Ein Gemälde zeigt folgende Szenerie: Auf einer spiegelnden Wasserfläche schwimmt eine kleine Insel wie ein Stück Holz. Wenige Menschen sind darauf versammelt. In einem Durcheinander von Müll und Satellitenschüsseln verharren die Personen in ratloser Haltung. Sie schauen mit verschränkten oder hängenden Armen auf das Meer hinaus, einer hockt resigniert auf dem Boden, ein weiterer liegt mit ausgebreiteten Armen, reglos. Kinder, Erwachsene und Alte sind dargestellt, ein Arbeiter und eine Ärztin. Die Insel schwimmt ohne Haus, Baum und Lebensraum. Nur ein Berg alten Metalls droht, in den Ozean zu rutschen. Die Enge, die die Menschen empfinden müssen, spricht deutlich aus dem Bild. Und in der Ferne, links am oberen Bildrand, schiebt sich eine schwarze, dichte und bedrohliche Wolkenfront heran. Ein Blitz zuckt daraus hervor. Unablässig nähert sich das Gewitter der winzigen Insel, auf der sich die Menschen drängen. Ihnen bleibt kein Handlungsraum, keine Möglichkeit. Die Lage scheint aussichtslos. Es bleibt nur die eine Frage: „Was nun?“
Der Inhalt des beschriebenen Bildes lässt sich zunächst ohne Kontext leicht interpretieren: Hier geht es um eine Gruppe von Inselgefangenen, die weder den Raum noch das Material besitzen, um sich vor einem herannahenden Gewitter zu schützen. Sie sind ihm ausgeliefert. Die Menschen können nichts tun. Sie verharren in stiller Erwartung. Hier wird ein Gefühl veranschaulicht, eine kollektive Befindlichkeit: Hilf- und ratlos verharren die Figuren im Angesicht einer bedrohlichen Situation.
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Bei dem vorgestellten Gemälde handelt es sich um die Bildtafel „Was nun?“,die der Leipziger Maler und Grafiker Wolfgang Mattheuer 1980 geschaffen hatte. Mattheuer war einer der bekanntesten Künstler der DDR und wurde geschätzt für seine ambivalenten Bildfindungen und deren vieldeutige symbolische Bezüge. 1927 im vogtländischen Reichenbach geboren, studierte er bis 1948 in Leipzig Buchgrafik und Illustration. 1953 wurde er Assistent an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig, 1956 Dozent, 1965 Professor. Er begründete zusammen mit Werner Tübke und Bernhard Heisig die „Leipziger Schule“. Seine Professur legte er 1974 nieder. Im gleichen Jahr ging sein Name durch die Presse der DDR, als das Albertinum in Dresden sein Werk den Gemälden des berühmten Romantikers Caspar David Friedrich vergleichend gegenüberstellte. 1977 machte er sich auch in Westdeutschland einen Namen, als sechs seiner Werke zur documenta 6 in Kassel ausgestellt wurden. Im gleichen Jahr folgte die erste Einzelausstellung in Hamburg.
Freunde und Zeitgenossen charakterisierten Mattheuer als scharfen Kritiker, der kein Blatt vor den Mund nahm, aber auch als introvertierten Zweifler und konsequenten Verteidiger menschlicher Werte. Seinen Gedanken und Meinungen verlieh er in Wort und Bild Ausdruck: „Ich [...] suche das Heutige, das Problematische, das Wesentliche“,[1] lautete ein viel zitierter Leitsatz des Künstlers. Dabei spielten für ihn philosophische Fragen ebenso eine Rolle wie die gesellschaftlichen und politischen Themen der DDR. Und dafür fand er Gleichnisse: Wie ein politischer Liedermacher ersann er Bildchiffren, um einen abstrakten Gedanken oder eine Idee zu veranschaulichen. Mit berühmten Gemälden wie „Die Flucht des Sisyphos“ oder „Hinter den sieben Bergen“ klagte der Künstler in den Siebzigerjahren gesellschaftliches und menschliches Fehlverhalten an. Nicht selten war der Realsozialismus Ziel seiner Mahnungen. Er wollte das Bestehende verändern. Die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz gab er trotz wachsender Resignation bis in die späten Siebzigerjahre nicht auf. Allein: Die DDR konnte seinen hohen Erwartungen nicht gerecht werden.
