Bild von Skulpturen
© Bundesstiftung Aufarbeitung, Günter Bersch, Bild: 031 a084 2017

Am 26. August 1988 schließt Jutta Gallus ihre Töchter in die Arme. Beate ist fünfzehn Jahre alt, Claudia siebzehn. Mutter und Kinder haben sich seit fast sechs Jahren nicht gesehen. Gegen ihren Willen. Wegen eines schweren Falles von Republikflucht war Gallus am 4. Januar 1983 von der DDR-Justiz zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Noch vor Haftende wird sie von der Bundesrepublik freigekauft. Nach der Übersiedlung in den Westen lehnt die Regierung in Ostberlin eine Familienzusammenführung ab. Die neun- und elfjährigen Mädchen verbleiben in der DDR. Jutta Gallus kämpft gegen dieses Unrecht und erregt mit ihrem Protest als „die Frau vom Checkpoint Charlie“ international Aufsehen.

Der Film „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ rief dieses deutsch-deutsche Schicksal einem Millionenpublikum ins Gedächtnis. Er vergegenwärtigt Praktiken des SED-Regimes und zeigt eine „aufsässige, starke Frau, eine ‚Heldin‘, die ‚mit dem Kopf durch die Mauer‘ ging“ und gegen das Unrecht der SED opponierte. 

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Erzählungen über deutsche Zeitgeschichte in Film und Theater

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Geschichte ist nicht unmittelbar zugänglich, es gibt keine Geschichte an sich, sondern immer nur unterschiedlich gedeutete (Re)konstruktionen einer historischen Wirklichkeit. Die Vermittlung von Geschichte ist vor allem Erzählung. Fragmente der Vergangenheit werden zu einer chronologischen, plausiblen und konsistenten Narration zusammengefügt. Mit dem Muster von Anfang, Handlungsverlauf und Ende wird Sinn gestiftet. Res gestae werden zu historia rerum gestarum.
Geschichtserzählungen beruhen immer auf narrativen Selektionsmustern. Manchen Ereignissen der Vergangenheit wird Bedeutung zugeschrieben, anderen nicht.[3] Narrative tauchen in unterschiedlichen Feldern auf: Sie sind Teil wissenschaftlicher Untersuchungen, finden sich in Schulbüchern genauso wie in Denkmälern, Gedenkstätten, Museen, Romanen, Filmen oder im Theater.

Wie wird die jüngste deutsch-deutsche Zeitgeschichte gegenwärtig erzählt? Was wird hervorgehoben, was wird ausgelassen? Ein gängiges Narrativ der öffentlichen Historisierung der DDR betont den Unrechtscharakter der SED-Herrschaft sowie deren friedliche Überwindung. Mit bipolaren Begriffspaaren wie Demokratie und Diktatur, Freiheit und Unfreiheit, Rechtsstaat und Unrechtsstaat zeichnet die vom Historiker Martin Sabrow als Diktaturgedächtnis definierte Erinnerungslandschaft ein negatives Kontrastbild der DDR vor der Folie des gegenwärtigen Gesellschaftssystems mit seinen freiheitlich-demokratischen Traditionen.[4]

Das von der staatlichen Geschichtspolitik privilegierte und in der Fachgeschichte dominante Geschichtsbild des Diktaturgedächtnisses steht jedoch in der Gefahr, ein dualistisches Weltbild zu konstruieren und eine historische Teleologie zu suggerieren, der zufolge die deutsche Geschichte über die Irr- und Umwege von zwei Diktaturen mit dem Jahr 1990 ihr Happy End gefunden zu haben scheint. Manche erliegen ihr. Denn für eine simple und eindimensionale Erzählweise der jüngsten Zeitgeschichte liefert die Erinnerungskultur in Deutschland einige Beispiele, die das vielbeschwo- rene kulturpolitische Ziel einer pluralistischen Erinnerungskultur unter- laufen und zur leeren Formel werden lassen. Nicht erst seit der öffentlichen Debatte um die Empfehlungen der Expertenkommission zur Zukunft der DDR-Aufarbeitung (2006) oder den Studien zum DDR-Bild von Schülern (2005 und 2008) ist deutlich geworden, dass neben dem Gedenken an das Macht- und Überwachungssystem besonders in ostdeutschen Familien auch andere Erinnerungen mit der DDR verknüpft sind: Erzählungen über glückliche Ferientage in der Datsche oder Freundschaften bei der FDJ. Erinnerungen an zu Kultprodukten emporgestiegenen Konsumgütern. Aber auch das Gefühl, man habe sich „irgendwie durchwurschteln“ können. Nicht alles sei schlecht gewesen.

