Erinnerungstafel der DDR an "25 Jahre antifaschistischer Schutzwall"
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Die DDR bezog ihre Legitimation zu großen Teilen aus ihrem Selbstverständnis als antifaschistischer Staat. Mit dem Verweis auf ihren Antifaschismus mobilisierte die SED Unterstützung für sich und ihren Staat. Auf diese Weise grenzte sich die DDR von der NS-Vergangenheit und besonders von der Bundesrepublik ab. Das neue sozialistische Deutschland sollte das Gegenbild zum westdeutschen Teilstaat sein, gestützt auf die Propaganda, dass dieser aufgrund ideologischer, politischer und vor allem personeller Kontinuitäten zur nationalsozialistischen Vergangenheit, die weit in die Nachkriegsordnung hineinreichten, unrettbar verdorben sei. Dieser antifaschistische Gründungsmythos war politisch verordnet. Die Entfernung von Nationalsozialisten aus den Führungspositionen in Staat und Gesellschaft der DDR wurde als eine Haupterrungenschaft des sozialistischen deutschen Teilstaats herausgehoben.

Im April 1946 hatte die SED knapp 1 300 000 Mitglieder. Nicht nur Neumitglieder fanden dabei den Weg in die Partei, sondern auch „Genossen“, die schon vor 1945 politisch aktiv und Mitglieder in anderen Parteien gewesen waren. Auch die DDR konnte ehemalige Angehörige der NSDAP nicht vom politischen Leben ausschließen, sondern benötigte diese für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Dem ging in der Regel ein komplexer Prozess voraus, in dessen Verlauf die Schwere der jeweiligen NS-Belastung abgewogen wurde, der aber auch mit anderen kaderpolitischen Merkmalen gekoppelt war. Sehr gute fachliche Qualifikationen und positive Arbeitsergebnisse stellten hierbei das entscheidende Plus dar. Außerdem war, angesichts anhaltender politischer Säuberungen, vor allem für Leitungspositionen Loyalität zur SED gefragt. Dies ging oftmals mit Beschönigungen in den biografischen Selbstdarstellungen einher, vor allem bei der Frage nach dem Lebenslauf vor 1945.

Besonders die SED als Hüterin des antifaschistischen Vermächtnisses und Auftrags sollte zunächst vom Zustrom ehemaliger Nationalsozialisten freigehalten werden. Eine formale Basis hatte diese Erwartung in einer zentralen Vereinbarung der damals in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zugelassenen Parteien vom 30. Oktober 1945, keine ehemaligen Mitglieder der NSDAP aufzunehmen. Das Zentralsekretariat der neu gegründeten SED hob jedoch bereits im Juni 1946 einen Unvereinbarkeitsbeschluss auf, dem zufolge ehemalige NSDAP-Mitglieder nicht in die SED eintreten durften. Aufnahmebedingung war nun, dass es sich bei den Kandidaten nur um sogenannte Mitläufer handelte und diese sich loyal zur neuen Ordnung verhielten sowie aktiv am demokratischen Wiederaufbau teilnahmen.[1]

Erweitert wurden diese Kriterien mit dem „Gesetz über die Aufhebung der Beschränkungen für ehemalige Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen und frühere Offiziere“ vom 2. September 1952. Darin wurden alle „festgelegten Einschränkungen der Rechte für ehemalige Mitglieder der NSDAP oder deren Gliederungen sowie für frühere Offiziere der Hitlerwehrmacht aufgehoben und ihnen die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte gewährt“.[2]

