Auf der diesjährigen Zeitgeschichtlichen Sommernacht der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sprach Professor Alfred Grosser über die doppelte Diktaturerfahrung in Deutschland in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen. Dabei würdigte Grosser ausdrücklich, dass Günter Grass bedauert hat, einerseits der Waffen-SS beigetreten, andererseits darüber geschwiegen zu haben. „Nicht alle seien zum aufrichtigen Bedauern in der Lage.“ So hätte Stefan Heym beispielsweise seine Diffamierungen der Aufständischen vom 17. Juni 1953 nie zurückgenommen.

Grosser betonte, dass die kommunistische Diktatur die Folge der faschistischen gewesen sei. „Vergleichen ist unbedingt notwendig,“ so Grosser. Ein Vergleich sei keine Relativierung, es diene vielmehr dazu, die Schrecken und Verbrechen deutlich zu machen und „das Verstehen der Leiden der Anderen“ zu befördern. Dies habe auch die Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen möglich gemacht.
„Die DDR war zwar weder die Sowjetunion noch Maos China … aber ein totalitäres Regime, von dem viele Menschen bis heute nicht wissen, in welchem Namen diese Diktatur durchgeführt wurde,“ so Grosser weiter. Die wichtigste Aufgabe sei deshalb die umfassende Aufarbeitung aller stalinistischen Verbre-chen.

„Die Meisterung der Vergangenheit geschieht in kritischer Distanz zu sich selbst,“ stellte Grosser weiterhin fest und kritisierte Erika Steinbachs Äußerung, ‚Auch die Polen haben gelitten’ als „eine Verniedlichung vom Leiden Polens“. Die genannten Zahlen der Vertriebenen in der aktuellen Ausstellung „Erzwungene Wege“ des Bundes der Vertriebenen seien „forciert und übertrieben“ und gleichsam fehle der Ausstellung jeder Hinweis, dass Vertreibungen von Deutschen in Osteuropa ohne Hitlers Aggressionspolitik und vorangegangene deutsche Verbrechen nicht zu denken sind.

Rainer Eppelmann, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Aufarbeitung und Gastgeber der Sommernacht, fand deutliche Worte für schwelende Diskussion um den Status von Opfern beider deutscher Diktaturen: „Eine Hierarchisierung der Leiden unschuldiger Opfer des NS- und des SED-Staates in Opfer erster und zweiter Klasse darf es nicht geben. Sowohl Nachordnung wie Gleichsetzung verbieten sich vor allem im Gedenken an das individuelle Leid der Opfer bei-der Diktaturen.“

Im anschließenden Gespräch zwischen Bundestagspräsident Norbert Lammert und Professor Grosser lobte Grosser den Erkenntnisgewinn der Deutschen aus den Diktaturerfahrungen des 20 Jahrhunderts. „Großspurig ist die Bundesrepublik Deutschland seit 1990 nie geworden.“ Grosser und Lammert teilen die Freude über das positive Sendungsbewusstsein der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland und der Bundestagspräsident schloss das Podiumsgespräch mit dem Wunsch, dass „die Neuentdeckung der Deutschen von sich selbst mehr sein sollte, als ein Vier-Wochen-Effekt.“

Für weitere Informationen steht Ihnen in der Stiftung Aufarbeitung Dietrich Wolf Fenner unter Tel. 030/2324 7225 gerne zur Verfügung.

Berlin, 29. August 2006