Unter diesem Titel widmete sich die diesjährige Geschichtsmesse dem aktuellen Stand der Aufarbeitung der kommunistischen Diktaturen. Eine junge und diverse Generation erschließt sich die Geschichte neu und stellt gleichsam etablierte Perspektiven auf die kommunistische Diktaturgeschichte auf den Prüfstand. Was bedeutet diese Entwicklung für die „Aufarbeitungslandschaft“? Wie kann eine moderne, integrative Erinnerungskultur aussehen? Diesen und weiteren Fragen widmeten sich die rund 330 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem ganzen Bundesgebiet auf der 16. Geschichtsmesse, die vom 29.2.-2.3.2024 in Suhl stattfand.
Mit sechs Thesen begrüßte ANNA KAMINSKY (Berlin), Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Besucherinnen und Besucher. Sie stellte zunächst die Frage in den Raum, ob angesichts der geopolitischen Ereignisse der jüngsten Zeit eine Trennung der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der kommunistischen Diktaturen noch zeitgemäß sei. Sie plädierte für eine Überwindung der Barrieren zwischen der Aufarbeitung verschiedener Diktaturen, um so Parallelen und Verflechtungen zu erkennen, ohne ihre Unterschiede zu negieren. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der DDR sollten weiterhin im Vordergrund der deutschen Erinnerungskultur stehen. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus sei wichtig, dürfe jedoch nicht zur Relativierung der einzigartigen Verbrechen des Nationalsozialismus führen und für aktuelle politische Zwecke instrumentalisiert werden. Wichtig sei außerdem, die Vielfalt der Erinnerungen an die deutsche Einheit sichtbarer werden zu lassen. Neben individuellen Erfahrungen dürfe jedoch der gesellschaftliche Konsens zur Bewertung der Diktaturgeschichte nicht verloren gehen. Es bedürfe eines Brückenschlags zwischen individueller und kollektiver Geschichte und einer gemeinsamen Bewertungsgrundlage, die auch neu in Deutschland angekommene Menschen miteinbeziehe. Zuletzt gelte es auch, sich auf eine gemeinsame Wertebasis – das Grundgesetz – zu besinnen, statt mit Partikularinteressen und Fremdzuschreibungen gegeneinander anzukämpfen. In diesem Kontext müsse auch festgehalten werden, dass Ostdeutschland keine Opfergemeinschaft sei – wie dies in manchen Publikationen jüngster Zeit dargestellt werde.
In ihrem Eröffnungsvortrag mahnte Staatsministerin CLAUDIA ROTH (Berlin) an, den Erzählungen der Bürgerinnen und Bürger, die in der DDR gelebt haben, mehr Raum zu geben, besser zuzuhören und jenseits der Repressionserfahrungen auch den Alltag der Menschen anzuerkennen. Westdeutsche wüssten immer noch zu wenig über das Leben in der DDR zwischen staatlicher Gängelung und Repression einerseits und dem Alltag der Menschen andererseits. Sie erinnerte daran, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit sei und ständig verteidigt und weiterentwickelt werden müsse. Dazu gehöre, sich mit der Vergangenheit, einschließlich der Repression durch den Staat auseinanderzusetzen. Eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte der kommunistischen Diktatur in SBZ und DDR sei ein wichtiger Schritt, um populistischen Strömungen und Fehlinformationen entgegenzuwirken. Die Menschen, die die DDR-Geschichte besonders betreffe, müssten sich in der öffentlichen Auseinandersetzung damit auch wiederfinden, ohne dass dabei das Leben in einer Diktatur verharmlost werde. Aufgabe sei es, Alltagserinnerung und Aufarbeitung der Diktaturgeschichte sinnvoll zusammen zu bringen. Roth betonte mit Verweis auf die aktuellen Arbeiten an einem bundeseinheitliches Rahmenkonzept Erinnerungskultur, dass nun auch die Erfahrungen der Einwanderungsgesellschaft berücksichtigt werden müssten, um die integrative Funktion der Erinnerungskultur und ihre wichtige Rolle für die Sicherung unserer Demokratie zu erhalten. Sie schloss mit den Worten: „Demokratie ist mehr als eine Staats- und Regierungsform. Sie ist eine Lebensform, die andere willkommen heißt, unabhängig von Geschlecht und Herkunft. Sie ist alles, was Diktatur bekämpft“.
