Bundesstiftung Aufarbeitung
Kronenstraße 5
10117 Berlin
Soziale Sicherheit ist eines der großen Versprechen des 20. Jahrhunderts. Seine Einlösung ist eng verbunden mit der Expansion des Sozialstaats und der Verwandlung von einer eng umgrenzten Risikoabsicherung für Wenige in ein umfassendes System staatlich garantierter Daseinsvorsorge. Dass sich die liberale Demokratie im säkularen Konflikt mit Faschismus und Kommunismus durchgesetzt hat, lag nicht zuletzt an der Fähigkeit des Sozialstaats, marktproduzierte Ungleichheiten mit dem demokratischen Prinzip politischer Gleichheit zu vermitteln. Der Sozialstaat war allerdings gerade im Kontext der Weltanschauungsdiktaturen auch ein Instrument der Ideologieverwirklichung, das Gesellschaften nicht nur integrierte, sondern Grenzlinien zog und Menschen ausschloss. Dies verweist darauf, dass der Sozialstaat bei der Verteilung von Lebenschancen Ungleichheiten eigener Art hervorbringt, weil er verschiedene Risikolagen und Lebensentwürfe unterschiedlich gut sichert. Der Vortrag richtete den Fokus auf solche Ambivalenzen, indem er den Umgang mit sozialstaatlichen Herausforderungen in den politischen Systemen des 20. Jahrhunderts und die gesellschaftsgestaltende Wirkung sozialstaatlicher Institutionen und Praktiken analysierte.
Referent
Priv.-Doz. Dr. Winfried Süß, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Veranstaltungsreihe Das Jahrhundert vermessen. Signaturen – Umbrüche – Kontinuitäten
Das 20. Jahrhundert trägt im Rückblick viele Titel: "Zeitalter der Extreme", "Jahrhundert der Ideologien" oder "Amerikanisches Jahrhundert". Doch wie plausibel sind solche Etikettierungen? Die Forschung stellt heute mehr denn je die Komplexität der vieldeutigen und vielschichtigen Zäsuren und Entwicklungsstränge der Zeit von 1900 bis 2000 heraus. Sie waren von der Konkurrenz der gesellschaftlichen Großordnungen liberale Demokratie, Faschismus bzw. Nationalsozialismus und Kommunismus geprägt, aber ebenso auch von systemübergreifenden Entwicklungslinien gekennzeichnet. Welche Sichtachsen sich auf dieser Grundlage durch die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts schlagen lassen, war die Leitfrage dieser Ringvorlesung.