vielfältiger Natur. Sie negiert den Umstand, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein Gewebe aus vielen Fäden ist, die miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen.
These 1
Es ist an der Zeit, die Barrieren zwischen der Aufarbeitung verschiedener Diktaturen zu überwinden, um Parallelen und Verflechtungen sowie selbstredend die Unterschiede zwischen den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen und zu erkennen, dass die Aufarbeitung der einen ohne die andere unvollständig bleibt.
Der 7. Oktober 2023 hat zudem die dringende Notwendigkeit unterstrichen, eine klare und unmissverständliche Haltung (nicht nur) in unserer Erinnerungskultur einzunehmen.
Die abscheulichen Bilder des mörderischen Hamas-Terrors, begleitet von erschreckenden Reaktionen innerhalb von Teilen der migrantischen Communities stellen eine Zäsur dar, die wir nicht ignorieren dürfen. Noch besorgniserregender ist die Beobachtung, dass diese Ereignisse von einer Form des Antisemitismus flankiert werden, der sich schon länger in akademischen und kulturellen Kreisen breitmacht und sich auch in einer unerträglichen Rhetorik gegen Israel manifestiert – nicht zuletzt auf der Berlinale.
Es ist unerlässlich, dass wir in der Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit eine Prioritätensetzung vornehmen, die die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der kommunistischen Diktaturen weiterhin in den Mittelpunkt stellt. Natürlich müssen wir uns auch der kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte und der Verbrechen stellen. Gleichzeitig müssen wir wachsam gegenüber Versuchen sein, die Kolonialismusdebatte zu überhöhen und letztlich zu instrumentalisieren.
These 2
Die Erinnerungskultur in Deutschland muss ihre Prioritäten auch weiterhin auf die NS- und Kommunismusgeschichte setzen. Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus darf nicht dazu benutzt werden, die einzigartigen Verbrechen des NS und das Unrecht der kommunistischen Diktatur und unsere damit einhergehende Verantwortung zu relativieren.
Das Auftaktpodium zur Geschichtsmesse warnt vor einer Erinnerungspraxis, die das Vergangene in einer rigiden Form konserviert, es einer musealen Statik unterwirft, die wenig Raum für Revisionen oder alternative Lesarten lässt.
Mag sein, dass es zu weit geht, von einer „versteinerten Geschichte“ zu sprechen. Vielleicht ist das Bild einer in Aspik eingekapselten Geschichte treffender, die so einerseits formbar erscheint, andererseits aber einer spezifischen Deutung verhaftet bleibt.
Im Kontrast dazu fordert der Titel des Auftaktpodiums eine „Dynamische Erinnerung“, die für eine flexible und entwicklungsoffene Geschichtsbetrachtung plädiert. Dieser Ansatz versteht die Erinnerung als lebendigen Dialog mit der Gegenwart und könnte so die Integration neuer Erkenntnisse und Perspektiven befördern. Denn jede Generation stellt neue Fragen an die Vergangenheit und revidiert dabei auch vormalige Geschichtsbilder.
These 3
Bei der Bewältigung der kommunistischen Herrschaft und der Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutschen Einheit seit 1990 sollten wir mehr denn je individuelle Erinnerungen als auch die Erfahrungen verschiedener Gruppen zu Gehör bringen.
Wenn es uns gelingt, die persönlichen Geschichten mit der allgemeinen Geschichte zu verknüpfen, wird Vergangenheit nicht nur besser verständlich, es lässt sich auch leichter darüber sprechen - auch über Generationen hinweg. Wenn wir einerseits versuchen, die Geschichte aus vielen verschiedenen Perspektiven zu sehen, dürfen wir andererseits nicht vor dieser Vielfalt der sich nicht selten widersprechenden Erinnerungen und Erfahrungen kapitulieren. Vielmehr wird es unsere Aufgabe in der historischen-politischen Bildung sein, einen Konsens in der Bewertung historischer Ereignisse und Entwicklungen anzustreben und immer wieder deutlich zu machen, was die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur sind.
Eine schmerz- und zumutungsfreie Erinnerungskultur, die sich eben gerade nicht Relativierungsversuchen anbiedert, wird es nicht geben können angesichts der begangenen Verbrechen und des Unrechts sowie des Leids der Opfer und Betroffenen.
