Personen mit Kopfhörern und Mikrofon. (v.r.n.l): TV-Reporter Karl-Eduard von Schnitzler (DDR-Rundfunk), Hans-Jürgen Wiesner (ZDF) bei Absage der Übertragung. Berlin (Berlin West), 02. 09. 1971. Die Unterzeichnung des Viermächteabkommens über Berlin durch die alliierten Botschafter im Kontrollrat ist geplatzt. Sprecher der Siegermächte vertrösteten die internationale Presse auf den nächsten Tag.
© Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, Bild: 710902

Mit dem Ende des Sommers 1989 wird der Klassenkampf schärfer. Im Fernsehen der DDR ist vor allem einer dafür verantwortlich: Karl-Eduard von Schnitzler, Chefkommentator, Autor des „Schwarzen Kanals“, Mitglied des Staatlichen Komitees für Fernsehen der DDR und des Zentralvorstands der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Als sich im August und September 1989 vor den laufenden Kameras der westlichen Fernsehreporter Tausende DDR-Bürger von den Zeltplätzen und aus den Ferienquartieren Ungarns auf den Weg in Richtung Bundesrepublik machen, hat Schnitzler gerade seine Autobiografie veröffentlicht. Das Buch, 1987/88 geschrieben, ist dem „Schwarzen Kanal“ sehr ähnlich – eine Montage aus selektiver Information, Selbstinszenierung und historisch-politischer Dogmatik par excellence. Ende der Achtzigerjahre muss dieses Buch seinen Lesern vor allem als Beleg für die anhaltend streng ideologische Weltsicht der Gründergeneration erscheinen, aus der die politische Elite der DDR rekrutiert wurde. 1918 geboren, gehört Schnitzler zu jenen jungen Männern (und wenigen Frauen), die mit Gründung der DDR 1949 in einflussreiche Positionen in allen Bereichen der Gesellschaft einrücken und daher die Entwicklung der DDR bis zu ihrem Ende wesentlich mitbestimmen.

 

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Das Ende des „Schwarzen Kanals“ im Herbst 1989
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Am 10. September 1989 entscheidet die ungarische Regierung des Reformsozialisten Miklós Németh, der DDR den Beistand zu kündigen und deren Bürger in den Westen ausreisen zu lassen. Der „eiserne Vorhang“ bekommt damit einen ersten offiziellen Riss. Acht Tage später soll Karl-Eduard von Schnitzler im Fernsehen der DDR aus seinem Buch und seinem Leben erzählen. In der Unterhaltungstalkshow „Klönsnack aus Rostock“ aus dem „Café Atlantic“ in Warnemünde, die am 18. September um 20 Uhr gesendet wird, tritt der 71-Jährige in der abendlichen Plauderrunde auf. Eingeladen sind eine Bergsteigerin aus der Sächsischen Schweiz, eine Fischverkäuferin, ein Heimatforscher aus Mecklenburg und eben Herr von Schnitzler.[2] Tatsächlich dreht sich das Gespräch sehr schnell um die adlige Herkunft des prominenten Gastes, dessen Großmutter ein illegitimes Kind des deutschen Kaisers Friedrichs III. gewesen sein soll, wie Schnitzler in seiner Autobiografie selbst verbreitet. Die Moderatoren des „Klönsnack“, Monika Schepeler und Horst Düsterhöft, sind dem Konzept der Sendung gemäß bemüht, Menschliches und das Besondere im Alltäglichen zu präsentieren. Eine dicke Zigarre rauchend, ist der Chefkommentator Schnitzler eher bestrebt, persönliche Fragen abzublocken und stattdessen seine bedingungslose Parteinahme für den offiziellen Antifaschismus und den Staatssozialismus der DDR zur Schau zu stellen.