Das anschließende Podium „Versteinerte Geschichte“ vs. „Dynamische Erinnerung“ erörterte die Herausforderungen, eine integrative und multiperspektivische Erinnerungskultur in einer immer ausdifferenzierteren Gesellschaft zu entwickeln und zu pflegen. MARTIN SABROW (Potsdam) entgegnete mit Blick auf die eingangs aufgeworfene Frage, ob NS- und SED-Aufarbeitung zusammen gedacht werden sollten, mit der Gegenfrage, was Aufarbeitung überhaupt leisten könne. Er unterstrich, dass Aufarbeitung eine bestimmte Form des Umgangs mit Geschichte sei. Während in der NS-Diktatur häufig von „Bewältigung“ die Rede gewesen sei, impliziere das Wort „Aufarbeitung“ eine andere Form des Geschichtszugangs. Ein Zusammengehen oder einer Fusion der Aufarbeitung der NS- und der kommunistischen Diktatur sehe er problematisch. So unterschieden sich deren Aufarbeitung schon in ihren Genesen: Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus wurde zunächst als eine Aufarbeitung gegen den in der Nachkriegszeit noch durch NS-Belastete durchsetzten Staat verstanden. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur hingegen ging von Anfang an mit der Unterstützung des Staates und weiten Teilen der gesamtdeutschen Gesellschaft. Er warnte davor, beide Zugänge zur Diktaturaufarbeitung zu stark zusammen zu denken, da es sich hier um unterschiedliche Verbrechensdimensionen handele. Es gelte zudem zu akzeptieren, dass sich der Gegensatz zwischen Lebensrealitäten der Ostdeutschen und der Diktaturaufarbeitung nicht restlos auflösen ließen. Mit Blick auf den Podiumstitel diagnostizierte LOUISA SLAVKOVA (Sofia) einen umgekehrten Tatbestand für Bulgarien. Hier sei die biografische Erinnerung versteinert, während die historischen Fakten zunehmend in Frage gestellt würden und weniger gesichert und gefestigt seien, als das bspw. in Deutschland der Fall sei. Die Aufarbeitung in Deutschland sei anders verlaufen als in Bulgarien und anderen kommunistischen Diktaturen, da es hier immer den starken Bezugspunkt zur Demokratie in Form der Bundesrepublik gegeben habe, an der sich die Aufarbeitung orientiert habe. SABINE RENNEFANZ (Berlin) stellte das von Claudia Roth angeregte Zuhören der ostdeutschen Lebenserfahrungen als Lösungsansatz in Frage. Die Frustration im Osten sei vor allem auch Ergebnis dessen, dass so ausgiebig und ohne Konsequenzen nur zugehört worden sei. Sie bilde viel mehr die Unzufriedenheit über den Mangel an Gestaltungsmacht ab. Sie erinnerte daran, dass Bücher wie das von Katja Hoyer sich gegen das offizielle, durch die Geschichtsvermittlung und wissenschaftlich geprägten Debatten einer Unterdrückung der Bürgerinnen und Bürger durch den SED-Staat wendeten und einen stärker an der Biografie orientierten Zugang auswähle, der näher am Erleben der Menschen sei und diese so auch mitnehme. Dazu ergänzte UWE NEUMÄRKER (Berlin), dass darüber aber nicht vergessen werden sollte, dass auch Chris Gueffroy noch 1989 an der Berliner Mauer erschossen worden sei, da er nicht in der DDR habe leben wollen. Dieser Aspekt müsse bei der Betrachtung des Lebensalltags in der DDR auch Teil des Narrativs sein. Auch Claudia Roth mahnte angesichts des Aufschwungs nationalistischer Erzählungen wachsam hinsichtlich einer Relativierung der eigenen Geschichte zu sein. Nach der entsprechenden Frage des Moderators KORBINIAN FRENZEL (Berlin) herrschte Einigkeit unter den Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern, dass vor allem die Geschichte der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration mehr Berücksichtigung in der deutschen Erinnerungskultur erfahren müsse.
