Person hält eine Rede vor Publikum
© Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, Bild: 880630

1979 läuft im westdeutschen Fernsehen die Serie „Holocaust“ (USA 1978). Mit ihr rückt in der bundesdeutschen Gesellschaft die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden plötzlich ins Zentrum des öffentlichen Gedenkens. Ein vergleichbarer „Paradigmenwechsel“ (Christoph Classen) ist in der DDR ausgeblieben. Dabei spielte die Weigerung des DDR-Fernsehens, die US-amerikanische Serie ins Programm zu übernehmen, nicht die entscheidende Rolle. DDR-Bürger konnten mit einigen Anstrengungen „Holocaust“ via Westfernsehen sehen (und es ist plausibel anzunehmen, dass die ungewohnte, auf Effekt und Emotion zielende Darstellung auch hier ihre Wirkung tat). Jedoch gab es in der DDR weder eine umfangreiche Voraus-Publizistik noch konnten die Ostdeutschen an der gesellschaftlichen Diskussion teilnehmen, die sich im Anschluss an die Ausstrahlung in Westdeutschland entzündete. Stattdessen wiesen Erich Honecker und mit ihm die Zeitungen der DDR einen gesamtdeutschen Nachhilfeunterricht in Sachen Historie entschieden zurück: Schließlich blicke man auf eine eigene mannigfaltige Bearbeitung des Themas zurück. Handelte es sich hierbei nur um Propaganda oder waren dem DDR-Bürger die Verfolgung und der Mord an den europäischen Juden tatsächlich präsenter?

 

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Von Lisa Schoß

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Eingedenk des deutsch-deutschen Wettstreits um die „bessere“ Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hatten jüdische Charaktere – und Akteure (Autoren, Filmemacher, Schauspieler etc.) – in Literatur, Theater, Film, Fernsehen und Hörspiel der DDR kontinuierlich einen Platz. Schaut man auf die visuellen Medien, dann produzierten das staatliche Filmstudio, die DEFA und das Fernsehen der DDR über 50 abendfüllende Spielfilme (hinzu kommen Dokumentarfilme und publizistische Sendeformate). Dieser rein quantitative Verweis reicht allerdings kaum, um zu belegen, dass die DDR sich von Anfang an mit dem Nationalsozialismus in all seinen Facetten auseinandergesetzt habe. Im Gegenteil: Damit fangen die Fragen erst an. Filme aus dem Themenkreis Nationalsozialismus, Antisemitismus oder Widerstand, die sogenannten Antifaschismus-Filme, wurden gefördert und gezielt eingesetzt, um den moralischen Vorsprung der DDR gegenüber der Bundesrepublik zu behaupten. Besonders das Fernsehen als grenzüberschreitendes Massenmedium sollte die DDR nach innen und außen antifaschistisch im Sinne der offiziellen Doktrin aufwerten. Die Frage kann also nicht lauten ob, sondern wie Juden (als Personen) und „Juden“ (als Vor-/ Darstellungen) präsent waren.

Im DDR-Film bewegten sich vor allem Letztere grundsätzlich im Spannungsfeld zwischen Thematisierung und Instrumentalisierung; gern waren „jüdische“ Inhalte verknüpft mit Motiven und Mythen des kommunistischen Widerstands. Ungeachtet der Unterschiede in Qualität und Quantität gibt es gleichwohl kein Jahrzehnt, in dem Juden(-Darstellungen) nicht einen Platz – und eine Funktion – gehabt hätten. Das hängt zweifellos mit dem Umstand zusammen, dass Kunst und Kultur als eine politische Kraft verstanden und im Regelfall in den ideologischen Dienst gestellt wurden (wobei man die subjektive Brechung durch die Filmemacher nie außer Acht lassen darf). Ein Beispiel dieser Spannungen ist der Fernseh-Dreiteiler „Hotel Polan und seine Gäste“ (DDR 1982), an dem sich musterhaft ein Licht auf die Rolle von Juden und Judendarstellungen im ostdeutschen Film werfen lässt.

