Bild aus einem Wohnzimmer in der DDR
© Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, Bild: 890522

Alles schien stabil zu sein. Vorläufig. Dann aber, im Zuge des Umbruchs von 1989, ein ganz anderes Bild: Es existierte keine Regelung für die Oder-Neiße-Grenze zwischen dem gerade demokratisierten Polen und einem – so war es zu erwarten – wiedervereinigten Deutschland. Dass deren Bestand nun neu verhandelt werden könnte, weckte alte Ängste, und dies stellte Politiker vor Herausforderungen. So wurde eine Hypothek aus der Vergangenheit an die Oberfläche gespült, die eine der größten Hürden für die deutsche Wiedervereinigung werden sollte: Konnte Deutschland die polnische Westgrenze gegen die Interessen von Vertriebenenverbänden unwiderruflich anerkennen?

Den Diskurs um diese Frage kann man als Schritt der Aufarbeitung der Nachkriegsvergangenheit beider Nationen begreifen. Denn es ging um den Umgang mit ganz und gar gegenwärtigen Folgen des Zweiten Weltkriegs, die durch zwei diktatorische und ein demokratisches System bis dato nur vorrübergehend ausgehandelt worden waren. Der Disput ist mit einer allein nationalen Sichtweise nur verkürzt zu erklären. Was zwischen den politisch Verantwortlichen beider Länder geschah, lässt sich im Rückblick nicht klar in eine polnische und eine deutsche Position trennen. So wird die Unmöglichkeit demonstriert, jede Geschichte in unterschiedliche nationale Verläufe zu trennen. Dies beginnt bereits mit der langen Vorgeschichte des Grenzstreits.

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Der deutsch-polnische Streit um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 1989/90

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Was heute selbstverständlich erscheint, war lange ein Zankapfel, der in beiden Nationen heftige Emotionen auslösen konnte. Mehr noch: Die verbreitete Furcht vor einer bundesdeutschen Revision der „Friedens- und Freundschaftsgrenze“ an Oder und Neiße, die im Görlitzer Abkommen zwischen der DDR und Polen von 1950 festgeschrieben worden war, blieb in den Nachkriegsjahrzehnten einer der wichtigsten systemstabilisierenden Faktoren für die kommunistischen Machthaber Polens.

Bereits seit den polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich wechselseitige Feindbilder ausgebildet. Die Deutschen betrachteten die Polen nur selten als gleichberechtigte Partner. Mit der Tradierung national- romantischer Leitbilder entstand Polens Selbstverständnis als Nation von Märtyrern und Opfern. Diese Sichtweise wurde durch den Zweiten Welt- krieg bestätigt. Hitlers Antislawismus und die brutale nationalsozialistische Vertreibungs- und Besatzungspolitik verstärkten das Bild Deutschlands als Täternation nachhaltig. Die Sicherheit vor Deutschland war fortan ein nationales Anliegen Polens. Nur vor dem Hintergrund der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs lässt sich erklären, dass im Hinblick auf eine deutsche Bedrohung der Westgrenze zu Zeiten der Volksrepublik das offizielle Geschichtsbild der „Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei“ sowie familiär geprägte Erinnerungen – anders als in vielen anderen Fällen –übereinstimmten.

Diese Angst war zunächst begründet. Unmittelbar nach Kriegsende waren sich fast alle bundesdeutschen Parteien einig, dass eine Anerkennung der Oder-Neiße-Linie unmöglich sei. Dies bestätigte vor allem die Rechtsverwahrung gegen das Görlitzer Grenzabkommen vom 13. Juni 1950, die alle Parteien des Bundestages mit Ausnahme der KPD verabschiedeten. Darin hieß es: „Gemäß dem Potsdamer Abkommen ist das Gebiet östlich von Oder und Neiße [...] der Republik Polen nur zur einstweiligen Verwaltung übergeben worden. Das Gebiet bleibt ein Teil Deutschlands.“[1] Dies blieb bis 1970 Rechtsstandpunkt der Bundesrepublik.