„Nun haben Sie wirklich eine Verwandtschaft, der Name von Schnitzler ist ja verbunden mit einem ganz finsteren Kapitel der deutschen Geschichte“, versucht die Moderatorin eine Annäherung an die Herkunft des Gastes. Dessen knappe Antwort gleicht einem agitatorischen Stakkato: „Zwei Vettern, einer Hitlermacher als Bankier. Ein Vetter bei der IG Farben, beide im Nürnberger Prozeß als Angeklagte, beide verurteilt und nach kurzer Haft wieder freigelassen. Mit allen Ehren und in Ansehen im Bett gestorben, statt gehenkt zu werden!“ Auch der Versuch Monika Schepelers, die politische Verkrampfung des Gesprächs mit einem Hauch von Perestroika zu mildern, lässt Schnitzler linientreu an sich abprallen. „Sie schreiben“, fragt die Moderatorin: „‚Ich habe nie in meinem Leben an der Sowjetunion gezweifelt.‘ Nun wäre es aber menschlich verständlich gewesen, wenn sie ab und zu an der Sowjetunion gezweifelt hätten. Denn gerade ihrem kommunistischen Bruder Hans ist unter Stalin in der Sowjetunion übel mitgespielt worden?“

Die Antwort enthält nicht eine Spur Abweichung gegenüber dem offiziellen, von Erich Honecker persönlich gehüteten Geschichtsbild: „Ich würde Einzelereignisse nicht über Gesamtereignisse stellen, das ist das eine. [...] Als deutscher Kommunist kann ich nicht vergessen, darf ich nicht vergessen, daß meine Republik, daß mein Staat ein Kind des roten Oktobers ist. Ich kann nicht vergessen, wie viele Sowjetsoldaten für die Befreiung auch meiner Heimat, meines Vaterlandes und die Errichtung meines Staates gefallen sind mit dem Namen Stalins auf den Lippen.“ Damit gerät seine erklärte Treue zur Sowjetunion in einen für die meisten Zuschauer offensichtlichen Widerspruch. Ist es doch der Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, der sich zur selben Zeit für einen (selbst)kritischen Umgang mit der Zeit des Stalinismus einsetzt.

Auch im Unterhaltungsprogramm des DDR-Fernsehens unterscheidet sich Schnitzlers Auftreten nicht im Geringsten von seiner Art des Kommentars in der „Aktuellen Kamera“ oder in seinem „Schwarzen Kanal“. Seit dem 21. März 1960 gestaltet und moderiert er Montag für Montag den „Kanal“, der schnell zum Synonym für propagandistisches Fernsehen in der Systemkonfrontation des Kalten Krieges wird.[3] Gegen 21.30 Uhr hat Chefkommentator Schnitzler seinen wöchentlichen großen Auftritt vor kleinem Publikum. Denn die meisten Zuschauer schalten um oder gleich ganz ab. In der DDR kursieren darüber Witze wie: „Was ist ein Schnitz? Die minimale Zeiteinheit, in der man den ‚Schwarzen Kanal‘ abschalten kann.“[4] Tatsächlich weist die geheime Zuschauerforschung des DDR-Fernsehens für den „Schwarzen Kanal“ im ersten Halbjahr 1989 eine Einschaltquote von durchschnittlich 3,4 Prozent der Haushalte aus. Ausgerechnet am 1. Mai, dem „Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse“, sehen nur noch 0,5 Prozent der DDR-Fernsehhaushalte Schnitzlers Klassenkampf im Fernsehen.

Schnitzler empfindet seinen „Kanal“ selbst als journalistische Lebenshilfe: „Das Feindbild? Das bedeutet nicht nur entlarven und warnen. Das ist mehr: Mit dem Mittel der Wahrheit Widerstände und Hindernisse suchen und darstellen, die Kräfte analysieren und definieren, die dahinter stehen, lebenswichtige Kenntnisse vermitteln, dem Geschichtsbewußtsein Geschichtsgefühl hinzufügen, dem Klassenbewußtsein Klassengefühl. Damit der Mensch sich zurechtfindet.“[5] In jeder Sendung führt er meist bis zur Unkenntlichkeit verkürzte Ausschnitte aus ARD und ZDF zusammen und kommentiert sie im Sinne der SED und deren aktueller Politik. Das kann zustimmend ausfallen, wenn die Berichterstattung von ARD und ZDF wirtschaftliche, soziale oder politische Probleme der Bundesrepublik behandelt. Dagegen wird jede Kritik des Westens an den Verhältnissen in der DDR brüsk als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ zurückgewiesen. Davon lässt er sich auch nicht abbringen, als die Krise der DDR durch die Massenflucht der Jugend im Spätsommer 1989 immer deutlicher wird. Im Gegenteil – Schnitzler verschärft den Ton eher noch.