„Holocaust“ markierte in der DDR vielleicht keinen kulturhistorischen Umbruch, dennoch setzte die Serie neuerliche Dynamiken in Gang: in der ostdeutschen Gedenkpraxis und der filmischen Bearbeitung. Sie veranlasste die Dramaturgen des DDR-Fernsehens, ein Filmprojekt aus den Schubladen zu holen, das seit Jahren keinen entscheidenden Förderer gefunden hatte. Bereits Anfang der Siebzigerjahre hatte der ostdeutsche Schriftsteller Jan Koplowitz (1909–2001) die semiautobiografische Erzählung, „Der Kampf um die Bohemia“ veröffentlicht. Koplowitz kam aus einer großbürgerlichen, jüdischen Familie. Doch seine politische Orientierung führte zum Bruch. Er trat früh in die Kommunistische Partei ein, arbeitete als Journalist für die Arbeiterpresse sowie Agitprop-Bühnen und war Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, ging er zunächst in den Untergrund, half politischen Emigranten bei der Flucht und floh schließlich selbst ins englische Exil. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte er zu den rund 3500 deutsch-jüdischen Remigranten, die in den sowjetisch besetzten Teil gingen, um an der Verwirklichung eines „anderen“, antifaschistischen, demokratischen Nachkriegsdeutschland mitzuwirken. Eine Vision verband sich mit einer realen Arbeitsgrundlage.

Die politischen Remigranten gehörten zur Aufbaugeneration der DDR. Ausgezeichnet durch moralische Glaubwürdigkeit übertrug ihnen die sowjetische Besatzungsbehörde Ämter und Funktionen in Politik, Kultur und Wissenschaft. Ihre jüdische Herkunft fand dabei keine Erwähnung. Das entsprach in vielen Fällen durchaus ihrem Selbstverständnis: Man begriff sich als atheistisch und antibürgerlich, kommunistisch und in vielen Fällen antizionistisch, vor allem jedoch als antifaschistisch. Jüdischsein und Antifaschismus schienen unauflöslich miteinander verknüpft. Politisch und kulturell verstandener Antifaschismus als neues Synonym deutsch-jüdischer Identität und Erfahrungsgeschichte half, die verloren gegangene, vormals deutsche Identität zu ersetzen.[1]

In „Der Kampf um die Bohemia“ wandte sich Koplowitz, der bis dato eher die sozialistische Gegenwart als die Vergangenheit zu seinem literarischen Thema gemacht hatte, erstmals einer jüdischen Geschichte, seiner eigenen, zu. Er zeichnet das Bild einer jüdischen Familie über drei Jahrzehnte. Seine Chronik beginnt kurz nach der Jahrhundertwende: Die Polans führen im böhmischen Grenzland ein gut besuchtes Hotel, „die Bohemia“. Es kommen Gäste aus aller Welt, darunter ein Querschnitt europäischer Juden; es ist ein koscheres Hotel. Aber im deutschnationalen Bad Grenzbrunn neidet man den Polans ihren Erfolg. Bereits die Großeltern haben mit Missgunst und versteckten Ressentiments zu kämpfen; ihre Kinder, allen voran die Tochter und Erbin des Hotels Esther Polan, bekommen den mit den Nationalsozialisten offen ausbrechenden Antisemitismus existenziell zu spüren. Die Familie und ihre Hotelgäste reagieren auf die Bedrohung denkbar verschieden: Einige verschließen die Augen oder beharren trotzig auf ihren Rechten, andere emigrieren oder propagieren zionistische Ideen, wieder andere wählen den Königsweg zum Kommunismus und kehren dem religiösen Judentum den Rücken. Diese Entscheidung trifft Esthers Sohn Peter (Alter Ego des Autors); seine Mutter stirbt in den Gaskammern von Auschwitz.