Neben diesen individuell-alltäglichen Erinnerungen, die sich unter dem Begriff des Arrangementgedächtnisses zusammenfassen lassen, kann eine dritte Erzählung benannt werden: Das in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsente Fortschrittsgedächtnis hält angesichts von Weltfinanzkrise und Sozialabbau an den Ideen des Sozialismus und dessen Zielen fest und sieht darin eine legitime Alternative zur Gesellschaftsordnung des Kapitalismus.

Den unterschiedlichen Deutungen der DDR-Vergangenheit zum Trotz lassen sich Gemeinsamkeiten und Parallelen der drei Erinnerungsmuster beschreiben: Sie ringen um Geltungshoheit und fordern Verbindlichkeit. Außerdem nehmen sie für sich in Anspruch, Treuhänder der einzig wahren Erzählung über die DDR zu sein, wie analoge Erzählstrukturen erkennen lassen. Aus der Eindimensionalität und Unterkomplexität dieser narrativen Struktur entsteht Konkurrenz. Denn während in der fachwissenschaftlichen Forschung wie auf staatspolitischer Ebene Konsens über die Dominanz des Diktaturgedächtnisses herrscht, hat sich in der öffentlichen Erinnerungskultur noch kein einheitliches Geschichtsbild der DDR verankert. Zeitgeschichte als „Geschichte der Mitlebenden“ (Hans Rothfels) wird auch von denjenigen Zeitgenossen geschrieben, die die zu beschreibende Vergangenheit miterlebt haben. Man kann sie nicht einfach ausschließen.

Anders als in der Geschichtswissenschaft geht es in der Erinnerungskultur nicht um die „Wahrheit“ der Vergangenheit, sondern in erster Linie um individuelle Wahrnehmungen, Erfahrungen und Emotionen, die aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Verwobenheit konkurrierende Deutungen der DDR-Vergangenheit forcieren. Darüber hinaus verändern sich mit jeder Generation und dem Zeitabstand zu vergangenen Ereignissen die möglichen Zugänge zu Geschichte, sodass notwendigerweise auch die Praxis der Vermittlung und mit ihr mögliche Erzählweisen einem Wandel unterworfen sind. Durch das Spannungsverhältnis von Diktatur-, Arrangement- und Fortschrittsgedächtnis verschärft sich die Frage nach der Aufarbeitung des SED-Unrechts vor dem Hintergrund privaten Glücks und gesellschaftlicher Utopien.

Je ein Beispiel aus Film und Theater zeigen diese Dynamik. Generell haben künstlerische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit mindestens zwei Funktionen: Zum einen besitzen sie die Kraft, Narrative entweder aufrechtzuerhalten oder zu unterwandern. Zum anderen multipliziert künstlerische Historisierung aber auch historische Vermittlungsformen. Kunst konstruiert und dekonstruiert kollektive Deutungsmuster und Erinnerungsstereotypen.[5]

Das Film- wie das Theaterbeispiel beleuchten jeweils unterschiedliche Facetten der Gedächtnistypen, betonen bestimmte Aspekte stärker und lassen andere außen vor. Sie ermöglichen Einblicke in die Bandbreite möglicher DDR-Erzählmuster auf künstlerischer Ebene.
 

Zurück zur „Frau vom Checkpoint Charlie“: Sara Bender, so der Filmname von Jutta Gallus, sieht sich nach harmloser Kritik am DDR-System Schikanen ausgesetzt. Obwohl sie lediglich ein friedliches Leben für ihre Familie beansprucht. Allen Widerständen zum Trotz lehnt sich die Mutter gegen die Machenschaften von SED und Stasi auf und überwindet sie schließlich nach einem jahrelang aussichtslos erscheinenden Kampf.

