Eine Demonstration in der DDR
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Wer seit Ende des Jahres 2010 die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der arabischen Welt verfolgt, wird sich – bei allen Unterschieden – an die (zumeist) friedlichen Revolutionen und das Ende des Kommunismus in Ostmitteleuropa erinnert fühlen. Damals wie heute begehr(t)en die Bevölkerungen gegen autokratische Machtstrukturen und repressive Herrschaftsmechanismen ihrer Führungen auf. Die Menschen erhofften sich wachsenden Wohlstand, gesellschaftliche Freiheit und politischen Pluralismus. Das Zusammenspiel von Massenprotesten „von unten“ und (mehr oder weniger gewollten) zaghaft en Reformversuchen „von oben“ führte ausgehend von Polen/Ungarn bzw. Tunesien/Ägypten zu Dominoeffekten, die die gesamten Regionen wie ein Lauff euer in Aufruhr versetzten. Zudem war in beiden Fällen gesellschaftliche Modernisierung eine, wenn nicht die zentrale Voraussetzung des Wandels. 1989/90 kündeten die Medien, trotz aller Abschirmungsversuche der kommunistischen Führungen, von Freiheit und Wohlstand im Westen. Im arabischen Raum (und nicht nur da) sind die weltlichen wie religiösen Despoten heute nicht mehr in der Lage, angesichts neuer Kommunikationskanäle via „Facebook“ und „Twitter“ das Aufbegehren der häufig jugendlichen Protestierer zu verhindern.

 

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Die Systemwechsel in Osteuropa und Maghreb im Vergleich

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Diktaturen geraten weltweit ins Wanken. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass an deren Stelle zwangsläufig funktionierende Demokratien treten. Der Zusammenbruch der alten Ordnungen ist ein erster zentraler Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung, doch lange nicht der letzte. Auch hiervon zeugen die „Refolutionen“ (Timothy Garton Ash) in Osteuropa und die „Arabellionen“ (Günther Nonnenmacher) in Nordafrika. Waren es in Polen und in Ungarn die einstigen Machthaber selbst, die den Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit freimachten, klammerten sich die Despoten im Maghreb bis zuletzt an ihre längst verfallende Herrschaft. Und während in Ostmitteleuropa nach kurzer Zeit gefestigte Demokratien entstanden, scheinen die arabischen Staaten davon so weit entfernt zu sein wie vor dem Ende der alten Regime. Es stellt sich die Frage: Warum verlief „1989/90“ anders als „2010/11“?

Systemwechsel sind vielgestaltige Phänomene. Es ist der Zeitabschnitt zwischen einem alten und neuen politischen System. Damit kann der Übergang von einer autoritären bzw. totalitären Diktatur zu einer funktionierenden oder defekten Demokratie gemeint sein wie auch die umgekehrten Varianten. Meist erfährt die Demokratisierung mehr Interesse als der gegenläufige Prozess: ihr Zusammenbruch. Wer wissenschaftlich erklären will, warum der Übergang von der Diktatur zur Demokratie in manchen Staaten gelingt und in anderen nicht, hat verschiedene Möglichkeiten. Systemwechselforscher streiten darüber, welche Theorie dafür am besten geeignet ist. Denn wie die Demokratisierung verläuft und welchen Erfolg sie hat, ist von einer Reihe Faktoren abhängig: Modernisierungen in Gesellschaft und Wirtschaft können der Grund für einen Systemwechsel sein (Systemtheorie), aber auch der Aufbau des Staates und die Frage sozialer Klassen (Strukturtheorie). Darüber hinaus liegen die Ursachen häufig in den religiösen und kulturellen Prägungen der Gesellschaften (Kulturtheorie) oder im konkreten politischen Handeln der Protagonisten (Akteurstheorie).[1] Die Auseinandersetzung mit den Systemwechseln in Ostmitteleuropa und Maghreb soll die unterschiedlichen Perspektiven berücksichtigen. Es werden erstens die Ursachen für das Ende der autokratischen Regimes, zweitens die Verläufe der Systemwechsel und drittens die Gründe für deren Erfolg bzw. Misserfolg verglichen. Abschließend gilt es auszuloten, wo die Potenziale bzw. Grenzen die einzelnen theoretischen Ansätze liegen und welche Schlüsse sich für die vergleichende Erforschung von Regimewechseln ziehen lassen.

