Es dauerte ein wenig, bis ich den Hauseingang gefunden hatte. Hier in einer Seitenstraße im Berliner Stadtteil Wedding reihte sich ein Mehrfamilienhaus an das nächste, eines sah aus wie das andere. Doch dann endlich entdeckte ich nach schier endloser Suche erleichtert das richtige Klingelschild mit dem Namen meiner Interview-Partnerin. Schnell spurtete ich das Treppenhaus hinauf. Sie wartete oben in der geöffneten Wohnungstür. „Hast du gut hergefunden, Tina?“ Nun ja. Das sympathische Gesicht war mir vertraut. Auf einer Fachtagung zur DDR-Geschichte hatten wir uns einige Wochen zuvor kennengelernt und dort auch den heutigen Gesprächstermin bei ihr daheim verabredet. Ob eine Kollegin ebenfalls dabei sein dürfe, hatte sie mich damals gefragt und ich ihr gern mein Einverständnis dazu gegeben.
Die besagte Kollegin hatte sich schon eingefunden. Sie lehnte rauchend am Küchenfenster, und wir begrüßten uns freundlich. Bewaffnet mit jeweils einem großen Becher Kaffee setzen wir uns an den großen Couchtisch der gemütlichen Altbauwohnung. Eine Schale mit Keksen stand bereits dort. Die Formalitäten zum Datenschutz brachten wir zügig hinter uns. Ich drückte wie schon so viele Male zuvor die rote Taste meines Diktiergerätes. Die kleine Lampe leuchtete auf, und ich eröffnete an jenem Sonntagnachmittag ein Gespräch, das mich noch lange Zeit danach beschäftigen sollte. Davon möchte ich hier berichten.
Den vollständigen Aufsatz können Sie hier lesen:
Geboren wurden die beiden Lehrerinnen im Jahr 1979. Die eine in Thüringen, die andere in Sachsen-Anhalt. Etwa zwanzig Jahre später im inzwischen wiedervereinten Deutschland verschlug es dann beide zum Lehramtsstudium für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde in die Hauptstadt Berlin. Hier lernten sich die jungen Frauen kennen. Und bis heute teilen sie ein ähnliches Schicksal.
Wenige Jahre vor ihrer Geburt versammelten sich im baden-württembergischen Beutelsbach führende Didaktiker zu einer Tagung und verständigten sich dort nach langer Debatte auf einen Konsens, der die politische Bildungslandschaft – zunächst in der alten und nach 1990 auch in der geeinten Bundesrepublik – nachhaltig beeinflussen sollte. Nach wie vor genießen die damals verabschiedeten Leitlinien breite Akzeptanz innerhalb der „scientific community“. Jener Konsens besagt, dass Schüler nicht durch einseitige Meinungen zu überwältigen sind (Indoktrinationsverbot), sondern im Unterricht ein Sachverhalt vielmehr in seiner vollen Kontroversität darzustellen ist. Zudem solle den Lernenden das nötige „Werkzeug“ zur eigenständigen Auseinandersetzung, Urteilsbildung und Einflussnahme in Bezug auf gesellschaftliche Belange an die Hand gegeben werden.[1] Kurz: Man solle sie zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern erziehen. Denn um gebetsmühlenartig abgerufenes Faktenwissen allein geht es schon lange nicht mehr. In erster Linie sind Kompetenzen gefragt.
Schön und gut. Doch was in der Theorie durchaus plausibel erscheinen mag, stellt Lehrende häufig dann vor Probleme, wenn ihre eigenen Vorstellungen mehrheitlich eigentlich nur eine Perspektive zulassen. Gerade bezogen auf die Auseinandersetzung mit der DDR sind solche inneren Konflikte, wie ich feststellen sollte, keine Seltenheit. Und diese Problematik betrifft Lehrende gesellschaftswissenschaftlicher Fächer in allen Teilen Deutschlands gleichermaßen. Denn wo in anderen Disziplinen 1+1 immer noch 2 ergibt, sind solche Logiken im Historisch-Politischen keinesfalls selbstverständlich. Hier ist es immer dem ganz eigenen individuellen Kontext geschuldet, welche Bilder das jeweilige Bewusstsein beherrschen und prägen.
