„Vielleicht wirst du verrückt, dachte er. Vielleicht ist es so, wenn man verrückt wird. […] und er fragte sich, wer er nun wäre: derjenige, der sich sah, oder derjenige, der sich spürte, und er dachte: Vielleicht bist du zwei Personen, vielleicht bist du ebenso Dieser, wie du Jener bist, aber wenn du Dieser und Jener bist, was hat dann Dieser zu erwarten und was Jener?“
Klaus Schlesinger , Die Spaltung des Erwin Racholl, 1977
In literarischen Texten kann „Wahnsinn“, unabhängig von den herrschenden Gesellschaftsordnungen, dazu dienen, die Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Texte, die „Wahnsinn“ literarisch verarbeiten, finden sich sowohl in der Literatur der DDR als auch der Bundesrepublik. Die Erzählung Klaus Schlesingers „Die Spaltung des Erwin Racholl“ (1977, DDR) und der Roman „März“ (1976, BRD) von Heinar Kipphardt stehen beispielhaft für eine solche Literatur in beiden Staaten. Sie verbindet der gesellschaft skritische Gehalt. Beide Texte setzen sich mit den staatlichen Disziplinierungs- und Kontrollmaßnahmen auseinander und appellieren an das Recht des Individuums, seine Persönlichkeit frei entfalten zu können. Die gesellschaftliche Bedeutung dieser Kritik unterscheidet sich allerdings vehement. Während der Text Schlesingers die ideologische Grundlage der DDR grundsätzlich infrage stellt, kritisiert Kipphardt in seinem Roman nur bestimmte Aspekte, bei denen das System der Bundesrepublik versage.
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Schlesingers Erzählung „Die Spaltung des Erwin Racholl“ gehört zu einer Gruppe von Texten aus der DDR, die den Identitätsproblemen des Menschen in einer sozialistischen Wirklichkeit literarische Gestalt verleihen. Dazu dient ihnen der „Wahnsinn“.[1] Schlesingers Text soll exemplarisch illustrieren, auf welche Weise und mit welcher Funktion die literarische Hauptfigur „wahn- sinnig“ wird, warum der „Wahnsinn“ ein „Politikum“ bildet und nicht nur ein kritisches Licht auf den dargestellten Realsozialismus der DDR, sondern auch auf deren ideologische Grundlage wirft. Der Vergleich dieser Erzählung mit Heinar Kipphardts Roman „März“, der Mitte der Siebzigerjahre in der Bundesrepublik erschienen ist und den „Wahnsinn“ funktionalisiert, um die Bundesrepublik anzuprangern, wird mehr als nur Gemeinsamkeiten und offensichtliche Unterschiede bei der literarischen Gestaltung des Topos auf- zeigen. Stellvertretend stehen diese Texte nicht nur für eine literarisch umgesetzte Gesellschaftskritik, sondern sie verdeutlichen das Verhältnis zu „wahn- sinnigen“ Normabweichlern in verschiedenen Gesellschaftsordnungen.
Gerade wegen seiner Komplexität und Funktionalisierbarkeit ist der „Wahnsinn“ als Topos in der Literatur bis in die Gegenwart beliebt. Die Kulturgeschichte verdeutlicht, dass Wahnsinn abwechselnd religiös, medizinisch und moralisch definiert wurde. So findet er auch seine Entsprechung in der Literatur und ihren (Anti-)Helden. Dabei ist der „Wahnsinn“ immer in ein Verhältnis zur jeweils geltenden Norm – sowohl in ihrer Bedeutung als Durchschnitt als auch als Ideal – und der Abweichung davon zu sehen. Bestimmt ist damit noch nicht, wie diese Devianz beurteilt wird.