Die polnische Regierung zeichnete zwei unterschiedliche Deutschlandbilder: einerseits das der (grenz)revisionistischen Bundesrepublik, andererseits das des sozialistischen Bruderstaats DDR. In der polnischen Bevölkerung war jedoch vor allem das Bild der Bundesrepublik lebendig; die DDR hingegen bot kaum Bedrohungspotenzial und wurde überwiegend mit Desinteresse betrachtet.
Die staatliche Geschichtspolitik zielte darauf ab, die Bundesrepublik als Täterstaat darzustellen. So nutzte die polnische Regierung symbolische Jubiläen, um die Bundesrepublik verbal zu attackieren, und diese Angriffe untermauerte sie mit historischen Argumenten. Beispielsweise protestierte die Staatsspitze am 9. Mai 1965, 20 Jahre nach der Kapitulation NS-Deutschlands, in Breslau gegen mögliche deutsche Bestrebungen zur Grenzrevision. Man werde sich „als Gegenleistung für das polnische Recht auf seine Westgebiete auf keinen Kuhhandel über die Wiedervereinigung Deutschlands einlassen“, so Władysław Gomułka.[2]

Eine deutliche Änderung in der deutschen Haltung zur polnischen Westgrenze war erst im Zuge der Ostpolitik festzustellen. Für deren Initiatoren war das Motiv der Aussöhnung zentral, das eine faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zu einer innerdeutsch umstrittenen, aber sag- baren Option reifen ließ. Die Bundesregierung unter Willy Brandt erhob seit dem Warschauer Vertrag von 1970 keine Ansprüche mehr auf die Gebiete östlich der Grenzflüsse. Ein Haken jedoch blieb: Der Vertrag regelte und normalisierte zwar die Beziehungen zwischen Bundesrepublik und Volksrepublik, hatte aber keine bindende Kraft für ein vereinigtes Deutschland.

Noch vor Abschluss des Vertrages hatte sich Protest formiert. So beharrte etwa der Bund der Vertriebenen auf dem deutschen Anspruch auf Polens Westen und rief für den 30. Mai 1970 zu einer Großkundgebung in Bonn auf, mit Franz Josef Strauß als Redner. Bis zu 50 000 Teilnehmer unterstützten das Anliegen der Veranstalter. Am Pult prangte ein Banner mit einem Zitat Herbert Wehners von 1950: „Die Anerkennung der Oder- Neiße-Linie ist Verbrechen an Deutschland.“3 Der Verband obsiegte zudem in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes von 1973 und 1975, die den rechtlichen Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 bestätigten, ebenso wie die Tatsache, dass die Grenzfrage erst von einer demokratischen, gesamtdeutschen Regierung endgültig geregelt werden könne. Dies wie auch die konservative Geschichtspolitik unter Kanzler Helmut Kohl wurde in Polen mit Sorge betrachtet und schlug sich auch nicht einer verbreiteten Skepsis bezüglich der deutschen Frage nieder. Denn diese war unwiderruflich mit der Grenzfrage verknüpft. Obwohl die Mehrheit der Deutschen die Oder-Neiße-Linie inzwischen akzeptierte, würde das Thema erneut auf die Tagesordnung stehen, sollte die Wiedervereinigung greifbar werden. 1989/90 war es dann soweit.

