Personen bei der Jugendweihe 1978
© Bundesstiftung Aufarbeitung, Harald Schmitt, Bild 78 0424 001FV

„Hammer und Zirkel im Ährenkranz, Zeichen des Glücks an der Wiege“, so beginnt der Refrain eines FDJ-Lieds, der mit seiner weichen, ansteigenden Melodie gleichsam in die lichte sozialistische Zukunft hineinträgt. Der Säugling, im Zeichen des DDR-Emblems geboren, wird sich keine Fragen nach dem wirklichen Glück stellen müssen, denn das Erziehungsprogramm, das er durchlaufen soll, ist ganz darauf ausgerichtet, ihm derartige Überlegungen abzunehmen. Der Plan sieht vor, aus ihm eine sozialistische Persönlichkeit zu formen, die ihr Glück darin findet, die sozialistische Gesellschaft mitzugestalten. So steht es bereits in der Einleitung zum Jugendgesetz von 1964, und in der zehn Jahre später erfolgten Neufassung des Gesetzes legt der ganze erste Abschnitt die „Entwicklung der Jugend zu sozialistischen Persönlichkeiten“ fest. Bildungssystem, Pionier organisation und Freie Deutsche Jugend (FDJ) sorgen dafür, dass diese Entwicklung planmäßig verläuft. Bereits im  Kindergarten erwerben die angehenden sozialistischen Persönlichkeiten elementares Wissen über ihr sozialistisches Vaterland und die Nationale Volksarmee (NVA), sie lernen die Arbeit der Werktätigen kennen, werden zur Freundschaft mit der Sowjetunion und zur Solidarität mit hungernden Kindern erzogen. Fortsetzung folgt.

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Jens Bisky schaut auf Ideale, Illusionen und Irrtümer zurück

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Der große Erzieher Staat weiß, was richtig und gut ist. Er verspricht den Jugendlichen Permanenz, Stabilität und absolute Gewissheiten. „Das Ziel muß so beschaffen sein, daß es niemanden in die Irre führt. Das bedeutet, es muß auf sicheren Kenntnissen beruhen, auf Ein- sichten, die es ermöglichen, die gegebene Orientierung unbeirrbar einzuhalten“, heißt es im Buch „Vom Sinn unseres Lebens“, das ab 1983 allen an der Jugendweihe Teilnehmenden überreicht wird.[2] Nicht vorgesehen sind: Skepsis oder Zweifel, individuelle Entwürfe, das Abirren vom Weg oder gar die Nichterfüllung des Plans.

Wie fest gefügt das glückverheißende Weltbild war, veranschaulicht der Publizist und Journalist Jens Bisky, 1966 in Leipzig geboren, in seiner Autobiografie „Geboren am 13. August“ (2004). Darin porträtiert er seinen Lehrer für Geschichte und Staatsbürgerkunde als hingebungsvoll unter- richtenden Mann mit „stahlharten Überzeugungen“. Dieser trägt den Spitz- namen „Dogma“, denn seine Leistungstests und „Polylux“-Folien änderten sich über Jahre nicht. Seine Tafelbilder färbten die kapitalistische Welt blau und die sozialistische Welt rot; Pfeile markierten Gegensätze und Widersprüche; die Geschichte schraubte er aus Jahreszahlen und Definitionen zusammen. Die Schüler parierten auf Zuruf:

„Der Imperialismus ist – Steffen?“ „Sterbend.“
„Oliver!“
„Verfaulend.“
„Jens!“
„Das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus.“[3]

Auf diese Weise, so schreibt Bisky, sei alles zu bewältigen gewesen. „Das Deutsche Kaiserreich? Ein Marx-Zitat. Das grausame Wunder der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution? Eine Abfolge aus Definitionen und Stichwörtern: revolutionäre Situation, Aprilthesen, Doppelherrschaft, Sturm auf das Winterpalais, Erstes Dekret.“ (S. 76) „Dogma“ erscheint als groteske Personifikation des erstarrten Systems; er konterkariert die Unbeirrbarkeit, die als Vorzug der sozialistischen Weltanschauung ausgegeben wurde. Bezeichnenderweise hält er seinen Unterricht nicht in Zivilkleidung, sondern trägt wie ein Maschinenbauingenieur einen blauen Kittel, gleichsam als Symbol für die marxistische Auffassung, dass historische Entwicklungen gesetzmäßig verlaufen und die sozialistische Gesellschaft genauso planmäßig wie eine Maschine konstruiert werden kann.