Jedoch stimmen die Ereignisse im Film nur grob mit dem tatsächlichen Geschehen überein: Kein Wort davon, dass die beiden Mädchen nach der Trennung von ihrer Mutter bei ihrem leiblichen Vater lebten oder dass die Töchter beliebte Kinderstars der DDR-Fernsehserie „Geschichten übern Gartenzaun“ waren und eine Familienzusammenführung aus Sicht der DDR-Führung durchaus von öffentlichem Interesse war.[6] Stattdessen wird die Lebensgeschichte umgeschrieben: die geplatzte Hochzeit mit dem Lebensgefährten, der sich am Ende als Mitarbeiter der Stasi entpuppt, oder die Unterbringung der Mädchen in Kinderheimen und bei einer systemtreuen Pflegefamilie. Durch diese dramaturgische Zuspitzung der Familiengeschichte lässt der Film keinen Zweifel daran, was richtig oder falsch, gut oder böse ist. Der Zweiteiler stellt die richtige westliche Ordnung der falschen der DDR gegenüber und fordert dem Zuschauer über die Hauptfigur eine Identifikation mit freiheitlich-demokratischen Werten ab. Mit dieser bipolaren Erzählstruktur wird „das demokratische Superweib“ zum „Sinnbild der deutschen Teilung“ stilisiert.[7]

So steht der Film exemplarisch für eine simple Historisierung der DDR, die Geschichte als Kollektivsingular definiert und die suggeriert, die darge- stellten Ereignisse seien Realhistorie, neben der keine weiteren Geschichten existierten. Aufgrund seiner narrativen Komplexitätsreduktion folgt der Film dem Diktaturgedächtnis und regt eine historische Klischeebildung an, die die historische Urteilskraft beeinträchtigt.[8]

Darüber hinaus drückt die Überzeichnung von Gut und Böse eine historische Siegermentalität aus, die viele DDR-Bürger als Enteignung ihrer Biografie empfinden (und somit der viel beschworenen inneren Einheit nicht förderlich ist). Die Komplexität der Lebenswirklichkeit in der Diktatur, die ein großer Teil der DDR-Bevölkerung zu Recht für sich beansprucht, wird außen vor gelassen. Der Film führt dem Zuschauer Vorbilder vor Augen, die trotz ihrer privaten Familien- und Liebesgeschichten und gegen alle Widerstände für Freiheit und Demokratie kämpften. Weniger heroische Lebenswirklichkeiten werden ausgeklammert.

„Die Frau vom Checkpoint Charlie“ ist sicherlich ein Extrembeispiel, das die Frage aufwirft, ob Filme aufgrund des scheinbaren Zwangs zur linearen Darstellung nicht ohnehin nur begrenzte Möglichkeiten besitzen, Klischees zu durchbrechen. Folgen wir, ohne beides gegeneinander auszuspielen, dem erinnerungskulturellen Problem ins Theater. Welche Techniken werden auf der Bühne angewendet, um von der Vergangenheit zu erzählen? Besitzen dort alle drei Gedächtnistypen ihre Berechtigung?
 

Ein dunkler Raum. Darin verteilt weiße Buchstaben aus Pappmaschee. Horizontal und vertikal angeordnet zeigen sie die Begriffe Sputnik, USSR, Republik, BRDDR, KO, Zone. Links ein Lichtpult, rechts ein Keyboard. Ein Mann mit einer Dagobert-Duck-Maske vor dem Gesicht und einem Helm in Form des Berliner Fernsehturms unter dem Arm betritt die Bühne und greift zum Mikrofon: “It seems like just yesterday that I was riding back from Piggly Wiggly after grocery shopping with my mother. Of course it wasn’t yesterday, it was more like the summer of 1970. And if memory serves me correctly I was five years old. Well, we were riding back in our 1965 Pontiac Catalina, I heard a reporter on the radio say something about the war in Vietnam. I didn’t know that we were in a war, so I asked my mum if we were fighting the Germans again. That’s when I first heard that terrible word. ‘No son’, she said, ‘we are fighting the communists.’ I asked her who these communists were and where they came from. She paused and said: ‘No one really knows’.”[9]

Mit dieser im Märchenerzähler-Ton gehalten Kindheitserinnerung beginnt die Performance “little red (play): herstory” der Theatergruppe andcompany&Co.[10] Nach einer Pause treten drei weitere Personen in den Raum. Auch unter ihren Armen klemmen überdimensionierte Kopf- bedeckungen, eine Mickey-Maus-Maske, ein Astronautenhelm, eine Uhr mit rücklaufenden Ziffern. Klaviermusik klingt an. Der Erzähler des 

Abends führt ein: “After the end of history, history wanted to take a break. She had always been the story of some big guys, you know. Gods, kings, the bourgeoisie. And now she thought it would be time for a little nap. She just needed some quality time on her own. ‘But you can’t be your own story’, said little red, ‘you have to be someone’s story.’ ‘Oh, really? Do you really think so?’ history replied. ‘Yes’, little red insisted, ‘but I have an idea. Why don’t you become my story?’ ‘Well, if it really has to be ... Ok, then,’ said history. And so she became herstory.”