Die Ablösung der autokratischen Regimes in Ostmitteleuropa lässt sich nicht auf eine einzige, zentrale Ursache zurückführen. Vielmehr war es ein komplexes Bündel von internen und externen Gründen, das das Ende der alten Ordnungen besiegelte. In allen Ländern der Region verschärfte sich in den Achtzigerjahren die wirtschaftliche Krise. Der Systemwettlauf mit dem Westen war verloren. In dem Maße, wie die Unzufriedenheit in den Bevölkerungen zunahm, schwand die Legitimität der alten Regime. Dies führte in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow zu vorsichtigen wirt- schaftlichen und politischen Reformen im Innern sowie zur Preisgabe der Breschnew-Doktrin nach außen. Anders als „1953“, „1956“ und „1968“ war damit die unmittelbare Gefahr einer sowjetischen Intervention in den sozialistischen „Bruderstaaten“ gebannt. Die Opposition fasste (neuen) Mut, worauf die Machteliten der einzelnen Länder unterschiedlich reagier- ten. In Ungarn öffnete der Reformer Miklós Németh im Frühjahr 1989 den Eisernen Vorhang; in Polen machte General Wojciech Jaruzelski den Weg frei für die ersten (halb)freien Wahlen.[2] Die Führungen in der DDR und der Tschechoslowakei verweigerten sich dagegen allen Reformen. Doch die Dynamik der Ereignisse und die Verwobenheit der Ostblockstaaten unter- einander ließen die Regime der sozialistischen Hemisphäre in rasantem Tempo wie Dominosteine zusammenstürzen. In der DDR verstärkte sich die Legitimitätskrise des SED-Staates infolge des außenpolitischem „Tauwetters“, durch die massive Fluchtwelle über Ungarn und die bundesdeutschen Botschaften sowie durch die öffentlichen Massenproteste seit dem Spätsommer 1989. In der Tschechoslowakei vollzog sich unter dem Ein- druck der Ereignisse in den Nachbarstaaten die Ablösung des alten Regimes innerhalb weniger Tage. Die Ineffizienz der Systeme und die Abhängigkeit der einzelnen Staaten von der „Schutzmacht“ Sowjetunion beschleunigten den Untergang der kommunistischen Diktaturen.

Ein ähnlicher Dominoeffekt sorgte – allerdings ohne dass ein außen- politischer Vormund das Geschehen in Gang setzte – für das Ende der Despotien in Nordafrika. Der „Arabische Frühling“ nahm seinen Anfang in Tunesien. Aus vereinzelten Demonstrationen gegen den Machthaber Ben Ali und die schlechter werdenden Lebensbedingungen entstanden Ende 2010 Massenproteste, die jedoch im Gegensatz zum überwiegend friedlichen Wandel 1989/90 mit Gewalt und Plünderungen einhergingen. Als am 14. Januar 2011 der tunesische Präsident nach Saudi-Arabien flüchtete, schwappte die Protestwelle auf Ägypten und wenig später auch auf Libyen über.[3]