Die Dramaturgen des Fernsehens erkannten das Potenzial der Geschichte: „Kampf um die Bohemia“ bot eine publikumsträchtige Familiengeschichte und das bunte, historische Panorama versprach anziehendes Kolorit. Gemeinsam mit dem Autor wurden erste Szenen geschrieben, man engagierte Frank Beyer als Regisseur, suchte in Polen nach einem geeigneten Schauplatz. Doch Beyer zog sich 1976 wieder zurück (vermutlich gaben die Biermann-Ausbürgerung und das darauf folgende vergiftete Klima den Ausschlag). Weder eine Koproduktion mit der Tschechoslowakei noch die Zusammenarbeit mit Andrzej Wajda kamen zustande. Schließlich legte man das Projekt mit dem vorgeschobenen Hinweis horrender Kosten auf Eis. Koplowitz arbeitete derweil die Szenen in einen knapp 700 Seiten starken Roman um, „Bohemia, mein Schicksal“ (1979), der bis 1989 in elf Auflagen erscheinen sollte.

Dann machte eine Nachricht aus den USA in Europa die Runde: Man drehe mit großem Einsatz von Mitteln und Schauspielern eine Serie, die auch nach Deutschland kommen solle: „Holocaust“. Das DDR-Fernsehen sah sich in Zugzwang: Unter Zeitdruck begann abermals die Arbeit an den Szenen für, so der Titel, „Hotel Polan und seine Gäste“. Diesmal ging es um mehr als Unterhaltung. Die Dramaturgen unterstrichen: Die Fabel biete die Möglichkeit, „die politische Entscheidung“ für den Kommunismus als einzig richtige „im Kampf gegen Faschismus und Krieg“ plausibel zu machen und zugleich den „gefährlichen Irrweg zu zeigen, den der Zionismus und seine Anhänger beschreiten. [...] Alle Beteiligten sind sich bewusst, dass der Gegner an ähnlichen Geschichten arbeitet, um die Historie zu verfälschen und den Sozialismus und seine ethischen Grundlagen zu diffamieren. Deshalb ist die Pflicht, über einen Teil deutscher Geschichte auszusagen, für uns noch dringender geworden.“[2]

Als neuen Regisseur engagierte man Horst Seemann, der sich nach seiner zwei Jahre zuvor fürs Kino fertiggestellten und viel gelobten Verfilmung von Johannes Bobrowskis „Levins Mühle“ als vorgeblicher Spezialist für die Darstellung des Alltags von Minderheiten empfahl. „Levins Mühle“ erzählte vom konfliktreichen Zusammenleben von Deutschen, Polen, Juden und Roma im Westpreußen des Kaiserreichs. Mit „Hotel Polan und seine Gäste“ wollte Seemann nun ein Stück jüdischer, chassidischer Kultur (oder das, was er dafür hielt) detailgetreu in Szene setzen. Das Staatssekretariat für Kirchenfragen unterstützte die fachliche Beratung durch die Jüdische Gemeinde Ost wie West. Seemann besetzte Schauspieler des Jüdischen Theaters in Warschau, legte eine große Materialsammlung zu jüdischen Gebräuchen und Gebeten an, recherchierte die Requisiten und studierte Althebräisch.

Das filmische Ergebnis gelangte dennoch nicht über verkitschte Stereotype des „Jüdischen“ in einer publikumstauglichen Fernsehästhetik hinaus. Seemann inszeniert das Bild einer jüdischen Familie wie sie bereits im sogenannten bürgerlichen Jahrhundert zum Gegenstand der Idealisierung wurde. Die Familie erschien als zentrale Instanz jüdischer Identität und entwickelte im Laufe der Akkulturation westeuropäischer Juden eine spezifische „intime Kultur“ (Shulamit Volkov), in der jene Gebräuche und Redeweisen bewahrt blieben, die man als unpassend für die Öffentlichkeit ansah. Diesen Prozess kassierte Seemann jedoch, indem er die europäisch-jüdischen Gäste der Bohemia optisch zurück ins Ghetto versetzte. Koplowitz sah hier seine Intention ins Gegenteil verkehrt, protestierte und distanzierte sich schließlich vom Film. Ihm sei es gerade um „den großen Aufbruch aus dem Ghetto“ gegangen, monierte der Autor, um die „Emanzipation“ und den Austausch mit der nicht jüdischen Umwelt.[3] (Später behauptete Koplowitz, er sei aufgrund antijüdischer Ressentiments aus dem Filmprojekt gedrängt worden. Die Korrespondenzen mit Verantwortlichen des Fernsehens, in denen man Koplowitz bat, seinen Schritt zu überdenken, scheinen dem allerdings zu widersprechen.)