Helmut Kohl stand in der Frage der endgültigen Anerkennung der Oder- Neiße-Grenze bereits lange vor dem Mauerfall unter Druck. Warschaus „Runder Tisch" und die bahnbrechenden Ergebnisse der polnischen Wahlen am 4. Juni 1989 hatten eine demokratische Wende eingeleitet. Der „Eiserne Vorhang“ zeigte erste Risse. Diese Ereignisse ließen die Grenzfrage in neuem Licht erscheinen.
Finanzminister Theo Waigel hatte auf dem Schlesiertreff in Hannover im Juli 1989 vor einer Karte mit den Umrissen Deutschlands in den Grenzen von 1937 in schwarz-rot-goldenen Farben erklärt, dass die deutsche Frage für ihn auch die Gebiete östlich von Oder und Neiße umfasse; das Deutsche Reich sei nicht untergegangen. Diese Äußerungen waren rechtlich korrekt, standen aber im Widerspruch zur politischen Praxis und zur gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung. „Der Spiegel“ beschrieb die Rede als Verbeugung vor konservativen Grenzrevisionisten.[4] Sogleich entbrannte eine neue Debatte: Außenminister Genscher missbilligte Waigels Äußerungen und drohte mit dem Bruch der schwarz-gelben Koalition. Der Bundeskanzler betonte zwar die dauerhafte Aussöhnung zwischen Polen und Deutschland, vermied jedoch zunächst eindeutige Worte zur Grenze. Statt- dessen unterstrich er den Unterschied zwischen den Rechtsstandpunkten, die Waigels Äußerungen deckten, und der von Grenzrevisionismus weit entfernten Realpolitik.[5] Diese ambivalente Haltung war Grundlage für alle weiteren Streitpunkte in dieser Frage: Rechtlich galt mit dem Fortbestehen des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 etwas anderes, als realpoli- tisch anerkannt war. Doch so lange Kohl nicht auch vom juristischen Status quo abrückte, bestand keine Rechtssicherheit für Polen.

Dass Kohls Gesprächspartner auf polnischer Seite nun andere waren, änderte daran zunächst nichts: Zwar sprach der Bundeskanzler am 7. Juli 1989 bei einem Treffen mit Bronisław Geremek erstmals offiziell mit einem Vertreter der Gewerkschaft Solidarność. Doch auch dieser betonte die Sorge und Betroffenheit der Polen hinsichtlich der Grenzfrage.[6] Kohl aber konnte damit rechnen, dass die Grenzfrage in Polen nicht mehr propagandistisch aufgebauscht werden würde.
Auch in der Bundesrepublik nahm der politische Disput weiter Fahrt auf: Bundespräsident Weizsäcker bekräftigte Ende August in einer Botschaft an den polnischen Präsident Wojciech Jaruzelski den Verzicht der Bundesrepublik auf polnische Gebiete. Dies griff die Opposition auf: Altkanzler Willy Brandt bezog in der Bundestagsdebatte zum 50. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen Stellung: „Wer – im Gegensatz zum Geist des Warschauer Vertrages – die Grenzen in Frage stellt, [...] der gefährdet den Zusammenhalt und die Chancen neuen Zusammenhalts zwischen den Deutschen, wo sie heute leben.“[7| Seine Fraktion reichte einen Antrag ein, der im Sinne von Weizsäckers Botschaft den dauerhaften Bestand der polnischen Westgrenze und einen Verzicht auf deutsche Gebietsansprüche erklärte.[8] Diesen lehnte die Bundestagsmehrheit ab. Stattdessen nahm die Regierungskoalition einen Antrag an, der lediglich den Willen „zur weiteren Aussöhnung mit dem polnischen Volk“ bekräftigte.[9]

Außenminister Genscher scherte weiter aus der Koalitionsdisziplin aus. Auf einer UNO-Vollversammlung wandte er sich direkt an den neuen polnischen Außenminister Krzysztof Skubiszewski: Dessen Volk solle wis- sen, dass sein Recht auf ein Leben in sicheren Grenzen von allen Deutschen weder derzeit noch in Zukunft infrage gestellt werde, so Genscher. Damit übertraf er jede Zusicherung Kohls, zumal er an diese Zusage keinerlei Vor- behalte knüpfte.[10] Skubiszewski dankte ihm für die Worte herzlich.