„Was nun?“ ist eines der bekannten Gemälde des Künstlers. Eine Inselgesellschaft, deren Handlungsraum auf ein Minimum begrenzt ist, wird von einem Unwetter heimgesucht. Resignation macht sich breit. Hier ist die Geschichte einer unsicheren, möglicherweise problematischen und gefährlichen Lage bildhaft veranschaulicht. Was oben noch allgemein gedeutet wurde, soll nun konkret werden: Was beabsichtigte der Künstler mit dem Gemälde? Vor welchem Hintergrund entstand es, wie ist es zu deuten? Wie wurde es rezipiert? Der Beitrag soll aus einer kunstikonologischen Perspektive zeigen, wie mittels Malerei politische Fragen thematisiert, reflektiert und in einer spezifischen Bildsprache zum Ausdruck gebracht werden konnten.
Die ursprüngliche Idee für das Bild entstand bei einem alltäglichen Spazier- gang des Künstlers durch das heimatliche Vogtland. Mattheuer war ein politischer Mensch, ein scharfer Denker und hehrer Kritiker. Auf der anderen Seite liebte er die Natur und die Landschaft, ganz besonders die seiner Heimat im mitteldeutschen Dreiländereck. Hier besaß er ein Sommerhaus, in das er sich mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Ursula Mattheuer-Neustädt, gern zurückzog. Er schrieb poetische Zeilen über seine Natureindrücke und fertigte unzählige Zeichnungen und Ölstudien der Landschaft an. Darin fing er diffizile Stimmungen und jahreszeitliche Atmosphären ein. Hier beobachtete er auch die menschlichen Eingriffe in die Natur, die industrielle Nutzung und Zerstörung. Politik und Landschaft hingen für ihn immer zusammen: „Ich male die Landschaft. Sehe zunächst nur die Schönheit der Farben, die Spannung der Formen. Aber während ich mich um das Bild mühe, denke ich gleichzeitig weiter. Und am Ende interessieren mich Ort und Farbigkeit an sich viel weniger. [...] es wird ein ‚thematisches‘ Bild, in das die Fragen und Überlegungen eingegangen sind, die mir bei der Arbeit kamen.“[2]
Auf Spaziergängen fand er Muße für Reflexionen, auch für kritische. Hier sah er die Veränderungen, hier wurden ihm die Zusammenhänge bewusst, und hier kamen ihm die Ideen für seine Bilder. So hatte die Grundidee für das Gemälde „Was nun?“ seinen Ursprung auch in einer der inspirierenden Wanderungen durch das Vogtland. Ende der Siebzigerjahre, erinnert sich seine Frau, fand Mattheuer auf einem seiner Streifzüge durch das Vogtland in der Talsperre Pöhl „beim Schwimmen ein Stück Treibholz“.[3] Das Fundstück beflügelte seine Fantasie, und er machte sich zunächst einen Spaß. Er montierte Schachfiguren auf dem Holzscheit und nannte das entstandene Objekt „Inselspiel“ (Abb. 2). Die Begriffe „Insel“ und „Spiel“ ber- gen vielschichtige Assoziationen – ein erster Bezug zum Gesellschaftlichen verdeutlichte sich für den Künstler in dieser Plastik. Die „Insel“ war unter Kritikern der DDR eine allgegenwärtige Metapher: Auf der einen Seite versinnbildlichte sie das von Mauern umgebene Land. Ihre Bedeutung reicht aber auf der anderen Seite weit darüber hinaus: Sie kann als Modell eines „utopischen Schauplatzes“ interpretiert werden – als „Paradiessurrogat“.[4]
Viele sahen in der Inselmetapher nicht selten das Scheitern einer Utopie veranschaulicht, das sich mehr und mehr Menschen in der DDR eingestehen mussten. Die Insel ist Utopia, der unerreichbare Ort. Man erkannte spätestens nach den Ereignissen von 1968, als Truppen des Warschauer Pakts in Prag die Reformbewegung blutig niederschlugen, dass es diesen Ort nicht geben konnte. Ereignisse wie etwa die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 schürten erneut Zweifel. Die Menschen hatten sich in ihren Idealen und Sehnsüchten getäuscht, mussten aber auch erkennen, dass sie in gewisser Weise zum „Narren gehalten“ wurden.