In Kairo, Alexandria und Suez gingen seit Beginn des Jahres 2011 Aktivisten auf die Straße. Zur Zäsur wurde der „Tag des Zorns“ am 25. Januar, ursprünglich der staatliche „(Feier-)Tag der Polizei“. Beeindruckt von den Geschehnissen in Tunis versammelten sich Zehntausende Ägypter, um gegen Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und für die Absetzung des seit fast 30 Jahren regierenden Präsidenten Hosni Mubarak zu demonstrieren. Es kam zu Ausschreitungen, Hunderten Festnahmen und mehreren Todesopfern. Trotz oder gerade wegen des rigorosen Durchgreifens der Sicherheitskräfte gingen in den folgenden Tagen immer mehr Menschen auf die Straßen – am 1. Februar waren es auf dem zentralen Tahrir-Platz mehr als eine Million Demonstrierende. Daraufhin drohte die Lage zu eskalieren, denn Anhänger und Gegner des Präsidenten lieferten sich vor den Augen des Militärs tagelang Straßenschlachten, bevor Mubarak am 11. Februar einlenkte und zurücktrat. Seit August 2011 muss er sich wegen der tödlichen Angriffe auf Demonstranten vor Gericht verantworten. Über 850 Menschen hatten ihr Leben verloren.[4]

Mit den Unruhen in Tunesien und Ägypten wuchs zugleich der Wider- stand in Libyen gegen die despotische Herrschaft des bereits seit 1969 regierenden Muammar al-Gaddafi. Doch während seine Amtskollegen im Osten und Nordwesten die Gewalteskalation durch Rücktritte beendeten, stürzte Gaddafi sein Land in einen blutigen Bürgerkrieg. Am 15. Februar kam es zu Massendemonstrationen in Bengasi, bei denen mehrere Hundert Regimegegner ihr Leben verloren. Daraufhin wechselten Teile der politischen Eliten und des Militärs die Seiten. Unterstützt durch britische und französische Luftangriffe gelang es den „Rebellen“ nach knapp sechs Monaten, Tripolis zu erobern. Mehr als 30 000 Menschen kamen in dem Bürgerkrieg zu Tode. Gaddafi starb bei der Flucht aus seiner Heimatstadt Sirte. Die meisten Angehörigen des Familien-Clans wurden entweder getötet, gefangen genommen oder flüchteten ins Exil.

Wie in Osteuropa hatten Jahrzehnte der Willkürherrschaft zu massiven Missständen geführt. Die zentralistisch-autoritären Regimes waren ineffizient geworden. Immer weiter wuchs die Kluft zwischen dem Luxus- leben der Diktatoren(familien) einerseits und den verarmten Massen andererseits. Zugleich entging den Ali-, Mubarak- und Gaddafi-Clans in ihrer Selbstherrlichkeit, dass sich innerhalb der Gesellschaften ein umfassender Wandel vollzogen hatte. Das riesige Heer der Unzufriedenen vergrößerte sich in dem Maß, wie die überwiegend jugendlichen Protestierer erkannten, welche Möglichkeiten ihnen die „neuen Medien“ boten, sich aktiv gegen die Repressionen und „surrealen Propagandainszenierungen“[5] ihrer politischen Führungen zur Wehr zu setzen. Über „Blogs“ und Foren, „YouTube“ und „Facebook“ kommunizierten Hunderttausende, berichteten von den Verbrechen der Machthaber und dokumentierten diese mit wackeligen Handykamera-Videos. Die Nachricht vom Mord am 28-jährigen Internet-Aktivisten Khalid Said im Juni 2010, der von ägyptischen Polizisten zu Tode geprügelt worden war, verbreite sich rasant und löste eine Welle der Solidarität aus. Trotz staatlicher Zensur gelang es den Diktatoren nicht, die Proteste zu unterdrücken. Wie vor 21 Jahren in Osteuropa (damals vor allem über das „Westfernsehen“) wurde weltweit und in „Echtzeit“ darüber berichtet, wie sich Hunderttausende für die Freiheit und gegen die korrupten Regimes auflehnten. Allerdings: TV und Internet schufen zwar zentrale Voraussetzungen für die „Arabellionen“ – erkämpft werden musste der (blutige) Sieg jedoch auf den Straßen und Plätzen der Länder.