In Biskys Elternhaus wurde über „Dogma“ gespottet, so wie auch über doktrinäre Funktionäre. Der Sozialismus, den Jens Bisky daheim vermittelt bekam, war kein simples Tafelbild, über das man sich amüsieren konnte, sondern eine ernst genommene Überzeugung und Orientierung, gepaart mit Leistungsbereitschaft und Weite des Blicks. Er wuchs, schreibt Bisky, in einer „Aufsteigerfamilie“ (S. 22) auf. Vor allem der Werdegang des Vaters war prägend: 1941 geboren, hatte Lothar Bisky als pommersches Flüchtlingskind die Dorfarmut in Schleswig-Holstein kennengelernt und war 1959 in die DDR übergesiedelt, da sie den einfachen Leuten das bessere Leben zu bieten schien. Er lässt sich als Nachzügler der sogenannten Aufbaugeneration betrachten, die sozialen Aufstieg und kontinuierlichen materiellen Aufschwung erlebte.4 Im jungen DDR-Staat wurden unbelastete Fach- und Führungskräfte gebraucht und Arbeiter- und Bauernkinder programmatisch gefördert; das erzeugte bei vielen, die davon profitierten, eine loyale Bindung. Lothar Bisky machte Karriere, war aber kein Apparatschik und verstand sich, so erzählt es der Sohn, als „Proletarier“. Damit war nicht der soziale Status, sondern das Arbeitsethos gemeint, aber auch der Verzicht auf Privilegien. Als er an die Ostberliner Akademie für Gesellschaftswissenschaften berufen wurde und mit der Familie von Leipzig nach Berlin zog, begnügte er sich mit einer Marzahner Neubauwohnung, da man „nichts Besseres als die Leute da draußen“ (S. 66) sei.

Seine Herkunft prädestinierte Jens Bisky für eine „Jugend nach Plan“ (S. 16), die er rückblickend als „Fallbeispiel“ analysiert. Sein Buch gehört in eine Reihe autobiografischer Texte über das Leben in der DDR, deren Verfasser bei der Publikation erst um die 30 Jahre alt sind. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Autobiografien auf Kindheit und Jugend beschränken – Goethes „Dichtung und Wahrheit“ ist dafür das prominenteste Bei- spiel –, doch ist es eher selten, dass 30-Jährige auf ihr Leben zurückschauen. Teilweise mögen sie auf Trends des Buchmarktes spekulieren, vor allem aber sind ihre Texte Indiz dafür, dass Identität gerade in Krisenzeiten fraglich wird. So lässt sich überhaupt die (manchmal beklagte) Vielzahl von auto- biografischen Titeln über das Leben in der DDR, die nach 1989 erschienen sind, als gesteigertes Bedürfnis nach erinnernder Vergegenwärtigung der eigenen Lebensgeschichte und somit nach Reflexion von Identität verstehen. Das gilt auch für die Generation, die 1989/1990 zur Jugend zählte, wie Biskys Autobiografie exemplarisch zeigt. Charakteristisch für diese Generation ist, dass ihr der Staat eine kollektive Identität und ein geschlossenes, ideologisch längst verkrustetes Sinn- und Orientierungsmuster oktroyierte, zu dem sie sich in irgendeiner Weise verhalten musste. Selbst in der Ablehnung bestimmte es die eigene Identität mit.

Der junge Jens Bisky hatte lange Zeit keine politisch bedingten Identifikationsprobleme; seine Kindheit und Jugend verliefen zunächst ganz nach Plan. Er wuchs „in den Sozialismus hinein“ (S. 32), gewann Russisch-Olympiaden, durfte in die „Pionierrepublik“ am Werbellinsee reisen, übernahm als Pionier und FDJ-Mitglied Funktionen, wurde Kandidat und Mitglied der SED, verpflichtete sich als Offizier auf Zeit und war während der Armeezeit Parteigruppenorganisator einer Artillerieeinheit. Doch als sich im August 1989 nach vier quälenden Jahren die Kasernentore hinter ihm schlossen, befand er sich in einer tiefen Identitätskrise, drifteten Politisches und Privates immer mehr auseinander. Als die Mauer fiel, war er 23 Jahre alt.