Mattheuer „spielte“ mit dem Gedanken der ge- bzw. enttäuschten Hoffnung. 1978 zeichnete er das Objekt „Inselspiel“, das er eher humorvoll aus dem Fundholz gefertigte hatte, auf ein Stück Papier. Er gab den Schachfiguren Gesichter, machte aus ihnen eine zeitgenössische Gesellschaft und nannte die Zeichnung „Die Narreninsel“. In dieser Bleistiftskizze von 1979 liegt bereits die Idee für das spätere Gemälde „Was nun?“ verborgen. Von wüstem Metallschutt umgeben, verharren Menschen aktionslos auf ihrer Insel. Von der Ferne naht ein Gewitter, dem der Künstler mit scharfen Bleistiftstrichen Gestalt verliehen hat.
Aus der humorigen Idee des „Inselspiels“ ist ein Bild mit tiefgründigen symbolischen Bezügen geworden. So hat der Künstler in die Mitte des Bildes einen Ikarus gezeichnet, der auf die Insel gestürzt ist. Reglos liegt er im Zentrum der Zeichnung. Ikarus war ein weitverbreitetes Motiv in der Kunst und Literatur der DDR. Die mythologische Geschichte des Ikarus, der mit seinem Vater von der Insel Kreta flüchten musste, wurde auf der einen Seite vorbildhafte Figur für die Aufbaugeneration der DDR: Sein mutiger Auf- stieg mittels selbst gefertigter Flügel aus Wachs arrivierte zum Gründungs- bzw. Aufbruchsmotiv. Auf der anderen Seite avancierte sein tödlicher Absturz, als er der Sonne zu nah kam und die Wachsflügel schmolzen, zum Bild des Scheiterns. Der übermütige Aufbruch endet in einer Katastrophe. Ein Hoffnungsträger „stürzt ab“. Die Enge der Insel, auf der die Menschen teilnahmslos um den gestürzten Ikarus verharren, korrespondiert dabei mit einer gewissen Enge des Denkens und des Handelns – Verhaltensweisen, die Mattheuer generell und besonders an seinem Land kritisierte.
Die symbolischen Bezüge der Zeichnung lassen sich fortsetzen: Satellitenanlagen verweisen auf die einzige Möglichkeit, Informationen aus der Welt zu erhalten. Funktionslose Rohre und Stahlschutt beziehen sich konkret auf wirtschaftlichen Verfall und darauf, dass der Aufbau einer neuen Ordnung mit einer resignierten, bewegungslosen Gesellschaft Ende der Siebzigerjahre nicht mehr möglich scheint. Einst funktionales Material verrostet und vergeht.
Fast jedes Detail in Mattheuers Zeichnung „Die Narreninsel“ und dem Gemälde „Was nun?“ hat einen symbolischen Bezug. Künstler und Literaten suchten trotz kunstpolitischer Repressionen immer wieder Wege, auf denen sie ihren verborgenen Gedanken Ausdruck verleihen konnten. Und sie fanden sie zum Beispiel in der „Sinnbildmalerei“, die sich aus dem allzu eng gefassten sozialistischen Realismusbegriff als eine eigenständige Form gegenständlicher Malerei etablierte: Ab Mitte der Sechzigerjahre erregte in den offiziellen Ausstellungen der DDR eine Kunst Aufmerksamkeit, die nicht mehr nur die gewünschte Realität abbildete. Der Kunsttheoretiker Peter H. Feist prägte dafür den Begriff der „intelligenzintensiven Kunst“[5] und bezeichnete damit eine Richtung in der realistischen Malerei, die einen intellektuell gebildeten Betrachter voraussetzte: Historisch tradierte Symbole aus der Kultur- und Geistesgeschichte sowie aus der Mythologie kehrten in die Malerei ein. Gleichnishafte Bezüge zur aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Lage waren intendiert. Mit Sinnbildern konnten kollektive Befindlichkeiten ausgedrückt werden, ohne einen konkreten Kontext zu verbalisieren. In Zeiten der Repression und Entmündigung verbreiten sich Gedanken häufig „durch die Blume“ oder „zwischen den Zeilen“ – schon in der Kunst der Romantik oder der Neuen Sachlichkeit verhielt es sich so. Die Geschichte der Malerei in der DDR ist in diesem Sinne eine für diese Zeit außergewöhnliche und überaus interessante Geschichte. Während in der westlichen Kunst die Formgestaltung Priorität gewann und Künstler keinen konkreten Inhalt anstrebten, bezweckten Künstler der DDR sowohl eine realistische Gestaltung als auch die sinnhafte Bildaussage. Diese Einheit war durchaus auch von oben gewünscht, allerdings vielmehr im Sinne der parteilichen Wirklichkeitsvorstellung. Die Realität aber sah anders aus: Künstler und Betrachter tauschten sich kritisch über Politik und Gesellschaft aus, indem der eine sinnbildlich verschlüsselte Bildinhalte schuf und der andere sie (meist) auch verstand. Vergleichbar verhielt es sich in der Literatur. Politik wurde poetisiert. Kritik äußerte sich im Stillen. Man „übertrug“ den konkreten Sachverhalt „auf etwas anderes“, meta – phorein, und kommunizierte in Chiffren.