Zwei Tage nachdem die Bundesminister Hans-Dietrich Genscher und Rudolf Seiters die Ausreise Tausender Botschaftsflüchtlinge in der Bonner Vertretung in Prag verkündet haben, behauptet Schnitzler im „Schwarzen Kanal“ am 2. Oktober 1989, die Hintergründe aufzudecken.6 „Guten Abend, meine Zuschauerinnen und Zuschauer! Durch großzügiges, humanitäres Entgegenkommen der Deutschen Demokratischen Republik sind vorgestern menschenunwürdige Zustände in BRD-Botschaften beendet worden. Dem ging voraus: eine Maßlosigkeit ohnegleichen an Provokationen, völkerrechtswidrigen Einmischungen, Vertragsbrüchen, Heuchelei und Volksverdummung – die ihresgleichen suchten und immer noch suchen. Vergleichbar eigentlich nur mit jener Nazipraxis, erst Ausländer deutscher Herkunft (dazu Halb-Deutsche und Schon-längst-nicht-mehr- Deutsche) gegen ihre eigenen Staaten aufzuhetzen, sie dann zu einer ‚Flucht‘ zu verlocken und ihre Ankunft im Staat des Revanchismus und des ideologischen Krieges mit Krokodilstränen frenetisch-hysterisch zu feiern. [...] Und auch die unerträgliche Heuchelei über ‚menschenunwürdig‘ und ‚zusammengepfercht‘ und vor allem ‚die armen Kinder‘. Tatsächlich, die Verführer und Menschenhändler entdecken ihr ‚Herz für Kinder ...‘“

Dieser Tirade folgt die Einblendung des westdeutschen Regierungssprechers Hans Klein vor Journalisten in Bonn mit dem Satz: „Zur Stunde geht es aber darum, für die Zufluchtsuchenden auf dem Prager Botschaftsgelände, darunter Hunderte von kleinen Kindern, wenigstens ein Mindestmaß an menschenwürdiger Unterbringung zu schaffen.“ Schnitt. Etwas mehr als 30 Sekunden ist dann ein Ausschnitt eines Nachrichtenbeitrags zu sehen, der Kinder im Garten der Prager Botschaft zeigt. Im Anschluss erscheint wieder Schnitzler auf dem Bildschirm und erklärt, wie der Flüchtlingsstrom entstanden ist – durch westliche Propaganda. Für ihn sind die Botschaftsflüchtlinge eine Inszenierung und die Flüchtlinge von westlichen Medien und westlichen Politikern absichtlich Irregeleitete: „Was für eine abgrundtiefe Heuchelei. Denn dieses Kinderelend kommt doch nicht von allein. Was sind das für Väter, was für Mütter, die ihre Kinder in Enge und Dreck entführen. Es sind doch Politiker und Journalisten der BRD, die mit ihren elektronischen und gedruckten Dreckschleudern junge Leute und Eltern mit Kindern verlocken, sich selbst in Menschenunwürdigkeit einzupferchen, die nun heuchlerisch beklagt wird. Denn das ist wohl das Letzte, was man der Deutschen Demokratischen Republik nachsagen kann, sie sei nicht kinderfreundlich [...]. Man muß schon sehr blind, vergeßlich, verbohrt, verhetzt sein, um nicht zu wissen, wo Kinder und Jugendliche eine Zukunft haben und wo nicht.“