Der zweite Programmtag griff die Themen des ersten Tags auf und gab unter dem Titel „Geschichte für alle – wie können Erinnerungskultur und historische Bildung vielfältig gestaltet werden?“ Anregungen, wie eine gemeinsame Erinnerungskultur in einer diversen Gesellschaft erreicht werden könne. Die Podiumsgäste aus der Vermittlungsarbeit erinnerten daran, dass ihre Arbeit ganz unterschiedliche Zielgruppen ansprechen müsse. Diese umfassten Menschen, die in den letzten 10 bis 15 Jahre eigewandert sind und noch keine Gelegenheit hatten, an die Besonderheiten der deutschen Debatten anzudocken (CAHIT BAŞAR, Köln) als auch Jugendliche in ländlichen Regionen, deren Zugang zu historischen Bildungsangeboten begrenzt sei (SANDRA BRENNER, Potsdam). Auch die Einbettung mehrerer Generationen und diverser Hintergründe sei eine Herausforderung (LUISA TASCHNER, Schlagsdorf). MARIA WILKE (Berlin) plädierte dafür, Diversität nicht nur als Herausforderung, sondern vor allem als eine große Chance für die Zukunft der Erinnerungskultur zu begreifen. Dieser Aspekt komme in der Debatte oft zu kurz. Başar betonte, dass es zu verdeutlichen gelte, dass die NS- und SED-Geschichte auch Relevanz für Jugendliche mit anderen historischen Hintergründen habe. Über das Thema Diktatur- und Repressionserfahrung und Demokratiebildung lasse sich hier häufig eine Brücke zu deren persönlichen Erfahrungen und Familienerzählungen schlagen. Allerdings sei dies mit den an Curricula orientierten und häufig zu eng konzipierten Bildungsmaterialien schwierig. Wilke beschrieb ihre Sorge, dass Erfahrungsräume und Erinnerung immer weiter auseinander gingen und teilweise auch keine Diskussionsräume mehr eröffneten. Einen großen Anteil daran habe Social Media, wo in Echokammern geschlossene Narrative verstärkt würden. Aufgabe der politischen Bildnerinnen und Bildner sei es daher, den historisch-demokratischen Grundkonsens zu stärken, um diese Narrative aufbrechen zu können. Der Holocaust müsse in seiner europäischen Dimension betrachtet werden. Taschner sah einen möglichen Lösungsansatz darin, Themen so zu wählen, dass sie möglichst viele Menschen ansprechen und jeder etwas dazu beitragen könne. Über solch einen Gesprächseinstieg auf Augenhöhe könnten die Debattenräume wieder eröffnet werden. Das erfordere aber Zeit und langfristige (finanzielle) Planung. Brenner ergänzte mit Blick auf das Zeitensprünge-Programm des Landesjugendrings Brandenburg, dass auch ein lokal-geschichtlicher Zugang große Erfolge erziele, denn hier bilde sich die Diversität der Gesellschaft am besten ab. Einigkeit herrschte darüber, dass das Ziel jedweder Vermittlungsarbeit die Festigung des demokratischen Grundkonsens sein müsse. Başar mahnte, dass Lehrkräfte es sich nicht leisten könnten, bei antidemokratischen und teils widersprüchlichen Familienerzählungen keine Position zu beziehen. Dieser Aspekt wurde in der Fragerunde im Anschluss unter dem Schlagwort „Beutelsbacher Konsens“ weiter diskutiert. Aufgabe des Lehrkörpers sei es auch, Bezüge herzustellen und für die Demokratie zu begeistern. Wilke forderte zusätzlich eine entschiedene Aufklärung und Bildungsarbeit gegen Geschichtsrevisionismus. Sie erinnerte aber auch daran, dass es sich bei Demokratieerziehung um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handele, die nicht allein an den Bildungseinrichtungen hängen bleiben dürfe. Brenner betonte, dass der intergenerationelle Austausch auch die Möglichkeit biete, Erwachsenenbildung zu betreiben. Denn diese Bezugsgruppe werde bei den Bildungsangeboten oft vernachlässigt. Zuletzt wünschte sich Taschner noch eine selbstkritische Reflektion der politischen Bildnerinnen und Bildner. Diese müssten sich der Frage stellen, inwieweit sie selbst für die Vermittlungsarbeit geeignet seien. Denn die Arbeit mit Menschen erfordere auch ein hohes Maß an Empathie, Sensibilität und Spontanität, um Gesprächsräume erfolgreich und gewinnbringend zu eröffnen. Für die konkrete Arbeit wünschten sich die Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer vor allem mehr Zeit, finanzielle gesicherte Förderstrukturen, stärkere Vernetzung und langfristige Projektkonzeptionen. Nur so könne nachhaltig gewährleistet werden, dass Bedarfe vor Ort an die Zielgruppe angepasst und auch verbessert werden können.