Bereits die Literatur der Antike beschrieb „Wahnsinn“ als etwas Janus- köpfiges: Entweder er äußerte sich als geistige Erhöhung in Gestalt der Seher oder als göttliche Strafe, die einige der homerschen Figuren erfuhren. Erst im Zeitalter der Vernunft versuchten deren Fürsprecher, so Foucault in seinem kulturgeschichtlichen Diskurs „Wahnsinn und Gesellschaft“, den „Wahnsinn“ als falsches Denken zu bestimmen. Für ihn ersetzte das „kritische Bewusstsein des Wahnsinns“ damit die mittelalterliche Vorstellung von der „tragischen Gestalt des Wahnsinns“ in einer verrückten, uner- gründlichen Welt.[2] Welche Bedeutung und Bewertung dem „Wahnsinn“ als kulturellem Konstrukt zukommt, hängt Foucault zufolge vom jeweiligen sozialen und gesellschaftlichen Hintergrund und dessen Normenkatalog ab. So misst eine Gesellschaft den „Wahnsinn“ oft an der Gesundheit oder der Vernunft. Obwohl der „Wahnsinn“ als Abweichung von der Norm nicht notgedrungen eine negative Beurteilung erhalten muss, wird er oft mit der (Geistes-)Krankheit oder Unvernunft gleichgesetzt und damit natürlich negativ gewertet. Mittlerweile ist der „Wahnsinn“ ein totum pro parte, er steht also für konkrete normabweichende Verhaltensweisen. Während der Begriff selbst einerseits kein konkretes Verhalten mehr benennt – was auf die Bedeutungsverschiebungen zurückzuführen ist, die er im Laufe der Jahrhunderte erfährt –, schließt er andererseits zugleich noch immer alle ihm einst zugerechneten Erscheinungsformen mit ein, wie die Demenz, die Melancholie, den Verfolgungswahn oder die Persönlichkeitsspaltung.
In Schlesingers Erzählung leidet Erwin Racholl an einer Persönlichkeitsspaltung. In diesem Text wird die Geschichte des konformen Angestellten Erwin Racholl aus Ostberlin erzählt, der eines Morgens wider Willen und auf unerklärliche Weise mit der U-Bahn nach Westberlin fährt. Dort angekommen, findet er sich nach einigen Irrwegen durch die Stadt in einer Kneipe wieder, wo in einem Nebenzimmer eine Gerichtsverhandlung statt- findet. Der Richter ist Racholls Vorgesetzter, Genosse Leo, der Angeklagte ist Racholl selbst. Diesen unterzieht Leo einem Verhör über sein Leben. In dieser kafkaesken Situation konfrontiert ihn der Vorsitzende mit Zweifeln an der Glaubwürdigkeit seiner Person und seiner politischen Einstellung. In Racholl wächst Empörung über die starre Schuldzuweisung. Im Kommunismus und seinem Parteieintritt fand er nach dem Nationalsozialismus und der beängstigenden Orientierungslosigkeit Hoffnung auf seelische Ruhe. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Racholl nimmt eine Identitätsspaltung wahr. Die Art, wie er sich nach außen als konformer Bürger präsentiert, steht im Gegensatz zu seinen Gedanken und Gefühlen. Die politischen Gegebenheiten der DDR, deren Anspruch und die dem entgegenstehende Realität verstärken seine ambivalenten Empfindungen. Als Beispiel gibt er die wirtschaftliche Situation in Ostberlin an, die den Handel nach Westberlin erlaubt, jedoch keinen Besitz der D-Mark:
„[...] und dann sag dir: diese Maßnahme hat ihre Ursache im verschärften Klassenkampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus, [...], sag dir das mal als Fünfzehn- oder Siebzehnjähriger, wenn du eine Tasche mit Schmuggelware gegen verbotene Währung von Niederschönhausen/Berkenbrücker Steig nach Charlottenburg/Kantstraße bringen darfst, aber ein Fünfmarkstück mit verbotener Währung darfst du nicht in deinem Portemonnaie haben, da merkst du doch, daß der Riß durch dich durch geht, durch dein Portemonnaie und durch deinen Kopf, da kann sich doch keiner mehr auskennen, und das muß einem doch zugute gehalten werden, wenn man sich nicht richtig auskennt!“[3]
Racholl verteidigt sich: Er habe viel getan, um zu vergessen und die neue Ordnung zu verinnerlichen. „Verrückt, verrückt! sprach Racholl zu sich und spürte wieder etwas, das sich auflehnte gegen ihn, dieses fremde Gefühl, das gar nicht so fremd war, nein, das kannte er doch: wie wenn du wund bist am ganzen Körper und dir jede Berührung weh tut, daß du schreien könntest, das war es!“ (S. 90)
Und er kommt immer mehr zu dem Schluss, dass die Erziehung zum „neuen sozialistischen Menschen“, der allein durch seinen Willen die Vergangenheit und die alten Werte abstreift, eine Utopie ist. „Wenn es so wäre, daß ich Dieser bin und Jener war, sagte Racholl, dann wäre alles einfacher. Aber das Komplizierte ist, daß ich glaube, ich bin Dieser und Jener [...].“ (S. 96/97) Auch seine Bemühungen, Herr der Situation zu werden, scheitern. Das Gefühl verdrängt die rationalen Überlegungen. Er wird sich bewusst, dass er in sich gespalten ist. Darüber hinaus belastet ihn das nervenaufreibende Verhör, er fühlt sich ihm psychisch nicht gewachsen und kapituliert schließlich vor den Fragen und Kommentaren des Vorgesetzten. „Er soll das Urteil sprechen und dich endlich schlafen lassen, dachte er ergeben. Du bist doch völlig kaputt.“ (S. 86)
Am Ende ergibt er sich dem bevorstehenden Urteil. Doch der Prozess nimmt eine unerwartete Wendung. Sein Vorgesetzter, der das Verhör leitet, gesteht ihm, dass sie von Vornherein alles über ihn gewusst hätten. Die zuvor gegen ihn gerichteten Argumente werden plötzlich zugunsten Racholls interpretiert. Er ist als notwendiges Mitglied der Gesellschaft rehabilitiert. Erst das Ende der Erzählung hält eine Überraschung bereit: Der vermeintliche Traum Racholls von dem Verhör erweist sich als Endlos- schleife, aus der Racholl nicht mehr erwacht. Er durchlebt nicht nur einen Traum als kurzen Zustand des „Wahnsinns“. Zwar deutet der Beginn der Geschichte zunächst nur auf einen Traum hin: Racholl passiert unerwartet und problemlos die Grenze nach Westberlin und wandelt offenbar jenseits von räumlichen Eingrenzungen. Auch die Sprünge zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wenn er Ereignisse aus seiner Vergangenheit noch ein- mal durchlebt, bestätigen diesen Eindruck. Er gibt an, jegliches Zeitgefühl verloren zu haben. Mehrfach enthält die Erzählung Zäsuren, etwa wenn Racholl einschläft oder aufwacht. Doch nach jedem Erwachen zieht sich das Verhör weiter hin. Seinen Unglauben über die wahrgenommene Wirklichkeit führt er auf seine Fantasie zurück. „Es ist alles nur in meinem Kopf, dachte Racholl. Es ist nicht wirklich. Es ist nur in meinem Kopf.“ (S. 68) Doch der endlose Traum – der Wahnsinn – währt. Racholl bleibt in seiner Realität gefangen. Die Grenzen zwischen der Außen- und Innenwelt wer- den aufgehoben – ein charakteristisches Phänomen des „Wahnsinns“.