Und damit sind wir wieder zurück in der Weddinger Altbauwohnung.
An diesem Frühlingstag dachten die beiden jungen Lehrerinnen häufig an ihre frühe Kindheit in der DDR. „Heimelig, fröhlich, sicher und schön.“ Das waren die Worte, die der Kollegin dabei in den Sinn kamen. Ihre Familie sei „halt einfach – normal“ gewesen, ergänzte meine Gastgeberin und rührte noch einen Löffel Zucker in ihren Kaffee.
Unschwer konnte ich mir vorstellen, dass diese Erfahrungen und Erinnerungen Spuren hinterlassen haben und sich heute gewiss auch auf ihren Schulunterricht auswirken.
Der Zeithistoriker Martin Sabrow versuchte 2009, die Bandbreite rückblickender Sichtweisen auf die DDR darzustellen. Seine Unterscheidung zwischen „Diktatur-“, „Arrangement-“ und „Fortschrittgedächtnis“ bildet die bislang detaillierteste Form der Differenzierung zwischen den vielfältigen DDR-Erinnerungen.[2]
In der heutigen Wahrnehmung der DDR-Geschichte durch meine beiden Interview-Partnerinnen wurden diktatorische Aspekte, wie etwa das Schicksal politisch Inhaftierter durch die Stasi, zwar keinesfalls ausgeklammert. Dennoch trug in erster Linie ein Zusammenspiel aus frühkindlichen Erinnerungen und dem Blick auf die eigene Familiengeschichte dazu bei, dass vordergründig das „Arrangementgedächtnis“ ihre Vorstellungen dominierte. Die klassische Gaus’sche Nischengesellschaft.[3] Daher mussten sie während des Interviews doch ein wenig überlegen, wenn es um die Frage ging, was ihre Schüler ihrer Ansicht nach aus der Unterrichtseinheit „DDR“ mitnehmen sollen. Und vor allem: was nicht! Die Dinge, die damals in der DDR wirklich „ganz furchtbar“ waren, könne man, so sagten mir beide, an einer Hand abzählen. Dass ihre Schüler aus dem Unterricht gehen und sagen: „Die DDR war was ganz Schlimmes“, diese Vorstellung widerstrebte ihnen daher doch. Und auch einem Diktaturenvergleich zwischen NS- und SED-Staat standen sie äußerst skeptisch gegenüber. Ihnen war jedoch bewusst, dass eine allzu subjektive Färbung ihres Unterrichts mit derlei Vorstellungen dem Indoktrinationsverbot des Beutelsbacher Konsenses massiv entgegenstünde.
Daher haben sie in ihren Unterrichtseinheiten mit Methoden experimentiert, die ihren Schülern ein möglichst hohes Maß na eigenständigem Entscheiden und Bewerten abverlangten. Teil dieser Methoden war meist auch Ronny Müller.
Von der Ostsee bis zum Erzgebirge mag es zwischen 1949 und 1989 sicherlich so manchen leibhaftigen Ronny Müler gegeben haben. Als Anschauungsperson mi Unterricht diente den Lehrerinnen bislang allerdings nur ein fiktiver Charakter.*
Der Werdegang dieses gedachten Ronny wurde von den Schülerinnen und Schülern unter der ständigen Frage „Was wäre, wenn?" von seiner Geburt bis zu seinem 30. Lebensjahr nachvollzogen. Grundsteine für seinen Lebensweg wurden sicherlich in frühester Kindheit primär durch das Ermessen seiner Eltern gelegt. Ab einem gewissen Alter war es jedoch „DDR-Ronny“ selbst, der in Situationen geriet, die ihn vor grundlegende und zukunftsweisende Entscheidungen stellten. Ob sein Eintritt in die FDJ oder ein späteres Engagement in der Kirchengemeinde – alles war mit Konsequenzen verbunden. Vermeintlich positiven wie vermeintlich negativen. Das war damals im Grunde nicht anders als heute.