Dem schließen sich wieder mehrere sehr kurze Ausschnitte aus ARD oder ZDF an, die die Problematik fehlender Kindergartenplätze in Westdeutschland ansprechen. Ausführlich widmet sich der „Kanal“ noch dem vermeintlichen Kinderhandel großen Stils im Westen, der durch Bildschnipsel aus verschiedensten Reportagen und Berichten belegt werden soll. Analphabetismus und Rechtsextremismus komplettieren das Panorama der Bundesrepublik. Entsprechend endet die Sendung nach fast zwanzig Minuten „Orientierungshilfe“ mit der Feststellung des Chefkommentators: „Die Jugend im kapitalistischen Staat ist zu bedauern. Denn sie ist ein Produkt ihrer kinder- und menschenfeindlichen Gesellschaft. Da helfen alle plötzlich entdeckten Jugendhilfegesetze nichts, auch keine ablenkende Hetze gegen den humanistischen, kinderfreundlichen Staat und kein Geschrei: ‚Ein Herz für Kinder!‘ Der kapitalistische Staat ist von gestern und bietet keine Zukunft.“ Eine Schlussfolgerung, die angesichts der ökonomischen und politischen Krise der DDR selbst SED-Mitglieder nicht mehr ohne Weiteres überzeugen konnte.

Ganz ähnlich tönt es eine Woche später am 9. Oktober im ersten Programm des DDR-Fernsehens. Gerade als in Leipzig die Staatsmacht vor den 70 000 friedlichen Teilnehmern der bis dahin größten Montagsdemonstration zurückweicht, erklärt Karl-Eduard von Schnitzler, dass alle Flüchtlinge im Westen „das Ende von Blütenträumen“ zu erwarten haben.[7] Am 16. Oktober verbietet sich Schnitzler unbeeindruckt von den Ereignissen in der DDR mal wieder jegliche „Einmischung in innere Angelegenheiten“ durch die Bundesrepublik, die sich lieber an „die eigene Nase“ fassen solle.[8| Vor allem die westlichen Journalisten und Korrespondenten werden zur Zielscheibe von Schnitzlers Kommentaren: „Da wird der feine Unterschied einfach weggelassen zwischen freiem Informationsfluß auf der einen Seite und der ganzen westlichen Spannweite von Wahrheit und Halbwahrheit über die Lüge bis zu irreführenden Spekulationen, ja, zur Organisation von Zusammenrottungen, zur Anleitung schließlich für Provokationen und Fluchtbewegungen.“

Damit behauptet Schnitzler einfach, dass die Demonstrationen Zehntausender und die anhaltende Fluchtwelle in die Bundesrepublik von den westlichen Medien verursacht und gesteuert werden. Schließlich sei – so der Tenor Schnitzlers – die DDR dabei, zu neuen Höhen des Sozialismus aufzubrechen. Es gebe daher keinen Grund zu Flucht oder Protest. Als Kronzeugin für diese These ruft Schnitzler die Eiskunstläuferin und „mündige Bürgerin der DDR“ Katharina Witt auf, die charmant lächelnd drei salomonische Sätze in westliche Kameras und Mikrofone sagt: „Ich glaube, daß wir guten Grund hatten, die 40 Jahre DDR zu feiern. Es ist viel erreicht worden. Es sind auch ein paar unschöne Dinge passiert und ich glaube, man muß sich Gedanken machen über das Wie und Warum.“

Doch die Absichten des Chefkommentators schlagen in ihr Gegenteil um. Mit seinen Auftritten und Kommentaren motiviert er nicht zum Klassenkampf gegen den Kapitalismus im Westen, sondern zum Protest gegen die SED, als deren Sprachrohr er sich gibt. Denn von Ende Juni bis Mitte Oktober 1989 schweigt sich die Staats- und Parteiführung zur Lage im Land aus. Auf der Suche nach Informationen, nach Anzeichen für die innere Entwicklung der DDR schalten jetzt mehr Zuschauer den „Schwarzen Kanal“ ein als je zuvor. Im September klettert die Einschaltquote auf über 9, im Oktober sogar auf fast 15 Prozent. Was die Zuschauer dort von Schnitzler geboten bekommen, sorgt für Unverständnis und Entsetzen. Unzählige Eingaben, Briefe mit Beschwerden, erhält das Fernsehen der DDR in jenen Wochen. Was bis dahin unmöglich war – ganze Brigaden, Gewerkschafts- oder Parteigruppen und viele einzelne Zuschauer fordern die Absetzung des „Schwarzen Kanals“ und seines Chefkommentators. „Karl-Eduard von Schnitzler ist nicht in der Lage, die gegenwärtig in unserer Republik verlaufenden Prozesse in der Gesellschaft, und dabei auch in den Medien, zu begreifen,“ schreibt etwa Dietrich B. aus Erfurt am 17. Oktober 1989 an den DDR-Fernsehchef Heinz