These 4
Die Geschichtsaufarbeitung sollte der Vielfalt der Erinnerungen mehr Raum bieten, ohne dabei die Suche nach gemeinsamen Bewertungsgrundlagen historischer Ereignisse zu vernachlässigen.
Die Vielfalt der Identitäten wird durch die Zuwanderung nach Deutschland beträchtlich erweitert.
Allerdings sind in unserem Land weder Alteingesessene noch Neubürger dazu verpflichtet, sich für Geschichte zu interessieren. So ist es die Bringschuld von uns politischen Bildnern, Angebote zu schaffen, die Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus und der kommunistischen Herrschaft, von Krieg und Gewalt wecken. Auch hier dürfte ein Schlüssel darin liegen, die persönliche Geschichte der Zuwanderer mit der kollektiven Geschichte zu verknüpfen.
Viele Menschen, die zu uns gekommen sind und teilweise seit Jahrzehnten hier leben, bringen ihre eigenen Erlebnisse mit Diktaturen, Gewalt, Krieg und Flucht mit, deren Wurzeln nicht selten bis in den Zweiten Weltkrieg oder den Kalten Krieg zurückreichen.
Diese Erfahrungen sind bisher unterrepräsentiert, bereichern die Diskussion und sind unbedingt ernst zu nehmen. So ernst, dass man falschen historischen Aussagen oder Relativierungen von Diktaturen, die aus diesen Kontexten stammen, genauso vehement widersprechen sollte, wie es bei Menschen ohne Migrationshintergrund Praxis ist.
Und die Mehrheit der seit 2015 zu uns gekommenen Menschen bringt zudem Erfahrungen aus sozialistischen Diktaturen mit. Wenn diese Erfahrungen in der historischen Bildungsarbeit abgerufen werden, können sie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis historischer Zusammenhänge und zur Herausbildung einer vielfältige, vielstimmigen und zugleich gemeinschaftlichen Erinnerungskultur leisten.
These 5
Indem wir die persönlichen Erfahrungen von Zuwanderern mit Diktatur, Krieg und Flucht in die Aufarbeitung der NS- und DDR-Geschichte integrieren, schaffen wir eine Brücke zwischen individuellen Erlebnissen und der kollektiven Historie.
Tja, und dann ist da der Evergreen von der unzureichenden Repräsentanz der Ostdeutschen in Führungspositionen, über die u.a. am Samstag diskutiert wird. In der Debatte des letzten Jahres hat Dirk Oschmann die Marginalisierung gerade auf DIE Ostdeutschen zugespitzt. Was immer von diesen Thesen im Einzelnen zu halten ist, die Frage der unzureichenden Repräsentanz von Ostdeutschen ist ein Wiedergänger. Ich will hier gar nicht die Debatte darüber aufmachen, wer heute fast 35 Jahre nach dem Ende der DDR eigentlich „Ost“ ist ... Aber weder das Westbashing noch die Auflösung unserer Gesellschaft in immer kleinere Identitätsgemeinschaften, die ihre Interessen scheinbar nur gegeneinander durchsetzen können, wird unserer vielfältigen Gesellschaft, die eine gemeinsame Wertebasis haben sollte, gerecht.
Manchmal ist sogar von der Kolonisierung des Ostens die Rede und je mehr Zeit ins Land geht, desto blühender erscheint in der Rückschau die DDR-Wirtschaft, die – so die Autosuggestion – nach 1990 auf dem Altar westdeutscher Profitinteressen geopfert worden ist. Meine Damen und Herren, Sie merken an meiner Wortwahl, dass ich zu diesen Themen eine dezidierte Meinung habe, mit der ich den Diskussionen nicht weiter vorgreifen möchte. Und um Missverständnisse zu vermeiden: Auch ich reagiere gereizt, wenn der Osten vor allem als Problemzone beschrieben und der Eindruck vermittelt wird, der gemeine Ossi sei besonders anfällig für Populismus bzw. Extremismus jedweder Couleur. Wenn im reichen Baden-Württemberg rund zwanzig Prozent für die AfD stimmen würden und am Marxschen Diktum, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, irgendetwas dran sein sollte, dann relativieren sich die 30 oder 35 Prozent, mit denen die AfD im Osten rechnen darf.