Zurück zu den Bildern Mattheuers. Die Zeichnung „Die Narreninsel“ sowie das Gemälde „Was nun?“ erhalten über die eher allgemeingültigen symbolischen Bezüge aber noch einen ganz konkreten Sinn, einhergehend mit dem politischen Entwicklungen Ende der Siebzigerjahre.
Das Jahr 1979, in dem die Zeichnung „Die Narreninsel“ entstand, ist ein historischer Markstein. Nach Jahren der Entspannungspolitik spitzte sich der Ost-West-Konflikt wieder zu. Der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979 läutete eine neue, offensive Phase des Kalten Krieges ein. Die beiden Supermächte USA und Sowjetunion setzen eine weitere Spirale des Wettrüstens in Gang: Am 12. Dezember 1979 beschloss die NATO die Stationierung von Mittelstreckenraketen, um an die verbesserte Rüstungstechnik der Sowjetunion anzuschließen. Das geteilte Deutschland befand sich inmitten des weltpolitischen Spannungsfeldes und spiegelte im Klei- nen den sich verschärfenden Ost-West-Konflikt.
Mattheuer verfolgte die weltpolitischen Ereignisse mit Interesse. In sein Tagebuch schrieb er über die miserable Berichterstattung durch die Ostmedien zynisch: „Erführe ich aber von der ganzen Welt und unserer halben nur durch unsere Massenmedien und glaubte ich meinen Augen nicht, [...] ich fühlte mich eingebettet in einen wunderschönen Gesellschaftskörper. [...] Eine heile DDR-Welt machte, wenn nur die Raketen nicht drohten, über allen Wipfeln Ruh’.“[6]
Mit den sich wandelnden Bedingungen erhielten die Bildkompositionen der „Narreninsel“ und desGemäldes „Was nun?“ eine vollkommen neue Bedeutung. Bemerkenswerterweise wurde das Gemälde erst 1983 einem breiten Publikum bekannt: als sich die Aufrüstungsoffensive überall bemerkbar machte – etwa in den allenthalben neu eingerichteten Raketenstützpunkten, die den Menschen in der DDR nicht verborgen blieben. Das Bild war auf der Wanderausstellung „Zeitvergleich – Malerei und Grafik aus der DDR“ zu sehen, eine Ausstellung, die durch die Bundesrepublik von Berlin über Hamburg, München und Hannover nach Düsseldorf zog und Aufmerksamkeit erregte. Auf der Kunstausstellung der DDR in Dresden wurde hingegen nur ein Holzschnitt mit gleichem Motiv gezeigt, immerhin blieb das Motiv auch hier nicht unbekannt. Eindruck bei den Rezipienten hinterließ es in Ost wie in West.