Adameck unter dem Eindruck der Sendung vom Abend zuvor.[9| „Karl-Eduard von Schnitzler versucht, Menschen zum Haß gegenüber anderen zu erziehen. [...] er hat ein gutes Stück Arbeit dazu geleistet, daß so viele Bürger (in seinem Jargon: Verräter) unser Land verlassen haben und täglich noch verlassen.“ Der Zuschauer fordert, den Chefkommentator von seinen Aufgaben zu entbinden, und erinnert sich auch noch an dessen Auftritt in der Talkshow: „Geradezu pervers waren die Äußerungen des Karl-Eduard von Schnitzler im ‚Klönsnack‘ [...]. Hier bedauerte er, daß zwei seiner in der BRD lebenden Verwandten ‚normal‘ starben und nicht aufgehängt wurden.“ Auch auf vielen Demonstrationen und Kundgebungen wird in diesen Oktobertagen lautstark der Abtritt des kalten Kriegers gefordert: „Schnitzler in die Muppetshow“, rufen die protestierenden Bürger oder schreiben Slogans wie „Schnitzler, entschuldige Dich!“ auf ihre Transparente.

Selbst der SED-Oberbürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer, schreibt am 24. Oktober dem Fernsehchef Heinz Adameck einen Brief: „In der letzten Zeit bin ich wiederholt von Bürgern meiner Stadt aufgefordert worden, Dich über ihre sehr kritische Einstellung zum ‚Schwarzen Kanal‘ und den Argumentationen von Karl-Eduard von Schnitzler zu informieren. Er hat mit seiner undifferenzierten Art der Auseinandersetzung regelrecht den Volkszorn auf sich gezogen. In zahlreichen Großveranstaltungen und Bürgerforen wurde unter frenetischem Beifall mehrfach die Auffassung kundgetan, daß mit Schnitzler keine neue, zeitgemäße Qualität der Medienarbeit zu erreichen ist.“[10] Der Chefkommentator ist mit seiner Parteitreue längst zu einer Belastung für die SED-Spitze geworden. Egon Krenz, der sich nach dem Sturz Erich Honeckers müht, das Staatsschiff DDR durch eine „Wende“ wieder auf Kurs zu bringen, sucht nach symbolischen Zugeständnissen an die unzufriedene Bevölkerung. Angesichts der Welle des Protests gegen ihn beginnt der Stuhl des Chefkommentators im DDR-Fernsehen heftig zu wackeln.

Am 25. Oktober versucht Schnitzler noch mit einem Brief an Egon Krenz sich und seinen „Kanal“ zu retten, indem er sich dem neuen Generalsekretär andient: „Lieber Egon! [...] Ich versichere Dir, daß ich mit den mir verbleibenden Kräften und meinen Erfahrungen die Politik der Wende voll unterstütze und der Partei – wie seit 57 Jahren – treu zur Verfügung stehe, wo sie es für angebracht und nützlich hält.“[11] Schnitzler spricht sich in dem Brief dafür aus, die „ideologische Auseinandersetzung mit dem Klassenfeind“ im Fernsehen fortzusetzen. Dafür und für die „Reinhaltung des Feindbildes“ sei er durch Herkunft, Entwicklung und persönliche Kenntnisse „prädestiniert“. Und schließlich würden „Millionen wissen, daß ich der Erste in unseren elektronischen Medien war, der die Frage aufgeworfen hat, was wir falsch gemacht haben“. Daher sei er sehr beeindruckt, wenn jetzt sogar die Parteigruppe im Fernsehen der DDR seine Absetzung fordern würde. Nach reiflicher Überlegung sei er aber nicht bereit, den „Schwarzen Kanal“ zugunsten einer anderen Sendung aufzugeben, denn „die Deformierung des ‚Kanals‘ jedoch wäre ein opportunistisches, kapitulantenhaftes Zurückweichen“. Abschließend beschwört Schnitzler den neuen SED-Chef, „ein Lebenswerk, ein absolut neues Genre des kämpferischen Journalismus“ nicht mit einem Handstreich zu beseitigen, da dies für die Partei die „Fortsetzung lebensgefährlicher Fehler“ bedeuten würde.