Ein weiterer Antrag der SPD-Fraktion, ebendiese Worte in einer Resolution des Bundestages zu bestätigen, wurde seitens der Union um die Bedingung ergänzt, erst mit einem Friedensvertrag eine endgültige Regelung treffen zu können. Eine derart abgeschwächte Erklärung verabschiedete der Bundestag am Morgen des 9. November 1989. Diese Manöver der Unionsparteien sollten nicht als ernsthafte Revisionswünsche verstanden werden, vielmehr handelte es sich angesichts des Erstarkens der Republikaner und zahlreicher Vertriebenenfunktionäre in den eigenen Reihen um ein innenpolitisch und innerparteilich motiviertes Vorgehen. Dennoch weckten die Grenzpolitik und leise geäußerte Wiedervereinigungswünsche in Polen Befürchtungen.

Entsprechend war das Thema am Tag des Mauerfalls noch nicht befriedet. Polens Wunsch nach einer Zukunft in sicheren Grenzen sollte auf der Tagesordnung stehen, als Helmut Kohl an diesem Tag für einen denkwürdigen Besuch in Polen eintraf. Die polnische Presse beschäftigte sich aus diesem Anlass intensiv mit der Grenzfrage. Besonders die noch erscheinende kommunistische Parteizeitung „Trybuna Ludu“ befürchtete revisionistische Manöver des Kanzlers. Die Ereignisse am Abend dieses Tages veränderten nicht nur Deutschland, sondern auch die deutsch-polnischen Beziehungen schlagartig. Auch wenn die Wiedervereinigung in diesen Novembertagen noch weit entfernt schien und keineswegs vorgezeichnet war, wurde mit dem Mauerfall aus einer binationalen Debatte eine Frage von europäischer Dimension. Kohl unterbrach seinen Besuch gegen den Willen des neuen demokratischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki. Neben erfreuten Stimmen zum Mauerfall gab es in Polen auch Befürchtungen, ob die Friedliche Revolution in der DDR nicht doch mit neuerlichen Expansionswünschen einherging. Hans-Dietrich Genscher erinnert sich in sei- nen Memoiren, dass Lech Wałęsa sich mehr erschrocken als erfreut über den Mauerfall gezeigt habe.[11] Jahrzehntelange gezielt aufgebauschte Furcht, dass ein wiedervereintes Deutschland einen Anspruch auf einstige Gebiete erheben würde, die unsichere rechtliche Lage und ambivalente Signale aus Bonn erklären die sensiblen polnischen Reaktionen.

Eine katholische Messe in Kreisau minderte einige Befürchtungen, besonders, da es hier zu einer symbolischen Versöhnungsgeste zwischen Kohl und Mazowiecki kam: Die beiden Staatsmänner umarmten sich. Den- noch verlief der Kohl-Besuch aus polnischer Sicht enttäuschend. Historisch schien er hauptsächlich aufgrund des Zeitpunkts zu sein, nicht aber aufgrund der hier getroffenen deutsch-polnischen Erklärung, die in der Grenz- frage die Bestimmungen des Warschauer Vertrags lediglich wiederholte.

Kohls weiteres Vorgehen überrumpelte die polnischen Verantwortlichen. Sein berühmter „Zehn-Punkte-Plan“ vom 28. November 1989 enthielt keine Bestimmung für die Oder-Neiße-Grenze. Entsprechend reagierte das polnische Außenministerium: „Es ist klar, dass sich Staaten immer in bestehenden Grenzen vereinigen.“[12] Das Ringen um das ob und wie der Vereinigung prägte die folgenden Monate. Die polnische Bedingung hierfür war nun international sichtbar geworden. Diese bewog auch FDP und SPD dazu, den „Zehn-Punkte-Plan“ zu bemängeln. Doch Kohl taktierte und nutzte Schlupflöcher, um eine Bundestagsabstimmung über eine Grenzfestlegung zu vermeiden. Der Kanzler spielte auf Zeit.