Den Lernenden wurde durch die Auseinandersetzung mit Ronny Müller abverlangt, Entscheidungen mit ihren jeweiligen Konsequenzen nachzuvollziehen und dabei auch ihre individuellen Wertvorstellungen zu reflektieren. In Anlehnung daran sollten sie außerdem ihre eigenen gegenwärtigen Umstände und damit verbundene Handlungsalternativen kritisch in den Blick nehmen. Für die Schülerschaft meiner Interview-Partnerinnen stelle sich diese Aufgabe in folgendem lebensweltlichen Kontext:
Neben ihrem sehr ähnlichen Lebensweg gibt es eine weitere entscheidende Parallele zwischen den beiden Lehrerinnen: ihren Schulalltag. Denn nach Studium und Referendariat landeten sie letztlich als Lehrerinnen an einer Haupt- bzw. einer Gesamtschule. Nicht einfach irgendwo in Berlin, sondern in einem Bezirk, dem – einstmals als sozialer Brennpunkt verschrien – sein schlechter Ruf noch immer vorauseilt. Nach Kreuzberg-Friedrichshain gilt der Wedding heute als Stadtteil mit dem zweithöchsten Migrantenanteil in der Hauptstadt. Auf über 80 Prozent schätzten die Kolleginnen den Anteil der Schüler „nicht deutscher Herkunft“ in ihren Klassen. Das Urteil meiner Gesprächs-Partnerinnen über das Bildungsniveau ihrer Schützlinge fiel wenig schmeichelhaft aus. „Die machen ja schon immer genug falsch“, bekam ich unverblümt von der Kollegin zu hören. Doch hier konnte Ronny Müller scheinbar Abhilfe leisten. Denn immer, wenn ihre Schüler seinen Fall nachvollziehen sollten, wurde nicht in solchen Kategorien gedacht. „Richtig“ und „falsch“ wurden ausgeklammert. Was zählte, war einzig ihr eigenes begründetes Urteil. Eine Methode, die gerade deshalb von den sonst oft so empathie- und emotionslos wirkenden Schülern dankbar angenommen wurde. Darüber hinaus lernten sie dabei, was es heißt zu abstrahieren: Damals war es das System der DDR mit Zuckerbrot und Peitsche – heute sind es die Umstände als Jugendlicher mit Migrationshintergrund und niedrigem Bildungsstand im Berliner Wedding, denen es sich tagtäglich zu stellen gilt.
Wie die beiden aber einräumten, sei Berlin als Schulort für sie in der Tat ein Glücksgriff. Ein Sonderfall. Denn fast nirgendwo anders lasse sich die deutsch-deutsche Vergangenheit so eindringlich präsentieren. Und gerade diese Anschaulichkeit sei bei ihrer Schülerklientel zwingend erforderlich. Da haben es Berufskollegen etwa aus Nordrhein-Westfalen ihrer Ansicht nach deutlich schwerer.
Abschließend lenkte ich unser Gespräch noch einmal auf die Fachtagung, die uns zusammengeführt hatte. Während ihre Kollegin für eine weitere Zigarette auf den Balkon ging, resümierten wir zu zweit. Noch immer war sie beeindruckt davon, dort eine der Koryphäen der DDR-Aufarbeitung leibhaftig am Rednerpult erlebt zu haben. Auch hatte der Austausch mit den übrigen Teilnehmern viele neue und interessante Aspekte für sie zutage gebracht.