Nach 1989/90 gab es in Osteuropa verschiedene Formen von Systemwechseln.[6] In Bulgarien und Rumänien steuerten die alten Regimeeliten den Prozess. Paradox: Ausgerechnet in Bukarest, wo das Ende des Ceauşescu-Regimes mit „revolutionären“ Unruhen und vielen Todesopfern einher- ging, besaß die Opposition anschließend keinerlei Einfluss. Durch die Hinrichtung des Diktators und seiner Frau gelang es den Mitgliedern der alten Nomenklatur, sich selbst an die Spitze des Wandels zu setzen und so einen Großteil ihrer Machtressourcen zu bewahren. Sie bestimmten nach ihren Interessen und ihrem Ermessen über die Strukturen des neuen politischen Systems und verfügten durch die Besetzung sämtlicher Schlüsselpositionen in Staat, Sicherheitsapparat, Wirtschaft und Medien über eine enorme Machtfülle. So regierten die Postkommunisten unter Staatspräsident Ion Iliescu bis 1996 – länger als in jedem anderen Land Osteuropas.

In Polen und in Ungarn handelten Eliten und Gegeneliten den Systemwechsel gemeinsam aus. Zwischen polnischen Regimebefürwortern und -gegnern kam es Ende der Achtzigerjahre zum Patt. Sowohl die Kommunisten als auch die Oppositionellen sahen keine realistische Möglichkeit, sich gewaltlos gegen die andere Seite durchzusetzen. Da in beiden Ländern und in jeweils beiden Lagern die moderaten Kräfte das Sagen hatten, wurden Verhandlungen an „Runden Tischen“ aufgenommen. Die bei allen Beteiligten verbreitete Ungewissheit beförderte die Kompromissbereitschaft. So einigten sich die beiden Seiten auf die Art der Wahlverfahren, die Gestaltung der politischen Institutionen und in Verfassungsfragen. Mit den ersten freien Wahlen (in Ungarn 1990, in Polen 1991) endete diese Übergangsphase.

In der Tschechoslowakei und in der DDR fanden dagegen revolutionäre Umbrüche statt. Da die Positionen von Parteielite und Opposition unvereinbar waren und sich die Proteste der Bevölkerungen und Bürgerrechtsbewegungen nicht mehr kontrollieren (und niederschlagen) ließen, kam es zum schnellen Sturz von Erich Honecker und Milouš Jakeš. Auch deren „Kronprinzen“ erhielten nur eine kurze Galgenfrist bis zum endgültigen Ende ihrer Herrschaft. Zwar gab es auch hier Verhandlungen an „Runden Tischen“, doch an deren Ende stand keine Machtteilung, sondern die alten Granden von SED und KPČ wurden politisch vollständig entmachtet. Die massenhafte „Fahnenflucht“ von Mitgliedern und Technokraten der alten Ordnung spielte dabei eine wichtige Rolle.

In der Maghreb-Region bleibt es indes ungewiss, ob es überhaupt zu Systemwechseln kommen wird. Die revolutionäre Aufbruchsstimmung ist vielerorts längst zu einem zähen Ringen um die Macht verkommen. Es drohen Revolutionen ohne Revolution, denn in allen drei Ländern sind nicht nur die Forderungen nach Demokratie bislang unerfüllt. Korruption und Armut werden auch künftig den Alltag der meisten Menschen bestimmen. Neuerliche Gewalt ist nicht auszuschließen. Vor allem in Libyen herrscht großer Hass auf die Unterstützer des alten Regimes. Darum ist eher zu befürchten, dass ehemalige Gaddafi-Anhänger künftig verfolgt werden, als dass sie einen Teil ihrer Macht erhalten können. In Ägypten dagegen behauptet das Militär seit dem Abgang Mubaraks seine einflussreiche Position. In wieweit es überhaupt zu einem Systemwechsel kommt, wird maßgeblich davon abhängen, ob sich die Armee in demokratische Verfahren einbinden lässt oder ob sie ihre Sonderstellung bewahren kann. Im Moment sieht es danach aus, als ob der weitere Wandel nach den „Spielregeln“ der Armee ablaufen wird. Eine Demokratie scheint in allen drei Staaten noch in weiter Ferne zu sein.