Statt „Emanzipation“ dominiert in der Verfilmung – von ein paar Ausnahmen abgesehen – die Ikonografie des orthodoxen Ostjudentums. Diese ist symptomatisch für die bildliche Darstellung von Juden, als Phänomen aber weder neu noch ein Spezifikum der DDR. Bis heute präsentieren Filmemacher ein „jüdisches Milieu“, das sich dem Zuschauer durch äußere Zeichen des traditionell orthodoxen Judentums als sichtbar „jüdisch“ zu erkennen gibt – ganz gleich, ob es sich um säkulare oder religiöse, west- oder osteuropäische Juden handelt. Es ist die Vorstellung des Jüdischen als das kulturell schlichtweg Andere, eine Art visueller Zurücknahme der Akkulturation.

Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Der im ausgehenden 18. Jahrhundert begonnene Prozess der kulturellen Annäherung der deutschen Juden, ja der Prozess der „Wechselwirkungen“ (Frank Stern) in Europa, in dessen Verlauf sich die christliche und jüdische Bevölkerung zunehmend aufeinander bezogen, Juden Zugang zur allgemeinen Bildung suchten, die Landessprache erlernten, jüdische Sitten und Rituale den ästhetischen Vorstellungen der Mehrheitsbevölkerung anzupassen versuchten und gewissermaßen unsichtbar wurden, weil sie immer seltener die traditionelle Kleidung trugen – dieser Prozess ist weitaus schwieriger darzustellen, als „Juden“ in lang tradierten Bildern vom Anderen vorzuführen. Kaum zufällig setzt Seemann die Beschneidung des Erben Peter im ersten Teil an prominente Stelle: Die Beschneidung ist das wichtigste Zeichen jüdischen Andersseins; erst die Beschneidung macht den Juden:[4] „Jetzt ist er ein richtiger Jid!“ (Filmdialog).

Als wäre dieses Unsichtbarwerden unheimlich, zumindest unpraktikabel für einen Film, greifen Kostüm und Maske auf das Bild des Ostjuden zurück. Der „Ostjude“ mit seiner Sprache, dem Jiddischen, seinem Festhalten an der Religion und der auffälligen äußeren Erscheinung verkörpert exemplarisch das Andere. Nun hat die „Erfindung des Ostjuden“ (Sander Gilman) eine lange Tradition. Zum einen in antijüdischen Darstellungen, die die zwei Angstbegriffe „der Osten“ und „der Jude“ in einen Komplex negativer Assoziationen zusammenfassten.[5] Zum anderen im Verhältnis der sogenannten Westjuden zu den Ostjuden. Viele bürgerliche Juden im Westen sahen in osteuropäischen Juden die Ursache für den Antisemitismus, nach ihrer Ansicht verkörperten jene die negativen Stereotype, die die nicht jüdische Mehrheit allen Juden unterstellte. Zugleich aber spürten Teile der bürgerlichen Juden, dass die „Ostjuden“ mehr als sie selbst ein unabhängiges jüdisches Selbstverständnis bewahrten. Im späten 19. Jahrhundert kam es deshalb zu einer ins Positive, ja ins Romantische gekehrten Projektion: der „Ostjude“ als der „authentische“ Jude, mit dem sich Begriffe wie Ursprünglichkeit, Gemeinschaft, Ganzheit oder Wurzelhaftigkeit verknüpften.[6] Solche innerjüdischen Projektionen, deren Stimulanz die jiddische Sprache war, entwickelten sich zu einem „Sammelbecken rückwärtsgewandter Kultursehnsüchte, der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, nach einer Welt, die einfach und wahr sein sollte“.[7]