Schön wäre es jedoch, so auch die Ansicht der Kollegin, die inzwischen ihre Raucherpause beendet hatte, wenn man künftige Veranstaltungen dieser Art sehr viel spezifischer auf die einzelnen Schulformen zuschneiden würde. Vieles von dem, was man vor Ort vermittelt bekommen habe, sei zwar an Gymnasien durchaus praktikabel, an einer Hauptschule aber schlichtweg undenkbar. Und sei es nur die Textlastigkeit einiger Materialien, die das Lesevermögen ihrer Schüler auf eine harte Probe stellen würden. Im Dialog mit Kolleginnen und Kollegen der gleichen Schulform könne man solche Probleme weitaus gewinnbringender diskutieren.
In einem Punkt sprachen mir die beiden ganz besonders aus der Seele: Die Anregung zur Selbstreflexion sollte ihrer Ansicht nach zu einem zentralen Bestandteil jeglicher Art von Fortbildung erklärt werden. Denn es ist keinesfalls selbstverständlich, dass Lehrkräfte eine so kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Perspektive vornehmen, wie diese zwei jungen Lehrerinnen es während unseres Gespräches taten. Ebendiese Haltung ist jedoch essenziell für die eigene Mündigkeit und sollte daher von jedem Lehrenden auch an nachkommende Generationen weitervermittelt werden.
Mittlerweile war die Zeit weit voran geschritten. Doch gefühlt verging das Gespräch wie im Flug. Meinen Kaffee hatte ich kaum angerührt, inzwischen war er längst kalt geworden. Die Abfahrt meines Zuges trieb mich zum Aufbruch. Schade, denn es war ein wirklich schöner Nachmittag. Aber eigentlich war alles Wesentliche gesagt. Ich schaltete das Diktiergerät ab. Die kleine Lampe erlosch und zusammen mit den Gesprächsunterlagen packte ich es zurück in meine Tasche. Verabschiedung, vielen Dank und schnell zur Tram. Mir schwirrte der Kopf. Was blieb, waren viele Antworten und doch auch so viele neue Fragen. Im Zug, den ich noch knapp erreicht hatte, zog ich dennoch das Diktiergerät erneut hervor und begann, mir alles noch einmal anzuhören. Es war ein wirklich gutes Gespräch, und mit jedem Satz stolperte ich über so viele kleine Gesichtspunkte, die sich nun auf einmal zu einem großen Ganzen zusammenfanden. Wieder einmal eröffnete sich mir eine neue Sicht der Dinge, erweiterte sich mein Horizont.
Sagt der Ossi zum Wessi: „Wir sind ein Volk.“
Sagt der Wessi zum Ossi: „Wir auch.“
Meine mehrstündige Heimfahrt führte mich durch vier Bundesländer. Zwei „neue“ und zwei „alte“. Und dabei ließ mir ein Aspekt keine Ruhe: Auch gut zwanzig Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung beschäftigen uns noch immer die Fragen der „inneren Einheit“ und der vermeintlich zu überwindenden Unterschiede zwischen „Ost“ und „West“ – und hierbei rede ich nicht von den wirtschaftlichen. Auch meine beiden Gesprächspartnerinnen sprachen mit mir darüber. Noch immer, so gewinnt man den Eindruck, wird vielerorts proklamiert, das höchste Ziel der historischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des geteilten Deutschlands sei es, eine „gemeinsame deutsche Identität“ herauszubilden. Doch was heißt das eigentlich?
Ich schloss die Augen und lehnte meinen Kopf an die Scheibe. Draußen dämmerte es bereits, es regnete. „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“, rief ich mir die Worte Willy Brandts ins Gedächtnis. Aber gehören wir nicht irgendwo alle zusammen? Tag für Tag verlassen immer wieder Menschen ein Land, um in einem anderen ein neues Leben zu beginnen. Konsequenzen hat dies jedoch für jeden einzelnen von uns. Denn wir alle sind damit Teil einer Weltgemeinschaft.
