Gerd Poppe ist gestorben. Er gehörte zu jener kleinen Gruppe von Frauen und Männern, die seit den 1970er Jahren in der DDR beharrlich gegen die kommunistische Diktatur aufbegehrten – mit Worten, mit Haltung, mit persönlichem Risiko. Er war Mitgründer oppositioneller Gruppen, wurde verhaftet, ließ sich nicht einschüchtern. Poppe stand für eine Opposition, die gewaltfrei, prinzipientreu und zukunftsgewandt war. Viele Nachrufe werden sich auf diese Zeit konzentrieren – zu Recht. Wir möchten an dieser Stelle an das erinnern, was danach kam – an einen Demokraten, der sich auch nach 1990 nicht zurückzog, sondern weiter Verantwortung übernahm.

Denn Poppe war, was selten ist, ein Bürgerrechtler, der nicht nur wusste, wofür er eintritt, sondern auch, wofür er es weiterhin tut. Wer nach dem Jahr 1990 auf seine Biografie blickt, entdeckt keine Marginalien, sondern die eigentliche Hauptsache. Über einen Zeitraum von 35 Jahren – mehr als die Hälfte seines Erwachsenenlebens – lebte Poppe in einem demokratischen Gemeinwesen, das er aktiv mitgestalten wollte. Dass er dies mit leiser Stimme tat, mindert nicht seine Wirkung. Im Gegenteil.

Als erster Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe, als außenpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, als kritischer Chronist der internationalen Ordnungspolitik und nicht zuletzt als jahrzehntelanges Mitglied im Vorstand der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, hat Poppe Maßstäbe gesetzt. Er war ein Mann der klaren Prinzipien und zugleich der stillen Vermittlung. Ein dissidentischer Diplomat, der mit Diktatoren das offene Wort nicht scheute – und sich doch dem Lärm verweigerte.

In seiner Zeit bei der Bundesstiftung war Poppe kein Aushängeschild, sondern ein Fundament. Sein Engagement war weniger spektakulär als zuverlässig. Er bestand darauf, dass Erinnerung keine Folklore sei und Aufarbeitung keine Einbahnstraße. Dass der Westen mit sich selbst genauso streng sein müsse, wie mit anderen – und dass Menschenrechte nicht verhandelbar sind, auch dann nicht, wenn wirtschaftliche Interessen flüstern.  Zugleich war er ein Anwalt der bürgerschaftlichen Diktaturaufarbeitung, warnte davor, akademische Perspektiven zu verabsolutieren. Wer seine Redebeiträge in Stiftungsgremien erlebte, spürte eine Autorität, die aus Erfahrung erwachsen war – und aus Integrität.

Es gehört zur Realität des Umbruchs in der DDR, dass sich viele DDR-Bürgerrechtler nachdem am 3. Oktober 1990 wieder ins Private zurückzogen, sei es, weil die verfluchte Diktatur endlich überwunden war oder weil sie mit dem Politikbetrieb des vereinten Deutschlands fremdelten. Hier beginnt in den Biographien die „Zeit danach“ – ein Nebensatz, ein Kürzel, eine Aufzählung. Bei Poppe ist es umgekehrt. Seine demokratische Lebensleistung beginnt da, wo andere sich ins Private zurückzogen. Er war ein Wanderer zwischen den politischen Welten: zwischen Ost und West, Regierung und Opposition, Zivilgesellschaft und Institution. Dabei blieb er unangepasst – ein Wort, das zu oft missbraucht wird, aber bei ihm zutraf.

In einer Laudatio hätte er vielleicht den Hinweis auf seine eigenen Verdienste mit einem leisen Lächeln überhört. In einem Nachruf ist er unausweichlich. Gerd Poppe war nicht nur ein Mann der Opposition gegen die kommunistische Diktatur. Er war ein Demokrat der zweiten deutschen Republik, der seine Herkunft nicht zur Distinktion, sondern zur Verpflichtung machte. Wer sich an ihn erinnert, darf nicht bei den 1980er Jahren stehenbleiben. Es wäre eine Form der Verharmlosung, ihn auf das Etikett „Bürgerrechtler“ zu reduzieren, das im öffentlichen Diskurs allzu oft zum Ehrenabzeichen geronnen ist.

Poppe hat gezeigt, dass der Kampf für Menschenrechte nicht mit dem Ende der Diktatur endet. Dass Demokratie tägliche Mühe bedeutet. Und dass politische Würde nicht in der Lautstärke liegt, sondern in der Standfestigkeit. Der stille Ernst seiner Arbeit war der Ausdruck eines freiheitlichen Ethos, das nicht vergeht.

Gerd Poppe ist am 29. März 2025 verstorben. Die Bundesstiftung Aufarbeitung verliert mit ihm nicht nur einen Mitgründer, sondern einen klugen, diskreten und beharrlichen Mitgestalter. Und wir alle verlieren einen Menschen, der gezeigt hat, wie lang der Weg der Aufklärung sein muss – und wie lohnend er ist.

 

Anna Kaminsky