Andererseits war es vor allem die als anders wahrgenommene „Sprache der Juden“, die von der Frühgeschichte des Christentums bis zur pseudowissenschaftlichen „Rassenlehre“ eine entscheidende Rolle spielte, wenn es um Abwertung, Abgrenzung und Ausschluss ging. Das Bild des „typischen Juden“ war mit dem „jüdischen Jargon“ verknüpft; dazu gehörte in den Fantasien der Nicht-Juden eine „jüdische“ Gebärdensprache wie Physiognomie.[8]

Um zurück zum Film zu kommen: Auch in „Hotel Polan“ sind Sprache und Gestik die sofort erfassbaren Signale, die anzeigen, dass man es hier mit „Juden“ zu tun habe. Einem Großteil der jüdischen Charaktere wird eine Art Pseudo-Jiddisch in den Mund gelegt, das mit dem deutschen Satzbau hadert. Fasziniert beobachtet die Kamera Kaftan und Schläfenlocken, die „Schönheit und Kraft“ jüdischer Bräuche, „geheimnisvolle Hochzeitszeremonien“[9] und die „feierlichen Rituale mit ihren [...] schönen, schwermütigen Gesängen“,[10] eine ganz und gar „eigentümliche Kultur“,[11] wie sich die Presse in Ost wie West (der Film ging in den Export) begeisterte. Dort lobte man die filmische Einführung in einen „viel zu lange fremden Kulturkreis“[12] einer „längst versunkenen Welt“.[13] (Wohl gemerkt: „versunkenen Welt“ – bloß in wenigen Fällen liest man von einer „zerstörten“!) Konstruierte Romantik: das Verlangen nach einem vermeintlich authentischen jüdischen Leben, als dieses durch die deutschen Verbrechen unwiederbringlich vernichtet war. Die Vorstellung exotisiert und verwandelt „Jüdisches“ in Folklore. Bei der DEFA, die den Film im Auftrag des Fernsehens produzierte, war nur noch von einem „Jiddenfilm“ die Rede, erinnerte sich Koplowitz auf dem Schriftstellerkongress 1987.[14]

Doch darf man nicht vergessen, dass Exotisierung und Romantisierung dem Zeitgeist der Achtzigerjahre entsprachen (und keineswegs nur,  sondern auch in der DDR). Es handelt sich allerdings um eine gänzlich andere Art der Romantisierung als um jene innerjüdische vor der Shoah. Die Romantisierung nach 1945 war und ist ein genuin nicht jüdisches Phänomen. Sie hängt eng mit dem Wunsch zusammen, den Mord an sechs Millionen Juden ungeschehen zu machen und jüdisches Leben als Märchen neu zu erzählen, ein Versuch, der Geschichte den Schrecken zu nehmen.

Der damalige Generationswechsel hat seinen Teil dazu beigetragen, das entstandene Vakuum in der Imagination wieder zu füllen. Ein neues Interesse an jüdischer Kultur erwachte, genauer: an deren Neuerfindung. Es entstand ein „judaisierendes Milieu“ (Y. Michal Bodemann). Auf der Suche nach einem „authentischen“ Judentum begannen Nicht-Juden sich für jiddische Literatur und Liedkultur zu interessieren. Und es war noch etwas anderes zu beobachten: In der DDR begann mit dem Brüchigwerden der kommunistischen Idee auch für viele Juden eine Zeit der Spurensuche – weniger auf den Wegen der Religion als auf denen der eigenen Familiengeschichte und den kulturellen Wurzeln. In Ostberlin bildete sich die Gruppe „Wir für uns“, in der zusammenfand, wer sich mit seiner jüdischen Herkunft beschäftigen wollte. Jalda Rebling, Tochter von Lin Jaldati, der großen Dame des jiddischen Liedes, initiierte 1987 die Tage der jiddischen Kultur, eine Art öffentliche Werkstatt und der Versuch, sich der ostjüdischen Kultur anzunähern.