These 6
Die Wahrnehmung Ostdeutschlands als "Problemzone" und die Vorstellung der Ostdeutschen als Opfer westdeutscher Interessen bedarf einer kritischen Reflexion, um die vereinfachenden Narrative zu durchbrechen, die seit den 1990er Jahren zu Klischees erstarrt sind und DIE Ostdeutschen als “Opfergemeinschaft“ wahrnimmt.
Zeiten überbordender politischer Kontroversen und scharfer Lagerbildung geben jenen Auftrieb, die ihre Meinungen und Überzeugungen durch Ge- oder Verbote durchsetzen wollen. Wer wie ich die DDR als Jugendliche und junge Erwachsene erlebt hat, erinnert sich recht gut, daran, wie bis 1989 Themen tabuisiert und Meinungen vorgegeben waren. Umso allergischer reagiere ich auf Forderungen, dieser oder jener Position oder Person keinen Raum bzw. Stimme zu geben. Grundlage dafür ist, wieder einmal, was an roten Linien durch unser Grundgesetz als gemeinsame Wertebasis vorgegeben ist.
Angesichts der Demokratieverachtung, die in den letzten Monaten von vielen Seiten so sichtbar zu Tage getreten ist, scheint es mir wichtig, daran zu erinnern, dass wir - wie es unser Stiftungsgesetz vorsieht - den antitotalitären Konsens fördern. Vielleicht sollten wir, die wir uns in der politisch-historischen oder schulischen Bildung engagieren, zur besseren Verständlichkeit von einem antiextremistischen Konsens sprechen, der demokratische Prinzipien hochhält - unabhängig davon, wer demokratieverachtende Positionen vertritt oder der Meinung ist, dass ein vermeintlich „guter Zweck“ die Mittel heiligt. Mit zweierlei Maß zu messen, je nachdem, ob man mit bestimmten Positionen übereinstimmt oder nicht, schadet unserer demokratischen Kultur und dem Ansehen demokratischer Institutionen. Und wir alle wissen, dass Vertrauen in die demokratischen Institutionen die Währung der Demokratie ist und dass Vertrauen schnell verspielt, aber nur langsam wieder aufgebaut werden kann.
Sehen wir gemeinsam zu, auch in Zukunft miteinander im Gespräch zu bleiben und dem jeweils anderen zuzuhören, ohne sich mit antidemokratischen Positionen egal welcher Herkunft gemein zu machen.
Und damit sind wir in Suhl – dem jährlichen Zentrum der Aufarbeitung angekommen: 2006 hatten die Bundesstiftung Aufarbeitung, die Bundeszentrale für politische Bildung und das Institut für Zeitgeschichte zur Deutschlandforschertagung auf den Ringberg eingeladen. Zwei Jahre später war die erste Geschichtsmesse der Vorbereitung des 20. Jahrestags der Friedlichen Revolution gewidmet. Der Ringberg wird seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten jedes Frühjahr zum Zentrum der Aufarbeitung, in dem Platz für kontroverse Positionen und Biographien ist, wo Opfer der SED-Diktatur mit Respekt und Empathie begrüßt werden und die diesen Respekt auch einem Stammgast wie dem Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow von der Linkspartei erweisen. Der Ringberg ist unser aller Ort der Aufarbeitung, im Herzen von Deutschland gelegen, von Hamburg, München und Berlin gleich gut (oder schlecht) zu erreichen und wir werden von diesem Ort nicht lassen, nur weil hier jüngst Gäste beherbergt wurden, deren Auffassungen die meisten von uns nicht teilen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verteidigen unsere Demokratie nicht mit erhobenen Zeigefingern, sondern nur durch die Kraft unserer Argumente. Um die zu Gehör zu bringen, müssen wir unsere Blasen verlassen und zum Beispiel nach Suhl auf den Ringberg reisen. Ich heiße Sie noch einmal herzlich willkommen und wünsche uns allen anregende Vorträge, Diskussionen und Projektpräsentationen – getreu unserem Motto: „Wir müssen reden“!