Wenngleich man sich in offiziellen Darstellungen eher bedeckt hielt, so war die Parteiführung darüber besorgt, welche markante Spur der Zulauf ehemaliger Nationalsozialisten in der Mitgliederstatistik in der SED hinterließ. Nach Abschluss der „Parteisäuberungen“ 1954 verschaffte sich die SED-Parteizentrale einen repräsentativen Überblick über die frühere Zugehörigkeit ihrer Parteimitglieder zur NSDAP und deren Gliederungen. Allein im Bezirk Erfurt waren fast 11 000 SED-Genossen ehemalige NSDAP Mitglieder. Ihr Anteil an der Gesamtmitgliedschaft betrug 15,4 Prozent, womit Erfurt einen Spitzenwert in der DDR-Bezirksstatistik einnahm; im Bezirk Gera lag der Anteil bei 11,3 Prozent, im Bezirk Suhl ebenfalls bei 15,4 Prozent. Bezieht man die frühere Zugehörigkeit zu NSDAP-Gliederungen sowie zur Hitlerjugend (HJ) und dem Bund Deutscher Mädel (BDM) in die Statistik ein, so hatten im Bezirk Erfurt 35,8 Prozent der SED-Mitglieder eine NS-Vergangenheit. Jene parteiinterne Statistik ergab für die Bezirke Gera und Suhl ähnlich hohe Werte.[3] Wie es in einzelnen Kreisen aussah, verdeutlicht ein Bericht des Zentralkomitees (ZK) von 1954: „So gibt es im Kreis Hildburghausen Grundorganisationen, deren Mitglieder fast hundertprozentig ehemals Mitglieder der NSDAP waren, z. B. die Parteiorganisation Vermessungsdienst, dort sind von 19 Mitgliedern 18, die ehemals der NSDAP angehörten.“[4] Die Informationen zur politischen Vergangenheit waren im Rahmen der Kaderarbeit abgefragt und gesammelt worden.

Das Parteistatut verpflichtete dabei zu ehrlichen Selbstauskünften. Trotzdem dürfte es zahlreiche SED-Mitglieder gegeben haben, die ihre frühere NSDAP-Mitgliedschaft verschwiegen. Denn ungeachtet aller Integrationsangebote vonseiten der SED blieb ein öffentliches Bekenntnis vor dem Hintergrund einer allgegenwärtigen Antifaschismus Rhetorik in der DDR und wechselnder Ausschlusskriterien bei „Parteisäuberungen“ durchaus prekär.

Auf der 2. Tagung des ZK der SED vom April 1963 wurden die gesellschaftliche Integration der früheren Anhänger und Mitläufer des NS-Regimes und das Problem des Verschweigens noch einmal unter dem Stichwort „Ehrlichkeit gegenüber der Partei“ im Bericht erwähnt. Darin hieß es, einige Parteimitglieder hätten ihre Vergangenheit verschwiegen oder sogar falsch dargestellt. Zu derartigem Verhalten gebe es keinen Grund, denn die SED habe „allen ehemaligen einfachen Mitgliedern der Hitlerpartei die Möglichkeit zur Mitarbeit und zum Beginn eines neuen Lebens“ gegeben und würde besonders der „irregeleiteten und im faschistischen Sinne erzogenen Jugend“[5] große Aufmerksamkeit widmen.

Nun forderte die Parteiführung bei dieser Thematik erneut Ehrlichkeit ein; Ausschlüsse wurden jedoch nicht thematisiert. Die Mitgliederpolitik war also tendenziell auf Integration statt Ausgrenzung gerichtet, ausgeklammert blieb freilich die ernsthafte Erforschung der Vorbelastung der Parteifunktionäre.

Den vollständigen Aufsatz können Sie hier lesen:

Der Funktionär Heinz Tittl und der Umgang der SED mit einer NSDAP-Vergangenheit

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Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe von Soziologen und Historikern an der Universität Jena erfasste vor wenigen Jahren mithilfe von Personalunterlagen, Parteiakten sowie autobiografischen Zeugnissen alle SED-Sekretäre in den Bezirken Gera, Erfurt und Suhl, insgesamt 441 Funktionäre. Damit wurde erstmals die Vollerhebung einer regionalen Herrschaftselite im Staatsozialismus realisiert.[6] Mithilfe der Unterlagen des Berlin Document Centers (BDC) konnte die Frage beantwortet werden, wie hoch die NS-Angliederung innerhalb dieser Funktionärskategorie waren. Insgesamt 263 Sekretäre waren 1945 mindestens 17 Jahre alt und kamen deshalb bei den Recherchen in der Mitgliederkartei der NSDAP in Betracht. 36 Sekretäre konnten tatsächlich als frühere NSDAP-Mitglieder identifiziert werden. Nur von einem Sekretär war dieses „negative Kadermerkmal“ einer NS-Vergangenheit auch schon vor der Überprüfung der BDC-Unterlagen bekannt gewesen. Von allen anderen fand sich in den Parteiunterlagen der SED kein Hinweis auf eine frühere NSDAP-Mitgliedschaft. 22 Funktionäre hatten bereits vor dem 20. April 1944 den Weg in die NSDAP gefunden. Auffallend ist die insgesamt hohe „Trefferquote“ im Vergleich zu den bisher bekannten Angaben aus den Kaderakten. Die Annahme, dass die späteren SED-Sekretäre ihre NSDAP-Mitgliedschaften individuell verschwiegen haben, erscheint kaum vorstellbar: nicht zuletzt, weil die Funktionäre selbst Angst vor den Konsequenzen des Verschweigens haben mussten. Jeder Politikwechsel der SED in Verbindung mit einer Überprüfung der kaderpolitischen Angelegenheiten konnte ihre Position gefährden.