Dass ein Individuum allerdings nicht nur auf eine kommunistische Diktatur mit Entfremdung und „Wahnsinn“ reagiert, verdeutlichen Texte der bundesdeutschen Belletristik bis 1989.[4] Vor allem der Roman „März“ von Heinar Kipphardt liefert ein eindrückliches Beispiel für die Funktionalisierung des „Wahnsinns“, um Kritik an einer demokratisch-liberalen Gesellschaft zu üben. Kipphardt, selbst Psychiater und beeinflusst von der antipsychiatrischen Bewegung der Sechzigerjahre, bedient sich in seinem Text des Motivs der „Irrenanstalt“. Sie steht zum einen als pars pro toto für eine „krankmachende“ Gesellschaft und zum anderen als Sinnbild für die Strafanstalt. Mit jenem Attribut werden die negativen Folgen des Kapitalismus wie die Ausbeutung und die Monotonie in der Arbeit versehen. Aber auch die nach wie vor gegenwärtige kleinbürgerlich-protestantische, preußische Mentalität, die individuelle Selbstentfaltung, Fantasie und Sensibilität unterdrücke, gilt als „pathogen“.
Kipphardt flicht in seinem Roman montageartig Eigenaussagen und Gedichte des paranoid-schizophrenen Patienten Alexander März, Kommentare von dessen Familie, Tagebuchauszüge und ärztliche Diagnosen sowie Statistiken ein. Aus diesem Textmosaik setzt sich ein Lebenslauf zusammen, an dem deutlich wird, dass der eingewiesene Patient schon als Kind an seiner Familie, der Schule und später der Arbeit geistig erkrankte. Das Umfeld schulte ihn von Kindesbeinen an auf die Norminhalte der kleinbürgerlich-protestantischen, nach wie vor autoritär geprägten Gesellschaft, in der kein Platz für Selbstverwirklichung, Fantasie und Sexualität blieb. Er musste sich den autoritären Normierungspraktiken des Vaters unterziehen. Die Schule setzte diese fort. Später arbeitet er als Lagerarbeiter in einem Werk und hat große Schwierigkeiten, sich einzugliedern. Plötzlich bricht der Wahnsinn bei ihm aus. März reflektiert darüber in einem seiner Aufsätze und wertet ihn sogar als etwas Göttliches auf:
„Wo, wenn der Wahnsinn bei mir ausbricht, hat er in mir gesteckt? In welchem Teil? Wie ist er so ungemerkt hineingekommen, in welcher getarnten Gestalt? Da er in nahezu jedem jederzeit ausbrechen kann, muß er in jedem auch stecken nahezu und ausbrechen wollen. Nun aber wo? Gründliche Studien haben mir die Gewißheit gebracht: Der Wahnsinn lauert auf dem Grunde des Verstandes auf seinen Ausbruch und ist dem Verstande geheuer. Im Wahnsinn steckt Verstand (Methode). Verstand ist geregelter Wahnsinn, Wahnsinn ist entregelter Verstand. Er spricht dann die Hieroglyphensprache, das ist die innere Sprache, die Kamelattasprache der Kunsteisfabrik. (Mensch) Wahrscheinlich ist der Wahnsinn etwas, das nicht zum Vorschein kommen darf, keinesfalls aus seiner Gefangenschaft ausbrechen, weil er die Ruhe stört im Haus, Hof und Wohngemeinschaft. Vielleicht wäre es besser, wenn er öffentlich mal still zum Vorschein käme und hieße eventuell Phantasie. Auch Phantasie allerdings ist etwas sehr störendes, z. B. in Büro und Fabrik. Man spricht auch von göttlichem Wahnsinn. Allerdings nicht in Lohberg [Name der Heilanstalt]. Hier bin ich von Wahnsinn geschlagen.“[5]