Im Vergleich mit der narrativen Struktur von autobiografischen Texten jüngerer Autoren fällt auf, dass Bisky nicht kapitelweise Episoden aneinanderfügt. Sein Text ist kein thematisch organisiertes Kaleidoskop von Kindheits- und Jugenderinnerungen, die bei den Lesern eigene Erinnerungen evozieren können (und sollen), sondern ist kohärent erzählt. Das hat zunächst mit dem Lebensalter zu tun. Für die „Vorwendebiografie“ ist entscheidend, ob man im Herbst 1989 zu pubertieren begann oder ob sich die Jugend dem Ende zuneigte. Als 14-Jähriger entwuchs man gerade der Kindheit und den Thälmannpionieren, hatte zwar bereits prägende Sozialisationserfahrungen in der DDR gemacht, aber noch nicht eigenverantwortlich entscheiden müssen. Die 18-Jährigen hatten bereits zurechenbare Entschlüsse getroffen, zum Beispiel zu Beruf, Studienrichtung, Form und Dauer des Wehrdienstes. Einige Jahre älter, und diese Entscheidungen waren in Lebenszeit umgesetzt worden. In Anbetracht der Fragmentarisierung auch des autobiografischen Erzählens in der Moderne steht jedoch das Lebensalter in keinem zwingenden Zusammenhang mit der narrativen Kohärenz. Bei Bisky ist vor allem das Movens des Erzählens zu veranschlagen. Wie der Untertitel „Der Sozialismus und ich“ andeutet, hat er Grundsätzliches mit sich zu klären. Er hat eine Geschichte zu erzählen, die Geschichte seiner Individuation, mit der er das pädagogische Telos verabschiedet, das sein Heranwachsen in der DDR bestimmte: die sozialistische Persönlichkeit, die sich dank der Einsicht, im Sozialismus das politisch und moralisch überlegene System gefunden zu haben, willig in die Gesellschaft einordnet. Rückblickend vollzieht er den langsamen Abschied von „Idealen, Illusionen und Irrtümern“ (S. 16) nach.

 

Biskys Erinnerungen gewähren Einblick in die komplizierte Identitätsproblematik eines jungen Menschen, der sich in einer doppelten Außenseiterposition befand. In seinem Fall verschränken sich zwei Prozesse bzw. Faktoren, die für seinen jugendlichen Identitätskonflikt bestimmend sind: das Coming-out und die zunehmende Fragilität der DDR-Identität, die paradoxerweise zum wirklichen Problem wird, weil er sie ernst nimmt. Anders als die Mehrheit der Angepassten, die er als Schüler kennenlernt, lebt er im Bewusstsein, aus Überzeugung Sozialist zu sein und zur „Minderheit derer zu gehören, die in der Schule nicht anders redeten als zu Hause“ (S. 52).

Seine Geschichte beginnt Bisky mit einer Episode, die er rückblickend als einen Nullpunkt bezeichnet, an dem er seine Loyalität gegenüber dem Staat hätte aufkündigen müssen. Er schildert, wie er im Januar 1986 als 19-jähriger Offiziersschüler mit dem Zug von Zittau nach Bad Saarow fährt, da er sich dort an der Nerven-Fachpoliklinik der Medizinischen Akademie begutachten lassen muss. Der Neurologe attestiert, dass alle psychischen und neurologischen Funktionen im Normbereich liegen. Aber er notiert auch die „eindeutige sexuelle Trieb- und Empfindungsrichtung“ (S. 12) des jungen Mannes, genauer: Homosexualität, die den Anlass für das Gutachten gegeben hatte. Bisky thematisiert den Vorfall im Kapitel „Das Gutachten“ ein zweites Mal, nämlich dann, als dieser in seiner ansonsten chronologisch strukturierten Erzählung an der Reihe ist. Solch repetitives Erzählen ist ungewöhnlich und signalisiert, dass dem Ereignis ein besonderer Stellenwert zukommt. Der angehende Offizier hatte sich nichts zuschulden kommen lassen; für die ärztliche Untersuchung gab es keinen anderen Grund als die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Schwulen. Die bescheinigte „Deviation“ (S. 133), die Normabweichung, widerspricht zutiefst dem Selbstbild des jungen Mannes, der sich zur verantwortungs- bereiten Leistungselite des Landes zählt. Das Geschehnis hinterlässt aber nicht nur das Gefühl einer tiefen Kränkung, sondern auch einer „Furcht, die nicht verschwand“ (S. 134), und es befördert die Sympathie mit denen, die nicht der Mehrheit folgen. Die Diagnostizierung, der er sich unterwerfen musste, gerät in der retrospektiven Analyse zum Exempel für das Verhältnis des DDR-Staates zum Individuum. Sie steht paradigmatisch für die Pathologisierung der „Abweichler“, für Normierung, Unterwerfung, Ausgeliefertsein und Missachtung des Einzelnen. Und sie ist nur eine von vielen Beobachtungen und Erfahrungen der Demütigung und Geringschätzung des Menschen, die Bisky während seiner NVA-Zeit machte.