Welche Chancen die dauerhafte Etablierung der Demokratie hat, ist nicht nur vom Willen der Akteure abhängig. Mitentscheidend sind die kulturell- religiösen Werte, die sozialen Traditionen und die mentalen Prägungen einer Gesellschaft. Deshalb ist es wichtig, solche Rahmenbedingungen im Blick zu haben. Sie behindern oft den raschen demokratischen Wandel, weil sie langlebiger und stabiler als politische Institutionen sind. Sie können nicht ohne Weiteres geschaffen bzw. abgeschafft werden. Die Beispiele aus Ostmitteleuropa und Nordafrika zeigen, welche Faktoren positiv und welche negativ auf die Demokratisierung wirkten.

Die ostmitteleuropäischen Staaten profitierten 1989/90 von den demokratischen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit. Diese waren auch während der kommunistischen Diktaturen im kollektiven Gedächtnis lebendig geblieben. So entstand zwar auch nach 1989/90 nicht über Nacht eine demokratische Bürgerkultur, aber es gab von Anfang an einen Konsens an grundlegenden Werten. Zudem handelt es sich um ethnisch weitgehend homogene Staaten. Je weniger verschiedene Minderheiten bzw. Interessengruppen bei der Aufteilung der Macht zu berücksichtigen sind, umso größer sind die Erfolgsaussichten der Demokratie. Der umgekehrte Fall, die Tragödie Jugoslawiens, belegt diese These. Ferner spielt das Ausmaß der Säkularisierung eine Rolle. Je geringer der religiöse Einfluss auf staatliche Belange, umso größer sind die Chancen der Demokratisierung. Außer in Polen ist die Bedeutung der Religion wegen der Entkirchlichungspolitik im Sozialismus niedrig und die Trennung von Kirche und Staat weitgehend anerkannt.

Die Gesellschaften in den nordafrikanischen Staaten sind dagegen wesentlich unübersichtlicher. Hier gilt es nicht nur, bei der Neuaufteilung der Macht zwischen Siegern und Besiegten zu vermitteln, sondern vielfältige Strömungen und gesellschaftliche Gruppen zu berücksichtigen: religiöse und ethnische Minderheiten (z. B. die Kopten in Ägypten oder die Stammeskulturen in Libyen), Anhänger weltlicher und klerikaler Ordnungen, Liberale und Radikale, Reformer und Orthodoxe. Insbesondere der Islam gilt manchem Systemwechselforscher, wie dem konservativen US-Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington, als Hindernis bei der Demokratisierung. Fundamentalistische Islamisten waren am Sturz der Despoten beteiligt, doch fordern sie statt politischer Freiheit den „Vorrang göttlichen Rechts gegenüber einer demokratisch und rechtsstaatlichen Ordnung“.[7] Speziell der fundamentalistische Islam scheint mit den demokratischen Prinzipien von Pluralismus und Individualismus unvereinbar zu sein.[8] In wieweit sich die Vertreter eines moderaten und demokratischen Islam gegenüber den Anhängern der Variante „Gottesstaat“ durchsetzen können, bleibt abzuwarten.

Um die Antwort vorwegzunehmen: Egal ob Modernisierungs-, Struktur-, Kultur- oder Akteurstheorien – jeder Ansatz hat seine Daseinsberechtigung. Warum die autokratischen Systeme in Osteuropa und Nordafrika zusammenbrachen, konnte am besten mit ihren Strukturen (wie ist die Macht in einem System verteilt?) und anhand der gesellschaftlichen Modernisierung (Bildung, Kommunikation, Globalisierung) plausibel gemacht werden. Zudem haben diese nicht nur Einfluss auf die Ursachen für das Ende einer Diktatur, sondern auch auf den Verlauf eines Systemwechsels.