Aufgrund der Geisteskrankheit von der Familie zwangseingewiesen, wird März von der Gesellschaft entmündigt und isoliert. Doch die Heilanstalt, in die er kommt, setzt die Disziplinierung und „kapitalistische Ausbeutung“ fort, indem sie beispielsweise als Arbeitsbetrieb funktioniert, in der sich die Patienten durch Arbeit als nützlich und wirtschaftlich gewinnbringend erweisen sollten. Und März bekennt: „Ich bin nichts wert, ich kann mich nicht einordnen.“ (S. 9) Der behandelnde Arzt, der eindeutig mit der antipsychiatrischen Bewegung sympathisiert, pathologisiert zugunsten des psychisch Kranken die Gesellschaft. Es sind nun in diesem Fall die Repräsentanten der Macht, wie z. B. der Direktor der „Irrenanstalt“, die die Geisteskrankheiten erst hervorrufen, „die den zweck haben, den wirklichen wahnsinn der norm als geistige gesundheit erscheinen zu lassen. merke: wenn karl fuchs [ein Patient] äußert, die a-bombe ticke in seinem kopf und das gilt als wahn, so hält das den bomberpiloten gesund, in dessen maschine sie wirklich tickt und der sie abwirft.“ (S. 198)
Nicht dem von der Gesellschaft ausgegrenzten, stigmatisierten Individuum gilt die Kritik, sondern der Gesellschaft, die die Normen vorgibt: Die Familie und das soziale Umfeld sind pathologisch/pathogen, nicht der zum „Wahnsinnigen“ Stigmatisierte. Die Diskrepanz zwischen der Gesellschaft und dem ausgegrenzten Individuum, zwischen der Norm und dem Einzelnen bleibt in Kipphardts Roman. Aber das abweichende Verhalten des Individuums März wird nicht als krank und damit pejorativ dargestellt, es ist nur die natürliche, wenn nicht gar die gesunde Reaktion auf eine pathologische Gesellschaft. Der Psychiater Kofler konstatiert: „Der Psychiater kommt mit einem System von Gewalt und Unterdrückung unmittelbar in Berührung, und wenn er nachdenkt, stößt er auf das Gesamtsystem, das Gewalt und Unterdrückung hervorbringt. Entweder er vergißt, was er weiß [...] oder er entschließt sich zum Kampf gegen die Institution des Irrenhauses und das Gesamtsystem, daß die Institution hervorbringt.“ (S. 127)
Gemeinsam ist den beiden Texten die gesellschaftskritische Funktionalisierung des „Wahnsinns“. Dieser verdeutlicht und hinterfragt herrschende Normen wie den Arbeitsethos und den Anpassungsdruck. Die Gesellschaft selbst ist verantwortlich für den „wahnsinnigen“ Zustand des Individuums. Erwin Racholl steht exemplarisch für die Figur des „wahnsinnigen Grenzgängers“, die in Texten aus der DDR immer wieder aufgegriffen wird.6 Es handelt sich um den Typus einer Figur, die durch ihr Verhalten und Denken eine Grenze überschreitet – die Grenze der geltenden Normen und Wertvorstellungen im Realsozialismus. Die diesem Typus entsprechenden literarischen Figuren sind Menschen, die bis zu einem bestimmten Moment angepasst durchs Leben gehen, plötzlich aber wider Willen mit ihrem „Wahnsinn“ konfrontiert sind. Dieser kann unterschiedliche Gründe und verschiedene Funktionen haben: Ursachen können das vorgeschriebene Denken, Handeln und/oder die wahrgenommene und erfahrene Diktatur sein. Darauf reagieren die literarischen Figuren mit unterschiedlichen Wahnsinnsformen, die von Flucht, Protest und Ausbruch über Erkenntnisgewinn bis zur krankhaften Verinnerlichung reichen können. Bei Schlesinger verursacht das herrschende System, das selbst gespalten und in sich widersprüchlich ist, eine Persönlichkeitsspaltung. Der „Wahnsinn“ ist Reaktion und gleichzeitig Absage an die DDR mit ihrem vernunftorientierten Anspruch, mittels Disziplinierung und Kontrolle einen sozialistischen Menschen zu erziehen. Umso schwerer wiegt das kritische Gewicht, da diese Figuren nicht bewusst ausbrechen wollen, sondern einfach nicht anders können.