Vor allem das in der Ferne aufziehende Gewitter, das sich auf dem Gemälde „Was nun?“ der Insel unablässig nähert, verdeutlichte dem Publi- kum eine drohende Gefahr. Der Blitz faszinierte Mattheuer schon früher als Bildmotiv. So hatte er 1972 eine eindrucksvolle, geradezu prophetische Bildtafel mit einem markanten, tiefschwarzen Blitz aus azurblauem Himmel gestaltet. Das Bild trägt den bezeichnenden Titel „Blitz aus heiterem Himmel“. Es zeigt eine Landschaft, wie sie etwa von oben aus einem Flugzeug wahrgenommen wird. Ein blauer Himmel mit weißen Schönwetterwölkchen überspannt eine kartografische Landschaft mit kleinen Dörfern und Landstraßen. Aber: Aus dem heiteren Himmel zuckt ein monströser Blitz. Mattheuer hatte ihn direkt in das Bildholz eingeritzt und angekohlt. Ein Blitz aus heiterem Himmel – eine meteorologische Unmöglichkeit – kündigt sich nicht durch dunkle Wolken oder fernes Grollen an, sondern stößt hier aus einem tiefblauen, klaren Himmel. Heinz Schönemann, Direktor der Staatlichen Galerie Moritzburg zu Halle, erkannte in dem Bild ein ein- gängiges Symbol für den schwelenden Ost-West-Konflikt: Hier offenbare sich die Weltsicht eines Zeitgenossen, „der in der Mitte Europas [...] im Frieden lebt, in einem Frieden allerdings, der täglich und stündlich gefährdet ist“.[7] Das war 1972.
In dem Gemälde „Was nun?“ von 1980 fährt der Blitz nicht mehr aus einem sprichwörtlich „heiteren“ Himmel. Das Gewitter schiebt sich aus der Ferne heran. Wird es die Insel erreichen und eine Katastrophe anrichten? Oder zieht es vorbei? Die Menschen auf der Insel brechen nicht in Panik aus, sie verharren in stiller Erwartung. Sie verschränken die Arme, sie blicken prüfend oder passiv auf die Wolkenfront. Würden sie sich regen und bewegen, würden sie sich eine Notbehausung auf der Insel bauen, würden sie sich zu schützen versuchen, das Gemälde wäre ein Sinnbild für Handlung und Agieren, für Hoffnung und Veränderung!
Aber sie stehen still. Sie sind tatenlos. Ein eingängigeres Symbol für die Stimmung der Zeit, die Resignation und den verlorenen Mut, tatsächlich noch etwas verändern zu wollen bzw. zu können, hätte Mattheuer nicht schaffen können. Ein Historiker resümierte anlässlich des 50. Jahrestags des Mauerbaus: „Eine der beliebtesten Metaphern zur Kultur des ‚Kalten Krieges‘ ist das Wetter.“8 Das heraufziehende Gewitter, die neue Rüstungsspirale, der verschärfte Konflikt der Großmächte vermochte unter der ost- deutschen Bevölkerung kein Aufbegehren mehr hervorzurufen. Resignation lautete der Gemütszustand vieler in den beginnenden Achtzigerjahren, und Mattheuer hat ihn in Form eines Symbolbildes zum Ausdruck gebracht.
1 Ulrich Berkes, „... suche das Heutige, Problematische, Wesentliche“. Interview mit Wolfgang Mattheuer, in: Leipziger Volkszeitung vom 15. 8. 1973, S. 6.
2 Peter Kost/Georg Kretschmann, Produktive Spannung zwischen Künstlerischem und Gedanklichem. Ein Gespräch mit Wolfgang Mattheuer, in: Bildende Kunst (1975) 6, S. 306–308, hier S. 307.
3 Ursula Mattheuer-Neustädt, Bilder als Botschaft – Die Botschaft der Bilder. Am Bei- spiel Wolfgang Mattheuer. Ein Essay in zwei Teilen, Leipzig 1997, S. 94.
4 Volkmar Billig, Inseln. Annäherungen an einen Topos und seine moderne Faszina- tion, Berlin 2004.
5 Peter H. Feist, Realistische Gestaltung. Muß unsere Kunst intelligenzintensiv sein?, in: Bildende Kunst (1966) 8, S. 434–435.
6 Tagebucheintrag vom 30. 10. 1983, in: Wolfgang Mattheuer, Äußerungen, Leipzig 1990, S. 173.
7 Heinz Schönemann, Zwölf Bemerkungen zur Kunst Wolfgang Mattheuers, in: Aus- stellung Wolfgang Mattheuer. Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphik, Plastik, Leip- zig 1978, S. 14–44, hier S. 18.