Dabei hätten klärende Worte die erhitzten Gemüter beruhigen können. Berichte in der polnischen Presse von wachsenden antipolnischen Ressentiments in der DDR taten ihr Übriges. Alle polnischen Verantwortlichen forderten fortan lautstark eine eindeutige Haltung Kohls, egal, ob sie aus alter Elite oder der Solidarność-Bewegung stammten. So erklärte Jaruzelski seine Bedenken hinsichtlich der deutschen Einheit, Skubiszewski sprach von „grundlegenden Mängeln“ im „Zehn-Punkte Plan“ und Mazowiecki knüpfte die polnische Zustimmung zur Einheit in seiner Regierungserklärung an den Vorbehalt, dass die Deutschen die Grenze anerkannten.

Zu diesem außenpolitischen Konflikt gesellte sich ein erneut innerdeutscher Disput. Genscher versuchte die Risiken des Kohl’schen Taktieren abzufedern, indem er eigene Akzente setzte. Nichts hindere alle Deutschen – auch in der DDR – daran, ein Bekenntnis zum Bestand der polnischen Westgrenze abzugeben, so der Außenminister beim Dreikönigstreffen der Liberalen. Den Polen versicherte er wiederholt, dass eine Einheit nur in den bestehenden Staatsgrenzen infrage käme, ohne zukünftige Gebietsansprüche. Und doch: Ohne rechtliche Fixierung reichten bloße Äußerungen Polen nicht. Warschau forderte eine Beobachterrolle bei den „Zwei-plus- Vier“-Gesprächen und versuchte, selbst tätig zu werden. Die polnische Regierung schlug Bonn und Ostberlin vor, noch vor der Wiedervereinigung einen Grenzvertrag auszuhandeln, der von einem gesamtdeutschen Souverän ratifiziert werden würde. Der „Mazowiecki-Plan“ fand die Zustimmung Genschers, nicht aber Kohls. Das deutsche Zögern erschien für Polen schwer erträglich, alte Ängste brachen auf. Kohl musste sich bewegen – und tat es. Er einigte sich nach wochenlangem Streit mit Genscher auf einen Entschließungsentwurf, in dem die Unantastbarkeit der Grenze und der Verzicht auf Gebietsansprüche erklärt wurde. Doch Polen war noch nicht beruhigt. Die Tatsache, dass es sich lediglich um eine Entschließung handelte, veranlasste Jaruzelski, von einer „völlig unzureichenden Haltung“ zu sprechen. Nach einer Umfrage eines staatlichen Instituts sollen vor diesem Hintergrund 69 Prozent aller Polen im März 1990 Angst vor einer deutschen Wiedervereinigung gehabt haben.[13]

Bewegung brachte nun ein Akteur, der zuvor nur bedingt handlungs- fähig war: die DDR-Volkskammer. Zügig nach den ersten freien Wahlen im März 1990 gab sie eine Erklärung ab, die allen Forderungen Polens entsprach. Dies hatte durchaus politisches Gewicht angesichts der nach wie vor als unzureichend empfundenen Haltung Bonns.[14] Der Besuch des neuen DDR-Außenministers Markus Meckel in Warschau beruhigte die Lage zusätzlich. Meckel schloss sich den Forderungen an, die Grenzfrage noch vor der Wiedervereinigung zu regeln.

In zähen Verhandlungen mit Warschau trafen Bonn und Ostberlin schließlich eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung: Am 21. Juni 1990 verabschiedeten Bundestag und Volkskammer jeweils fast einstimmig eine gleichlautende Erklärung. Sie verbürgte die Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze und den Verzicht auf jegliche Gebietsansprüche entsprechend den polnischen Forderungen. Kohl wich so nicht von seinen bisherigen Erklärungen ab. Nach wie vor musste ein gesamtdeutscher Souverän über einen Grenzvertrag entscheiden. Doch es verlor auch keine Seite ihr Gesicht. Polen konnte sich aufgrund der parallelen Erklärungen beider deutscher Staaten sicher sein, dass auch ein gesamtdeutsches Parlament einen Vertrag im Sinne der Resolutionen zustimmen würde, zumal eine definitive Zusage zum Abschluss eines Grenzvertrages in einem Begleit- schreiben nach Warschau gesendet wurde.[15] Dei größten Brocken waren damit aus dem Weg geräumt. Der „Zwei-plus-Vier"-Vertrag enthielt für Polen beruhigende Passagen, die eine Wiedervereinigung ohne anschließende Regelung der Grenzfrage unmöglich machten.
Am 14. November 1990 unterschrieben Genscher und Skubiszewski in Warschau den Grenzvertrag. Eine 200 Jahre währende Rivalität, jahrzehntelange fehlende Eindeutigkeit in der Grenzfrage, ein monatelanges, zähes Ringen um den richtigen Zeitpunkt und die treffenden Worte waren vorerst zu einem glücklichen Ende gelangt.