Sind also diese Diskussionen um die „Mauer in den Köpfen“ im Grunde obsolet und werden von den gegenwärtigen Fragen und Herausforderungen in den Hintergrund gerückt, die eine stetig heterogener werdende Migrationsgesellschaft an uns stellt? Einer sinnstiftenden verbindenden Nationalidentität hinterherzujagen, käme einer Suche ohne Ende gleich. Doch auch Sabrows Auflistung der „Erinnerungsorte der DDR“ verharrt in nationalstaatlichen Bahnen. Ist sie damit etwa längst nicht mehr „up to date“?
Nur langsam und zögerlich öffnen sich seit einigen Jahren die didaktischen Diskurse für diese Aspekte. Um hier einen Fortschritt zu erzielen, könnte jedoch gerade der Blick in die Haupt- und Gesamtschulen unseres Landes wegweisend sein. Denn was dort vielerorts bereits gelebter Alltag ist, geht unleugbar uns alle etwas an. Die künftig entscheidende Frage innerhalb des Erinnerungsdiskurses dürfte lauten: „Wer erinnert sich an was und warum?“ Sie ist in allen Bereichen historischer Auseinandersetzung zwingend zu bedenken und zu reflektieren. Denn ebenso wie sich Identität heute nur noch im Plural verstehen lässt, stellt sich Erinnerung multiperspektivisch dar.
Sollte der Schriftsteller Stefan Heym, der die Volkskammerwahlen in der DDR am Abend des 18. März 1990 mit diesen viel zitierten Worten kommentierte, nun etwa doch recht behalten?
Bei diesem Gedanken machte ich mir zunehmend Sorgen um die Zukunft der DDR-Geschichte im Unterricht. Ihre Etablierung in den Lehrbüchern, Curricula und Schulen, für die sich in der jüngsten Vergangenheit so viele stark gemacht hatten und die ich selbst mehr als befürworte – sollte sie jetzt womöglich völlig überholt sein?
Die Antwort darauf ist ein klares „Nein“, und dies nicht allein deswegen, weil bekanntlich keiner an dem Ast sägt, auf dem er gerade sitzt. In den vergangenen Jahren, so meine Wahrnehmung, ist es der Fachwelt gelungen, eine breite Öffentlichkeit für die Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Teilungsgeschichte zu sensibilisieren – gerade auch im Hinblick auf die beiden großen Jubiläen 2009 und 2010. Auch das mediale Interesse erschien so hoch wie nie. Dies war absolut richtig, notwendig und längst überfällig, denn das Thema birgt ein immenses Potenzial. Es wurde viel erreicht. Doch damit kein Ausruhen auf den Lorbeeren. Um eventuelle noch bestehende Vermittlungsbarrieren abzubauen und gegebenenfalls alte Schwarz-Weiß-Zeichnungen innerhalb der DDR-Forschung zu korrigieren, muss diese sich immer wieder aufs Neue an aktuellen Entwicklungen ausrichten und stets flexibel bleiben.