Für die ostdeutschen Filmemacher barg dieses Klima die Möglichkeit, ein Publikum zu gewinnen, das der ewig gleichen Bilder vom antifaschistischen Widerstand müde war. Folgerichtig führte man ihm in Sachen „Jüdisches“ etwas Neues vor Augen. Die Mehrheit der Zuschauer ließ sich von der bunten Optik gefangen nehmen und fühlte sich emotional angesprochen. Der im Frühjahr 1982 ausgestrahlte Dreiteiler über die Polans fand über die DDR hinaus Anerkennung, und sogar die westdeutsche Presse verglich ihn positiv mit „Holocaust“, mitunter der US-Serie gar überlegen.

Empörung kam dagegen von jüdischer Seite. Denn „Hotel Polan“ romantisierte nicht nur, der Film politisierte, mehr noch: Er zündelte. Koplowitz’ Vorlage machte aus der Ablehnung des Zionismus keinen Hehl, doch Seemann beließ es nicht beim antizionistischen Impetus, sondern inszenierte eine Melange aus philo- und antisemitischen Bildern. Einerseits der ethnografische Blick auf die jüdische Kultur, und andererseits die Darstellung des religiösen Judentums als „finsterste[s] orthodoxe[s] Mittelalter mit vorsintflutlichen Riten und Gebräuchen“ (Filmdialog). Bedenkt man, dass in der DDR Religion als Anachronismus galt, verwundert das kaum. Obendrein steht die Darstellung in einer langen (christlichen) Tradition, in der Verstocktheit und blindes Festhalten der Juden an ihrem Glauben als Ursachen für deren Unfähigkeit betrachtet wurden, sich in die westliche Kultur zu integrieren.

Damit nicht genug, die „orthodoxen Juden“ treten als raffgierige, strippenziehende Geschäftemacher auf, als militante Zionisten und skrupellose Rassisten. Ausgestattet mit den nötigen finanziellen Mitteln, setzen sie sich entweder ins sichere Ausland ab oder machen gemeinsame Sache mit den Nazis, um die Einwanderung nach Palästina zu beschleunigen. Der Zionismus wird als imperialistisch vorgeführt und geht in „Hotel Polan“ über Leichen. Exemplarisch sei hier aus einer Rezension in der „Weltbühne“ zitiert: „Wir wissen um den Staat Israel und die Flüchtlingslager der PLO, und wir wissen um die faschistischen Vernichtungslager, in denen Millionen Juden ihr Leben verloren. Aber wie bringen wir beides zusammen, nicht nur intellektuell? Wir kennen die Folgen und – im historisch-abstrahierenden Sinn – auch die Ursachen. Aber was wissen, was fühlen wir konkret, auf den Menschen bezogen. ‚Hotel Polan und seine Gäste‘, das war ein Film, der sich diesen Fragen zu nähern suchte, seriös, nicht nur im Handwerk, ebenso im geistigen Zugriff.“[15]

In Bezug auf die Haltung zum Zionismus und seine Gleichsetzung mit Rassismus und Imperialismus reihte sich „Hotel Polan“ in eine ganze Folge von israelkritischen, ja antizionistischen Büchern und Dokumentarfilmen ein. Zur Zeit des Libanon-Krieges – der im Ausstrahlungsjahr von „Hotel Polan“ stattfand – erreichten sie in der DDR einen Höhepunkt. Kritik am Zionismus und an Israel war von offizieller Seite gern gesehen – zudem wenn sie, wie im Fall des Autors Koplowitz, von einem Juden kam. Sie gab der außenpolitischen Haltung der DDR-Regierung Rückendeckung: „Zionismus“ als „bürgerlicher Nationalismus“ war bis 1989 ein Pejorativ, und der Staat bekämpfte ihn propagandistisch, während der Fünfzigerjahre sogar strafrechtlich. Über das Medium Fernsehen gelangte die ideologische Auseinandersetzung mit Kapitalismus und Zionismus in die Wohnzimmer.