Doch Krenz lässt sich nicht beeindrucken. Am 30. Oktober darf Karl- Eduard von Schnitzler nur noch für fünf Minuten auf Sendung gehen, um sich von den „lieben Genossinnen und Genossen“ zu verabschieden: „Nicht, daß ich etwas zu bereuen hätte. Der Umgang mit der oft unbequemen Wahrheit ist schwer, aber er befriedigt. [...] In diesem Sinne werde ich meine Arbeit als Kommunist und Journalist [...] fortsetzen.“[12] So enden nach insgesamt 1519 Folgen der „Schwarze Kanal“ und die Karriere des Chefkommentators des DDR-Fernsehens durch den Druck der Straße.

Angesichts der Krise der DDR im Spätsommer und Herbst 1989 erscheinen über 20 Jahre später das Verhalten und die Äußerungen des Karl-Eduard von Schnitzler bizarr und weltfremd. Sie einfach als Unsinn abzutun, greift allerdings zu kurz. Vielmehr stehen der Chefkommentator und dessen Ansichten für einen Journalismus und ein Verständnis von Massenmedien, das typisch für den Staatssozialismus in Ostmitteleuropa war. Radio, Fernsehen und Presse waren für die kommunistischen Parteien keine Kommunikationsmittel, sondern Instrumente zur Beeinflussung und Steuerung der Massen. Diese Vorstellungen eines Reiz-Reaktions-Schemas waren um 1900 in Westeuropa entstanden und vom russischen Revolutionär Lenin rezipiert worden. Dieser erhob die Medien zu einem Machtmittel und verband dieses Medienbild fast untrennbar mit seinem politischen Programm. Auch Jahrzehnte später, in den Achtzigerjahren, hatte sich daran nichts geändert. Für Karl-Eduard von Schnitzler war ein überwältigender Einfluss des Fernsehens keine Möglichkeit, sondern genauso Realität wie der geschlossene ideologische Diskurs, den er repräsentierte. Und könnte er die Massen steuern, würde der „Gegner“ erst recht davon Gebrauch machen. Dass es aber keine ferngesteuerten Massen waren, die 1989 auf die Straße gingen, sondern dass viele Einzelne aus freien Stücken für ihre individuellen Rechte demonstrierten, blieb dem altgedienten Parteijournalisten Schnitzler unvorstellbar. Damit gehörte er zu denjenigen, die am 6. Oktober 1989 vom Nachfolger Lenins, dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow in der „Tagesschau“ der ARD gewarnt wurden: „Gefahren lauern auf die, die nicht auf das Leben reagieren.“
 

Quellen

[1] Karl-Eduard von Schnitzler, Meine Schlösser oder Wie ich mein Vaterland fand, Berlin 1989.

[2] Deutsches Rundfunkarchiv (DRA) Potsdam-Babelsberg, AC7175.

[3] Vgl. Rüdiger Steinmetz/Reinhold Viehoff (Hrsg.), Deutsches Fernsehen Ost. Eine Programmgeschichte des DDR-Fernsehens, Berlin 2008, S. 118.

[4] Andrea Schiewe/Jürgen Schiewe, Witzkultur in der DDR. Ein Beitrag zur Sprachkritik, Göttingen 2000, S. 30.

[5] Von Schnitzler, Schlösser, S. 61 f.

[6] DRA Potsdam-Babelsberg, AC5263.

[7] So der Titel der Sendung, DRA Potsdam-Babelsberg, AC11031.

[8] DRA Potsdam-Babelsberg, AC12116.

[9] Bundesarchiv (BArch) Berlin, Bestand „Staatliches Komitee für Fernsehen“, DR 8/ 628.

[10] BArch DR 8/629.

[11] BArch DR 8/628.

[12] DRA Potsdam-Babelsberg, AC3799.

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Das Ende des „Schwarzen Kanals“ im Herbst 1989