Dem Thema Identitätspolitik und Fremdwahrnehmung widmeten sich die drei abschließenden Gesprächsrunden am dritten Tag der Geschichtsmesse. Die politische Dimension ostdeutscher Selbst- und Fremdwahrnehmung diskutierten LINDA TEUTEBERG (Potsdam) und BODO RAMELOW (Erfurt). Beide betonten dabei, dass das demokratische und politische Handeln stärker im Vordergrund stehen sollte als der Geburtsort. „Herkunft ist weder Makel noch Verdienst“ postulierte Teuteberg und erinnerte daran, dass ostdeutsch sein nicht automatisch bedeute, dass man auch für alle Ostdeutschen spreche. Sie wünsche sich insgesamt mehr Sinn für Vielstimmigkeit im öffentlichen Diskurs, gerade auch bei Reizthemen, bspw. dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Sie wünsche sich mehr Engagement, aber auch Respekt und Wertschätzung für Parteien- und Ehrenämter, statt einer Verschiebung des Fokus‘ auf neue Beteiligungsformate, wie etwa Bürgerräte. Ramelow zeigte Unverständnis für die zahlreichen öffentlichen Problemanalysen über DIE Menschen in Ostdeutschland und mahnte an, mehr darauf zu schauen, was bereits funktioniere und geleistet wurde. Thüringen etwa sei wirtschaftlich ein sehr erfolgreiches Bundesland. Als reales Problem sehe er allerdings, dass einerseits Fachkräfte die Region massiv verließen und nun fehlten, zum anderen die Kommunen aber von der Wertschöpfungskette der Industrieproduktion nicht profitierten, da Steuern nur am Standort des Mutterkonzerns abgeführt würden. Der Geburtsort, so Ramelow, spiele für ihn keine Rolle. Er erinnerte daran, dass die Erfahrungen, die er als westdeutscher Gewerkschaftsführer und während der Arbeitskämpfe in Bischofferode gemacht habe, durchaus geteilte Erinnerungen seien. Über die Widersprüche dieser Zeit könne er mit seiner Perspektive ebenso erzählen wie die Ostdeutschen. „West-Ost-Zuschreibungen hören erst auf, wenn man auf alle gleichermaßen hört“. Mit Blick auf die zum Teil emotional geführten politischen Debatten griffen beide die Publikumsfrage, ob eine Versachlichung nicht hilfreich sei, auf. Ramelow bedauerte dabei, dass die Generation der Eltern über ihre Gefühle und Sorgen der Transformationszeit zu wenig gesprochen habe. Dadurch fehle ein Teil der Informationen in der nachkommenden Generation. Es sei wichtig, dass die Menschen über sich selbst redeten und nicht über das Bild, das von ihnen gezeichnet werde. Teuteberg plädierte dafür, in Debatten zwischen dem persönlichen Leben und der Staatsform zu differenzieren, und diese so sachlicher zu führen.
Über den westdeutschen Blick auf Ostdeutschland sprachen im Anschluss ALEXANDER JEHN (Wiesbaden) und VANESSA VU (Berlin) mit besonderem Fokus auf die sozialen Medien und digitale Zeitungen als Verhandlungsorte erinnerungskultureller Debatten. Jehn sah die Gesellschaft im Orientierungsdilemma zwischen all den aktuell stattfindenden Krisen. Die aktuellen Debatten würden im digitalen Raum geführt und auch dort müssten die Demokratie und ihre Erfolge stärker sichtbar gemacht werden. Aus ihrer eigenen journalistischen Erfahrung konstatierte Vu, dass die großen und wichtigen gesellschaftlichen Debatten inklusive der Lösungen aktuell im Osten begännen. Sie erinnerte daran, dass die „Ost-West-Schublade“ nur ein Debattenzugang neben vielen anderen denkbaren sei. Als westdeutsche Angehörige einer vietnamesisch-stämmigen Minderheit fühle sie sich den ostdeutschen Vietnamesinnen und Vietnamesen näher als bspw. einem alteingesessenen Kölner. Die Integration der migrantischen Themen böten beispielsweise einen Zugang, um auf Gemeinsamkeiten jenseits der Ost-West-Differenzierung zu schauen. Ziel sei es, nicht von einem monolithischen Block – DEM Osten – zu sprechen, sondern die Vielfalt der Perspektiven auch abzubilden.