Nach der Ausstrahlung von „Hotel Polan“ reagierten Teile der jüdischen Zuschauer ob der „antijüdischen, antizionistischen Hetz- und Haßtiraden à la Stürmer“ entsetzt und forderten Änderung, vereinzelt sogar das Verbot des Films.[16] Koplowitz selbst wurde (trotz seiner Distanzierung) als „jüdischer Antisemit“ beschimpft und von Kollegen gemieden; diese innerjüdische Kritik hat ihn schwer getroffen, wie er später gestand.[17] Wohl auch deshalb nahm er eine kleine, aber gewichtige Änderung an seinem Roman vor. 1979 eröffnete er „Bohemia, mein Schicksal“ mit dem Gedicht seines Freundes Erich Fried „Höre, Israel“ (1975), das Israel mit Nazideutschland verglich und das Fried ihm als Motto geschenkt hatte. Ab der 5. Auflage von 1982 ist das Gedicht durch die Widmung ersetzt: „Meiner in Auschwitz ermordeten Mutter“! 1984 trat Koplowitz wieder in die jüdische Gemeinde ein.
 

Quellen

1 Vgl. Frank Stern, The Return to the Disowned Home. German Jews and the Other Germany, in: New German Critique 67 (1996), S. 62.

2 Hotel Polan und seine Gäste, Deutsches Rundfunkarchiv (DRA) Potsdam-Babelsberg, Schriftgutbestand Fernsehen, Dramatische Kunst, ohne Paginierung.

3 Christel Berger, Interview mit Jan Koplowitz, in: Weimarer Beiträge 29 (1983) 1, S. 91.

4  Vgl. Sander Gilman, Freud, Race, Gender, Princeton 1993, S. 49 ff.

5  Vgl. Ludger Heid, Der Ostjude, in: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hrsg.), Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München 1995, S. 241–251, hier S. 241.

6  Vgl. Andreas Herzog (Hrsg.), Ost und West. Jüdische Publizistik 1909–1929, Leipzig 1997.

7  Sander Gilman, Jüdischer Selbsthass, Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, Frankfurt a. M. 1993, S. 201.

8  Vgl. ebenda, S. 47 ff., 95 ff., 72 und Sander Gilman, The Jewish Body, New York 1991, S. 12.

9  Gisela Hoyer, Wege zur Erkenntnis. Hotel Polan und seine Gäste. Fernsehfilm nach Koplowitz, in: Der Morgen vom 3. 3. 1982.

10  Werner Schwemin, Drei Wege ohne Wiederkehr. Zum Fernsehfilm „Hotel Polan und seine Gäste“, in: FF Dabei 14 (1982).

11  „Hotel Polan und seine Gäste“ im Rias am 2. 3. 1982.

12  Hoyer, Wege zur Erkenntnis.

13  Ingeborg Klug, Eine längst versunkene Welt. Zum dreiteiligen Fernsehfilm „Hotel Polan und seine Gäste“, in: Märkische Volksstimme vom 3. 3. 1982; Hans-Dieter Schütt, Eine Insel, eine Welt. Zum Fernsehfilm „Hotel Polan und seine Gäste“, in: Film und Fernsehen 6 (1982).

14  Koplowitz, in: X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Protokoll, Berlin/Weimar 1987, S. 119.

15 Andra Berg, „Die Wege der Polans“, in: Die Weltbühne vom 30. 3. 1982.

16  Landesverband der jüdischen Gemeinde von Niedersachsen, zit. in: „Weiterhin Proteste gegen ‚Hotel Polan‘“, in: Hamburger Abendblatt vom 28. 3. 1984; Beschwerde zweier „jüdischer Genossinnen“ bei der Parteiorganisation des DDR-Fernsehens, DRA Potsdam-Babelsberg, Schriftgutbestand Fernsehen, Dramatische Kunst, Hotel Polan und seine Gäste, ohne Paginierung.

17  Jan Koplowitz, „Interview“, in: Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hrsg.), Von Abraham bis Zwerenz, Bonn 1995, S. 1005.