In der bundesdeutschen Prosa vor 1989, die „Wahnsinn“ thematisiert, ist das Figurenensemble weitaus vielfältiger und nicht auf einen Figurentypus wie den des „wahnsinnigen Grenzgängers“ beschränkt. Kipphardts Romanfigur März gehört in seinem Wahnsinn zweifelsohne zu den Normabweichlern: Er unterscheidet sich vom Durchschnitt. Doch lässt sich nicht eindeutig bestimmen, ob er nicht mehr funktionieren kann oder will. März verliert auf tragische Weise seine Freiheit: Seine Familie weist ihn in eine „Irrenanstalt“ ein. Kipphardts Gesellschaftskritik reicht weit tiefer als andere Texte aus der Bundesrepublik, die sich dieser Thematik annehmen. Die antipsychiatrische Bewegung der Sechzigerjahre, die Kipphardt befürwortete, verurteilte eine Psychiatrie, die ihre staatlich sanktionierte Macht dazu missbrauchte, Andersdenkende und Normabweichler zu stigmatisieren und zu kontrollieren. Doch gesellschaftskritische Texte wie Heinrich Bölls „Billard um halb zehn“ oder Günter Grass’ „Die Blechtrommel“ zeigen, dass die „Irrenanstalt“ auch eine völlig andere Funktion haben kann: In diesen Texten ist sie eine Nische und ein freiwilliger Rückzugsort, den die Gesellschaft ihren Abweichlern, den „Wahnsinnigen“, eben aufgrund ihrer demokratischen Grundlage zugesteht. Und selbst ein solch kritischer Text wie der Roman von Kipphardt zielt letztlich nicht auf die Grundsätze eines demokratischen Systems. Er verurteilt einzelne Institutionen wie die Familie oder die Psychiatrie, die bisweilen ihre Macht über den Einzelnen missbrauchen.
Anders verhält es sich mit Schlesingers Erzählung. Der grundlegende Unterschied zwischen diesem Text und Kipphardts Roman „März“ liegt in der politischen Tragweite der Kritik. In seinem Buch „Der Wahnsinn“ konstatiert Roland Jaccard, dass sich sämtliche Gesellschaftsformen negativ auf die menschliche Psyche auswirken können. Doch er nimmt insofern eine Abstufung vor, als Diktaturen „durch ihre übermäßige Rigidität, durch den ständigen Anpassungsaufwand, den sie ihren Mitgliedern abfordern, durch ihre totalitäre Herrschaft über den einzelnen [...] für pathogener als andere gehalten werden können“.[7]
Die Erzählung Schlesingers bestätigt diese These. Der funktionalisierte „Wahnsinn“ in „Die Spaltung des Erwin Racholl“ kritisiert nicht nur bestimmte gesellschaftliche Institutionen und Strukturen. Der „Wahnsinn“ ist hier weitaus mehr als nur das Schicksal eines wahnsinnig gewordenen Individuums. Er offenbart das im wahrsten Sinne utopische und ideologisch rigoros forcierte Menschenbild der DDR und verweist auf die der Diktatur selbst zugrunde liegende „Schizophrenie“.
1 Erzählungen bzw. Romane von Ulrich Plenzdorf: Legende vom Glück ohne Ende (1979, DDR), Martin Stade: Von einem der alles doppelt sah (1976, DDR), Karl- Heinz Jakobs: Wilhelmsburg (1979, BRD), Erich Köhler: Der Krott (1976, DDR), Jurek Becker: Allein mit dem Anderen (1980, BRD; 1986, DDR), Monika Maron: Die Überläuferin (1986, BRD).
2 Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeit- alter der Vernunft, Frankfurt a. M. 1981, S. 47 f.
3 Klaus Schlesinger, Die Spaltung des Erwin Racholl, in: ders., Berliner Traum, Rostock 1977, S. 5–103, hier S. 90.
4 Vgl. Thomas Anz, Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deut- schen Gegenwartsliteratur, Stuttgart 1989.
5 Heinar Kipphardt, März, München/Gütersloh/Wien 1976, S. 86.
6 Vgl. Evelyna Schmidt, Die Leiden des Neuen Menschen. Zum Wahnsinn-Diskurs in der Literatur der DDR und der VR Polen, Osnabrück 2012.
7 Roland Jaccard, Der Wahnsinn, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1983, S. 107.