Allerdings vermögen die vielfältigen Gründe der „Diktatorendämmerung“ (Der Spiegel) nicht zu erklären, weshalb sich die Prozesse meist deutlich voneinander unterscheiden und am Ende nicht in jedem Fall eine funktionierende Demokratie entsteht. Hier kommen jene Ansätze ins Spiel, bei denen Akteure im Mittelpunkt stehen. Deren Handlungsmöglichkeiten sind ebenso zahlreich wie vielfältig – sie können von bewaffneten Revolutionen (Libyen) bis zum einvernehmlichen Dialog (Polen) reichen. Wurden neben den Demonstrationen die „Runden Tische“ zum Symbol der (über- wiegend) friedlichen Übergänge in Ostmitteleuropa, werden im Fall der Maghreb-Staaten wohl eher die Bilder der Despoten, des Blutvergießens und vom Bürgerkrieg in Libyen im Gedächtnis bleiben.

Blickte man indes nur auf die Protagonisten, dann unterschätzte man die strukturellen, kulturellen und institutionellen Rahmenbedingungen ihres Handelns. Systemwechsel waren und sind sprunghaft und unübersichtlich. Nicht selten ändern sich Macht- und Interessenkonstellationen über Nacht, unterliegen manche Einschätzungen falschen Wahrnehmungen und mangelnden Informationen und sind im Nachgang schwerlich als Ergebnis rationalen Kalküls zu verstehen. Demokratieforscher fordern daher seit Langem, die Theorien zusammenzuführen. Bei aller Bedeutung der Rolle von „Helden und Feinden der Revolutionen“ sind zugleich system-, struktur- und kulturtheoretische Perspektiven einzubeziehen, um so die notwendig verengte Perspektive eines einzelnen Erklärungsansatzes zu überwinden. Das trifft vor allem auf die Frage der Demokratisierung zu, denn die Akteure haben eben nicht die unbegrenzte Möglichkeit, „Ereignisse zu manipulieren, Wandel zu verhindern, Pakte zu schließen und [...] die Ergebnisse des politischen Prozesses zu bestimmen“.[9] Nur vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und kulturellen Situation lässt sich schlussfolgern, warum die Diktatoren in Ostmitteleuropa und Nordafrika so verschieden und teilweise sogar gegensätzlich auf den Zerfall ihrer Macht reagierten. Und nicht zuletzt wird sich auf diese Weise erklären lassen, warum manche Systemwechsel (weitgehend) einwandfrei funktionierende Demokratien hervorgebracht haben, wie in Ostmitteleuropa, andernorts dagegen in neuerlich autoritäre Ordnungen münden, wie es im arabischen Raum vielerorts zu befürchten ist.
 

Quellen

1 Vgl. ausführlich Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 67–89.

2 Vgl. Bernd Florath (Hrsg.), Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolu- tion in Osteuropa als transnationale Zäsur, Göttingen 2011.

3  Vgl. in populärwissenschaftlicher Form Peter Scholl-Latour, Arabiens Stunde der Wahrheit. Aufruhr an der Schwelle Europas, Frankfurt a. M. 2011.

4  Vgl. Prozess gegen Hosni Mubarak verschoben, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30. Oktober 2011, www.nzz.ch/nachrichten (zuletzt eingesehen am 13. 11. 2011).

5 Asiem El Difraoui, Die Rolle der neuen Medien im Arabischen Frühling, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Thema: Arabischer Frühling, www. bpb.de/themen/XLPYYY,0,0,Arabischer_Fr %FChling.html (zuletzt eingesehen am 30. 11. 2011).

6 Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 343–361.

7  Merkel, Transformation politischer Systeme, S. 218.

8  Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order,

New York 1996.

9 Ellen Bos, Die Rolle von Eliten und kollektiven Akteuren in Transitionsprozessen, in: Wolfgang Merkel (Hrsg.), Systemwechsel 1. Theorien, Ansätze und Konzeptio- nen, Opladen 1994, S. 81–109, hier S. 103.