Allerdings war zum Zeitpunkt der Begutachtung die politische Welt des Erzählers längst nicht mehr heil. Dabei gab es kein markantes negatives Erlebnis, das die sozialistischen Überzeugungen erschüttert hatte. Der heranwachsende Bisky litt vielmehr schon in den letzten Schuljahren am Überdruss; er hatte „die Schnauze voll“ von der Schule, in der sich alles „endlos wiederholte“ und alles „unvorstellbar dumm“ (S. 87) erschien. Seine Eltern überzeugten ihn davon, die Schule nicht bereits nach der zehnten Klasse zu verlassen, um als „Proletarier“ etwas Richtiges zu erleben. Und so funktionierte der 16-Jährige weiter und leitete die Schüler an, die in ihren Klassen als Agitatoren weltpolitische Ereignisse wie die Präsidentschaftswahlen in den USA zu Botschaften umformulieren mussten, die einmal mehr die Überlegenheit des Sozialismus bestätigen sollten. Er las, was ihm von Schopenhauer und Nietzsche bis Rudolf Bahro in die Hände fiel, pendelte zwischen Linksradikalismus und Konservatismus, zwischen Dogmatismus und völliger Offenheit. In den letzten beiden Schuljahren vor dem Abitur häuften sich dann die irritierenden Erfahrungen mit doktrinären und unaufrichtigen Funktionären, und das Coming-out verstärkte die Wahrnehmung der Widersprüche im Lande, da die neuen Bekanntschaften interessante und unangepasste Persönlichkeiten waren, die zudem häufig einen Ausreiseantrag gestellt hatten.

Am grundsätzlichen Konsens hielt Bisky dennoch fest. Die aufbrechenden Konflikte führten jedoch zu parallel existierenden, unvereinbaren Selbstentwürfen. Es gab das offizielle Bild des fleißigen „Jugendfreundes mit festem Klassenstandpunkt“ (S. 12), es gab den inoffiziellen Bisky, der die Widersprüche zwischen sozialistischen Idealen und realsozialistischer Praxis durch eigenständige intellektuelle Anstrengungen zu bewältigen suchte, und es gab den privaten Bisky, der sich in der Pubertät seiner gleichgeschlechtlichen sexuellen Neigung bewusst geworden war. Einen solchen Identitätskonflikt sah die Jugend nach Plan nicht vor.
 

Der inoffizielle Bisky resultierte aus einer Strategie, die verhindern sollte, dass das Unbehagen an der DDR den offiziellen Bisky, den seines Standpunktes bewussten Jugendfreund, gefährdete. Bisky übernahm diese Strategie von seinen Eltern und nennt sie die Flucht in den Marxismus. Man reiste in seiner Familie, so resümiert er, in die Theorie aus, oder wie er nunmehr sagen würde: in die „Besserwisserei, die alles Unveränderbare, Unstimmige mit dem Lack der Notwendigkeit überzog“ (S. 93 f.). Der Marxismus erscheint als sinnstiftendes Puzzlespiel, mit dessen Hilfe jede Erfahrung irgendwie eingeordnet werden kann. Die eschatologische Naherwartung des kommunistischen Glücks wird hinausgeschoben, und trotz längst vergangener Aufbruchsstimmung gilt die DDR bis zu ihrem Ende als „Land im Werden“ (S. 94). Statt beirrbar zu sein, verlangt man höhere Leistungen von sich selbst. Bisky bezeichnet es als das „Kirchenmodell“.