Wie gehen Kommunisten mit dem Ende ihrer Geschichte um? Was bleibt, wenn eine Utopie sich selbst delegitimiert? Diese Fragen diskutiert die Theatergruppe um Nicola Nord. Von diesem Material und ihrer eigenen Kindheit inspiriert, unternimmt Nicola Nord als Figur little red eine Zeit- reise, die sich der klassischen Erzählstruktur von Anfang und Ende widersetzt. Die Produktion zeigt keine Handlung an sich, sondern bricht mit narrativen Mustern der Chronologie, verwebt historische Ereignisse und individuelle Erlebnisse in Wort- und Klangcollagen zu einem assoziativen Strom: little red wächst im Westen auf und verbringt ihre Sommerferien in einem Pionierlager der DDR. Dort kommt es auch zu jener für little reds Zeitreise relevanten Verabredung, sich in der Silvesternacht 1999 mit ihren Freunden unter der Weltzeituhr auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz zu treffen. Doch in jenem Jahr ist die DDR längst Geschichte. little red hat ihre Vergangenheit und Zukunft mit dem von Francis Fukuyama so benannten Ende der Geschichte 1989 verloren: „Alle haben so ihre Geschichte. Nicht so little red. little red muss ihre Geschichte erst noch finden. Deswegen sucht sie sie. Alle kommen von früher, aber little red kommt von später. Alle kommen aus der Vergangenheit, aber little red kommt aus der Zukunft. Wann ist ihre Ankunft?“

Und so beginnt die Zeitreise von little red und ihren Mitstreitern. Aus der Perspektive des dritten Jahrtausends blicken die Theaterschaffenden von andcompany&Co. auf die Vergangenheit von little red sowie auf die gesellschaftspolitische Utopie des Kommunismus zurück. Wie sähe die Gegenwart aus, wenn die DDR noch existieren würde? andcompany&Co. nehmen das Verb „erzählen“ wörtlich: Sie stellen keine Ereignisse dar, sondern geben die Handlung in Worten wieder. Die Zeitreise erschließt sich dem Zuschauer aus der Erzählung. Und während little red auf der Stelle in 
eine vergangene Zukunft rennt, wird das Narrativ des SED-Unrechtsstaats mit der Kommunistenverfolgung in den USA der späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahre (der sog. McCarthy-Ära) vermischt, indem Zeugen- aussagen Walt Disneys vor dem „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ eingeflochten werden. Text und Musik folgen dem Prinzip von Remix und Loop, von Verdoppelung, Vermischung und Wiederholung. Permanent entstehen, vor allem durch die Zweisprachigkeit, neue Sinnzusammenhänge. Neben politischen und historischen Themen finden popkulturelle Gegenstände des 20. Jahrhunderts Eingang in die Performance: John Lennon steht gleichberechtigt neben dem Mauerfall, Erich Honecker neben Dagobert Duck.

Durch das Verweben von autobiografischen Erfahrungen und zeithistorischen Dokumenten, von Authentischem und Fiktionalem pluralisiert “little red (play): herstory” Erinnerungen und schafft einen reflexiven Mehrwert. Mithilfe der fragmentierten und entteleologisierten Erzählung werden gleichzeitig Geschichte als Kollektivsingular und die gängige Public History hinterfragt.
Die Performance trifft sich mit der neueren zeithistorischen Forschung, die Geschichte nicht mehr in einer hierarchischen Struktur historisch rekonstruierbar sieht, sondern Pluralisierung von Geschichte zum Motto erklärt. Diese Einsicht setzen die Theaterschaffenden von andcompany&Co. in der Performance um, indem sie aus dem Ende der Geschichte den Anfang einer Geschichte machen: aus history wird herstory. „Es waren einmal vier Temponautinnen, die waren überall. Und die versuchten, was noch kein Mensch vor ihnen geschafft hatte. Sie wollten zurück in ein zukünftiges Jahr, zurück in ein Jahr der Zukunft, das sich bereits vor langer Zeit ereignet hatte und das sich gleichzeitig immer wieder neu ereignen würde.“

Der Vergleich von „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ und “little red (play): herstory” zeigt das Spannungsfeld auf, in dem sich Erzählweisen der jüngsten deutsch-deutschen Zeitgeschichte bewegen können. Während der Film die DDR gemäß dem dominanten Geschichtsbild darstellt, reflektiert die Performance die unterschiedlichen Gedächtnistypen und spielt mit ihnen und ihren Erzählstrukturen. Anhand einer individuell-biografischen Begebenheit, historischen Zeitdokumenten und Fiktionalem wird in der Performance eine Vergangenheit erzählt, in der alle drei Gedächtnistypen Eingang finden: die Anerkennung des SED-Unrechts, Erinnerungen an glückliche Tage in der DDR sowie Träume von einer besseren Zukunft jenseits des Kapitalismus, die im Spiel miteinander verwoben werden.