Wie dies im Angesicht gegenwärtiger Herausforderungen aussehen könnte, dafür haben mir meine zwei Gesprächs-Partnerinnen erste Vorschläge geliefert, und auch in Fachkreisen beginnt man allmählich, sich entsprechende Gedanken zu machen: Die Antwort liegt im Bekenntnis zur Diversität. In Zeiten, in denen „In-Between“-Identitäten „halt einfach – normal“ werden, sich beispielsweise Vereinigungen wie „Die DeuKische Generation“[6] herausbilden, lässt sich nationalstaatliche Zugehörigkeit nicht mehr monokulturell denken. Wie 1976 die Experten in Beutelsbach, so sind wir heute erneut gefordert, uns auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner für die historisch-politische Bildung zu verständigen, der dieser zu einer interkulturellen Fundierung verhilft. Ein solcher Hintergrund könnte in der Auseinandersetzung mit den Fragen der Menschenwürde und -rechte liegen.[7]
Das bedeutet jedoch keinesfalls das Ende für die schulische Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte. Vielmehr lassen sich künftig ausgehend auch von ihren Beispielen Wechselwirkungen und Aushandlungsprozesse zwischen Individuen und Gesellschaften veranschaulichen und auf gegenwärtige Verhältnisse anwenden. So bietet etwa das Thema „Flucht aus der DDR“ einen hervorragenden Aufhänger, um sich mit Jugendlichen im Unterricht über die Gründe zu unterhalten, die Menschen dazu bewegen, ein Land zu verlassen. Und umgekehrt natürlich auch danach zu fragen, warum andere genau dies nicht getan haben.[8]
Auch für Lehrer in Nordrhein-Westfalen kann die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte gewinnbringend sein, wenngleich sie – anders als die beiden Berliner Kolleginnen – ohne die unmittelbaren Überreste der Teilung vor dem Schultor unterrichten. Die DDR-Geschichte kann helfen, generelle Fragen des Zusammenlebens in heutiger Zeit exemplarisch zu thematisieren.
Noch sitzen Vertreter der Mehrheitsgesellschaft in deutschen Lehrerzimmern und bekleiden führende politische Ämter. Wenn sich diese Verhältnisse künftig mehr und mehr ändern sollten, so wird die jüngst angestoßene Hinwendung der fachdidaktischen Forschung zu den neuen Aspekten nationalstaatliche Identität und Erinnerungspluralität sicherlich auch eine Eigendynamik entwickeln und ein neues transkulturelles Selbstverständnis herbeiführen.
Nach gut viereinhalb Stunden Fahrt erreichte ich endlich meine Heimatstadt. „Heimelig, sicher, fröhlich und schön“ kam es auch mir sogleich in den Sinn, als ich aus dem Zug auf den Bahnsteig hinaustrat. Und so füllt ein jeder Geschichte mit seinen Geschichten. Und alle sind sie auf ihre ganz eigene Weise spannend und einzigartig und doch prägend für unser aller Miteinander. Danke für ein tolles Gespräch, ihr Zwei!
1 Armin Scherb, Der Beutelsbacher Konsens, in: Dirk Lange (Hrsg.), Basiswissen Politische Bildung. Strategien Politischer Bildung, Baltmannsweiler 2007, S. 31–39.
2 Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: ders. (Hrsg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 11–27. In Anlehnung an: Pierre Nora, Erinnerungsorte Frankreichs, München 2004 sowie Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2005.
3 Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Hamburg 1983.
4 Vergleichen lässt sich diese Herangehensweise mit dem Online-Spiel „DDR-Life. Gestalte ein Leben in der DDR nach" der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, www.ddr-life.de/spiel/ (zuletzt eingesehen am 25.8. 2011). Neben Beate, Maik und Kathrin findet sich tatsächlich auch hier ein Ronny.
5 Das wohl berühmteste Zitat des Soziologen Georg Simmel aus seinem 1908 veröffentlichten „Exkurs über den Fremden“.
6 Vgl. den Internetauftritt www.deukischegeneration.de/ (zuletzt eingesehen am 26. 8. 2011).
7 Mirjam Tünschel, Erinnerungskulturen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Anforderungen an die Pädagogik, Oldenburg 2009, S. 61 ff.
8 Aktuelle Beispiele für Publikationen und Materialien, die diese Entwicklungen in Bezug auf die DDR-Thematik aufgreifen, wären z. B. Peter Lautzas (Hrsg.), Grenzenlos? Grenzen als internationales Problem, Schwalbach/Ts. 2010; oder auch die Handreichung: Landesjugendring Brandenburg und Berlin (Hrsg.), Multiperspektivität und Interkulturelles Geschichtslernen in der Jugendgeschichtsarbeit, Berlin 2010.