Die kultursoziologische Forschung hat den Marxismus bzw. das Werk von Karl Marx in die säkulare Religionsgeschichte der Moderne eingeordnet, in der es um „säkulare Glaubensannahmen“ geht, die sich als Widerspruch und Überwindung der „alten“ Religion verstanden und mit eigenen diesseitsorientierten Zielen und Ansprüchen auftraten.[5] Biskys Geschichte spielt auf diesen Charakter einer säkularen Religion mit Orientierungs- und Sinnfunktion mehrfach an. Unvollkommenheiten wurden durch die Eltern erklärt, als sei man „Mitglied einer Kirche“: „Wenn du mit dem Pfarrer unzufrieden bist, dann versuche, ihn zu ändern. Oder werde selbst Pfarrer, damit die kommunistische Kirche gefestigt wird. Nicht meckern, besser machen!“ (S. 95) An anderen Stellen spricht Bisky explizit vom Glaubenscharakter der sozialistischen Überzeugungen oder greift auf religiöses Vokabular zurück. So desillusionierte ihn beispielsweise eine Parteiversammlung im Herbst 1989; er begriff, dass etwas anderes als ein Weiter-So „im Heilsplan des Apparats“ (S. 195) nicht vorgesehen gewesen sei. Zur DDR, so schreibt Bisky, habe er ein Verhältnis „des Glaubens“ (S. 120) gepflegt, und sein vermutlich letzter großer Glaube habe der Reformierbarkeit des Sozialismus durch Michail Gorbatschow gegolten.

Die retrospektive Verabschiedung vom Sozialismus ist eindeutig. Der Glaube wird nicht durch die Hintertür wieder eingelassen, indem zwischen dem Sozialismus als guter Idee und der schlechten Realisierung in der DDR unterschieden wird. In der kritischen Rückschau durchleuchtet Bisky das säkulare Heilsversprechen, Verhältnisse zu schaffen, in denen der „Mensch ganz Mensch“ sein wird, „Genießer des Schönen, ein Gleicher unter Gleichen“ (S. 14). Seine Erinnerungen zeigen, wie der Anspruch in sein Gegen- teil verkehrt wurde, indem der Staat die Menschen als Individuen miss- achtete und darauf abzielte, sie zu normieren und zu disziplinieren. Und Bisky legt offen, wie sich das Glaubensverhältnis auf den Einzelnen aus- wirkte. Die systembedingten Konflikte, die in der Pubertät aufbrachen, focht er aufgrund seiner besonderen Situation, „en famille mit Staat und Partei“ (S. 196) zu sein, nicht mit den elterlichen, schulischen oder son- stigen Autoritäten aus, sondern internalisierte sie. So lässt sich auch der Titel seines Buches deuten: „Geboren am 13. August“. In der Selbstdeutung der DDR galt die Mauer als notwendiger „antifaschistischer Schutzwall“ gegenüber dem Klassenfeind, in Wirklichkeit diente sie der Repression nach innen. Diesen Zwiespalt hatte Bisky, der am fünften Jahrestag des Mauerbaus geboren wurde, ins eigene Innere geholt.
 

Quellen

1 Das Lied ist unter dem Titel „Hammer und Zirkel im Ährenkranz“ beispielsweise abgedruckt in: Musik. Lehrbuch für die Klassen 9 und 10, 13. Aufl., Berlin 1984, S. 56.

2  Vom Sinn unseres Lebens, hrsg. vom Zentralen Ausschuß für Jugendweihe in der Deutschen Demokratischen Republik, Leiter des Redaktionskollegiums: Lothar Oppermann, Berlin 1983, S. 220.

3  Jens Bisky, Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich, Berlin 2004, S. 76. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Buch in Klammern unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

4 Für die DDR-Gesellschaft gibt es verschiedene Generationskonzepte. Ich beziehe mich auf Thomas Ahbe/Rainer Gries, Gesellschaftsgeschichte als Generationenge- schichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der DDR, in: Annegret Schüle/Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hrsg.), Die DDR aus generationen- geschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006, S. 475–571. Zur Aufbau- generation rechnen die Autoren die Geburtsjahrgänge von Mitte der Zwanziger- bis Mitte der Dreißigerjahre.

5 Gottfried Küenzlen, Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religions- geschichte der Moderne, Frankfurt a. M. 1997, S. 14; zu Karl Marx vgl. S. 109–121.