Damit wird deutlich, dass sich Diktatur-, Arrangement- und Fortschrittsgedächtnis zum einen überlagern und nicht isoliert voneinander zu betrachten sind. Zum anderen stellen sie Reaktionen auf die jeweilige Überbetonung von nur einem Aspekt dar. Das idealtypische Modell besitzt also nur dann heuristische Kraft, wenn die Typen dynamisiert werden. Auch in der erinnerungskulturellen Realität konkurrieren Deutungen der DDR, die nicht von einer Instanz ausgeschlossen werden können. Die Performance macht die eindimensionalen Erzählstrukturen der drei Erinnerungsmuster, die mit ihren Erzählungen versuchen, Geschichtsbilder festzuschreiben, transparent und bricht diese auf. “little red (play): herstory” sucht Ausschnitte der Vergangenheit und skizziert Geschichte(n), die sich ihrer Vergänglichkeit bewusst sind.

Mit diesen Überlegungen wird nicht für die Aufgabe des Diktaturparadigmas oder der Verharmlosung plädiert. Wenn die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit sich aber darauf einlässt, die mit fragmentierten und entteleologisierten Erzählstrukturen verbundenen Irritationen zuzulassen, bietet sich die Chance, aus den seit 1990 dominierenden Diskursen auszubrechen: „Die vergangene Zukunft als solche in den Blick zu nehmen, sie nicht immer schon ex post mit dem zu verrechnen, was dann tatsächlich geschah, fällt den Nachgeborenen in der Regel schwer“, schreibt Lucian Hölscher.[11] little reds Zeitreise verabschiedet antiquarische Geschichtsschreibung und erweitert diese mit ihrer Suche nach Orientierung in der Gegenwart um einen Zukunftsbezug.

Quellen

1  Jutta Gallus machte 1984 durch einen Hungerstreik, einem Besuch bei Papst Johannes Paul II. und während der KSZE-Konferenz 1985 in Helsinki auf ihre Situation aufmerksam, indem sie sich an ein Geländer kettete. Berühmt wurde ihr Protest am Grenzübergang Checkpoint Charlie, wo sie ab Oktober 1984 wiederholt für die Ausreise ihrer Kinder aus der DDR demonstrierte. Vgl. Ines Veith, Die Frau vom Checkpoint Charlie, München 2006.

2  Stefan Ruzas/Alexander Wendt, Operativer Vorgang Galle, in: Focus 28 (2008), S. 106.

3  Vgl. Klaus Weimar, Der Text, den (Literar-)Historiker schreiben, in: Hartmut Eggert/ Ulrich Profitlich/Klaus Scherpe (Hrsg.), Geschichte als Literatur. Formen und Gren- zen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990, S. 29–39, hier S. 29.

4  Vgl. Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: ders., Erinnerungsorte der DDR, Mün- chen 2009, S. 11–27, hier S. 18–20.

5 Vgl. z. B. Eggert/ Profitlich/Scherpe (Hrsg.), Geschichte als Literatur.

6  Vgl. Peter Adler, Die Frau vom Checkpoint Charlie. Die Dokumentation, 2007.

7  Christian Buß, Das demokratische Superweib, in: Spiegel Online vom 28. 9. 2009.

8  Vgl. Sabrow, Die DDR erinnern, S. 14.

9  andcompany&Co., “little red (play): herstory”. Aufführung vom 2. 2. 2008 im HAU, Berlin. Alle weiteren Zitate in diesem Abschnitt ebenda.

10  Die Performance “little red (play): herstory” ist eine Produktion von andcompany&Co. und dem Theaterhaus Gasthuis in Koproduktion mit dem Freischwimmer Festival, DasArts und dem Fonds Darstellende Künste e. V., Berlin (2006). Die DVD der Performance ist unter www.andco.de erhältlich.

11 Lucian Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttin- gen 2003, S. 46.