Manchmal sind es diplomatische Verwicklungen zwischen den Staaten, die neue Alltäglichkeiten schaffen. Die Aushandlung der deutsch-polnischen Grenze ist eine von vielen Beziehungsgeschichten. Sie zeigt, dass historische Erfahrungen Misstrauen schüren können und daraus entstandene, widerstrebende Interessen zweier Nationen den Dialog zwischen ihren Vertretern verkomplizieren. Diese Beziehungsgeschichte demonstriert aber auch, dass ebendieser Dialog wichtig ist, um gegenseitige Empfindsamkeiten auszuräumen und das Verständnis für eine als gegensätzlich wahrgenommene Geschichte fördert. Und sie offenbart, dass man verflochtene Geschichten nicht trennen kann. Denn der zähe Verständigungsprozess ist nicht nur Teil einer Geschichte Deutschlands oder Polens, sondern eine von vielen deutsch-polnischen Geschichten. Diese Ereignisse haben ermöglicht, dass man heute, einfach so, in Berlin ins Auto steigen und eine Stunde später die polnische Grenze überqueren kann, ohne dabei durch ein geteiltes Land gefahren zu sein.

Quellen

1 Ingo von Münch, Dokumente des geteilten Deutschland, Stuttgart 1968, S. 496.

2  Polen feiert in Breslau, in: Süddeutsche Zeitung vom 10. 5. 1965.

3  Matthias Stickler, Der Kampf des Bundes der Vertriebenen gegen die Ostverträge, in: Einsichten und Perspektiven. Bayrische Zeitschrift für Politik und Geschichte 8

(2010) 1, S. 18–33, hier S. 26.

4  Rudolf Augstein, Die Lebenslüge an Oder und Neiße, in: Der Spiegel vom 17. 7. 1989.

5  Kohl: „Wir haben die Grenze anerkannt“, in: Der Spiegel vom 17. 7. 1989.

6  Bundesministerium des Inneren, Dokumente zur Deutschlandpolitik. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Deutsche Einheit, Mün-

chen 1998, S. 341.

7  Deutscher Bundestag – 11. Wahlperiode – 154. Sitzung, Plenarprotokoll 11/154, 1. 9. 1989.

8  Deutscher Bundestag – 11. Wahlperiode, Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Erklärung der Bundesregierung aus Anlaß des 50. Jahrestages des Aus- bruchs des Zweiten Weltkrieges, Drucksache 11/5114, 31. 8. 1989.

9  Deutscher Bundestag – 11. Wahlperiode, Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur Erklärung der Bundesregierung aus Anlaß des 50. Jahres- tages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges, Drucksache 11/5117, 1. 9. 1989.

10  Wer konnte das ahnen?, in: Der Spiegel vom 2. 10. 1989.

11 Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 720.

12 Warschau, „Beide deutschen Staaten können sich nur in bestehenden Grenzen ver- einigen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 11. 1989.

13  Bush nimmt sich der Sorgen Polens an, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 3. 1990.

14  Burkhard Olschowsky, Die „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ zwischen der DDR und Polen, in: Karoline Gil/Christian Pletzing (Hrsg.), Granica. Die deutsch- polnische Grenze vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, München 2010, S. 87–104, hier S. 104.

15 Dieter Bingen, Die Polenpolitik der Bonner Republik von Adenauer bis Kohl, 1949- 1991, Baden-Baden 1998, .S 273.