Im dritten und abschließenden Podium ging es um die osteuropäische Perspektive. MARKUS MECKEL (Berlin) erinnerte daran, dass Demokratieaufbau und Transformationsprozesse unweigerlich zusammengehörten. Der Blick auf die Transformation in Osteuropa sei wichtiger Bestandteil auch der Aufarbeitung in Deutschland. Er sehe die Gefahr, dass der Kommunismus bis heute bagatellisiert werde. JONILA GODOLE (Tirana) plädierte dafür, dass die Länder Ostmitteleuropas dringend in westliche Bündnisse integriert werden müssten. Europa könne es sich nicht mehr leisten, die osteuropäischen Länder sich selbst zu überlassen. Sie sehe aber, dass der Weg dorthin noch weit sei. Aktuell beobachte sie, dass junge Menschen in Albanien eher skeptisch reagierten und lieber das Land verließen, als den demokratischen Aufbau vor Ort voranzutreiben. Sie erinnerte daran, dass die Versäumnisse, die bei der Demokratisierung des Westbalkans gemacht worden seien, auch auf Fehler und mangelnde Unterstützung Westeuropas hinweisen würden und wünschte sich hier mehr Verantwortungsübernahme. KAROLINA WIGURA (Warschau) betonte, dass Staaten ihr jeweils eigenes historisches Trauma zu bearbeiten hätten. Polen und andere ostmitteleuropäische Staaten müssten vor allem den russischen Imperialismus verarbeiten, fühlten sich aber auch vom Westen nicht ausreichend einbezogen und verraten. Eine Chance für eine gemeinsame Sicherheitspolitik für Europa sehe sie, wenn Deutschland und die osteuropäischen Staaten ihre Erfahrungen jeweils einbringen könnten.
Wie in jedem Jahr bot auch die Geschichtsmesse 2024 neben fachlichem Input Projektträgerinnen und -trägern und Bildungsinstitutionen reichlich Raum zum Austausch auf dem „Markt der Möglichkeiten“ mit rund 45 Ausstellern, bei den insgesamt 51 Projektpräsentationen sowie im Rahmen der Abendprogramme. HENDRIK BOLZ (Berlin) und INES GEIPEL (Berlin) diskutierten in einer gemeinsamen Lesung am Abend des ersten Tages der Geschichtsmesse über das Thema der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen und teilten ihre sehr unterschiedlichen biografischen Erinnerungen. Die künstlerische Darbietung „The Dark Side oft the GDR“ von BIBIANA MALAY und GRIT DÍAZ DE ARCE unterdessen regte am zweiten Abend zum Nachdenken über rassistische Zuschreibungen und Sprachgebrauch in der DDR an und eröffnete einen ergreifenden biografischen Einblick in die Kindheit der Künstlerinnen in der DDR der 1970er- und 1980er-Jahre.
In den verschiedenen Diskussionen und Programmpunkten der Geschichtsmesse 2024 wurde vor dem Hintergrund einer sich wandelnden (politischen) Gesellschaft deutlich, wie wichtig die Einbindung der Menschen in einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs ist. Die Herausforderung, unterschiedliche, auch migrantische Erfahrungsräume und biografische Erinnerungen in einen sinnvollen Zusammenhang zu setzen, haben die erinnerungskulturellen Debatten in den letzten Jahren stark geprägt und zu einem offeneren Diskurs über ein gemeinsames Geschichtsbild geführt. Zudem wurde deutlich, wie wichtig die Einbettung all dieser Narrative in einen demokratischen Grundkonsens ist. Immer wieder stand hier auch der dringende Apell im Raum, Förderstrukturen anzupassen, um langfristig und nachhaltig Vermittlungsprojekte durchführen, evaluieren und verbessern zu können.