Ein Beispiel für den ambivalenten Umgang mit der NSDAP-Vergangenheit von SED-Funktionären auf unteren Ebenen bietet Heinrich (Heinz) Tittl. 1926 auf dem Gebiet der ČSR geboren, erlernte er den Beruf des Bau- und Kunstschlossers und wurde 1944 zur Wehrmacht eingezogen. Nach Kriegsende geriet er in sowjetische Gefangenschaft und ging 1946 nach Jena. Dort trat Tittl im Februar 1947 in die SED ein. Fortan war er im Landessekretariat der Nationalen Front in Erfurt sowie als Lehrausbilder und Parteisekretär beim Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) Jena tätig. Nach erfolgreichem Studienabschluss an der Parteihochschule „Karl Marx“ wurde Tittl von 1961 bis 1965 in das Amt des Zweiten Sekretärs der Betriebsparteiorganisation beim VEB Carl Zeiss Jena berufen. Anschließend war er bis 1976 im selben Kombinat Erster Sekretär der Industriekreisleitung.[7] Danach wurde er als Direktor für Internationale Beziehungen an die Friedrich-Schiller-Universität Jena versetzt. Dieses Amt bekleidete er bis zu seinem Tod 1981.[8] Auch Tittl war Mitglied der NSDAP gewesen. Laut Mitgliederkartei hatte er am 11. Februar 1944 einen Mitgliedschaftsantrag gestellt. Die Aufnahme in die Partei war wie bei so vielen Hitlerjungen zu „Führers Geburtstag“ erfolgt.[9] Erst nach seinem Antrag war Tittl zur Wehrmacht eingezogen worden. Diese Rekonstruktion der Daten ist hilfreich, um Tittls Mitgliedschaft in der NSDAP als gültig zu werten. In keinem seiner Lebensläufe ist eine solche Mitgliedschaft erwähnt.[10] Als sich Tittl um einen Studienplatz bewarb, bescheinigte ihm der Antifaschistische Block der Stadt Jena die Nichtmitgliedschaft in der NSDAP, erwähnte jedoch hier bereits seine Zugehörigkeit zur Hitlerjugend. Den Angaben des Antifaschistischen Blocks zufolge hatte Tittl als Beweis entsprechende Bürgschaften vorgelegt.[11] In nur einer biografischen Selbstauskunft von 1962 merkte er seine HJ-Mitgliedschaft an, aber ohne Angabe des Zeitraumes.[12] In der parteiinternen Empfehlung bezüglich seines Einsatzes beim Kreisausschuss der Nati]onalen Front findet sich ebenfalls kein Hinweis auf eine Mitgliedschaft Tittls in der HJ und der NSDAP, stattdessen wird seine angebliche Zugehörigkeit zu den Roten Falken – dem Jugendverband der sozialistischen Arbeiterbewegung – als positiver Abschnitt in seinem Leben gewürdigt.[13] Unklar bleibt, woher der SED-Kreisvorstand Jena diese Information nahm. Unter Beachtung seines Geburtsjahres 1926 und dem Verbot der Roten Falken 1933 hätte Tittl jenem Verband nur maximal ein Jahr angehören können. Eine derartige Lebensstation schmückte zwar jeden sozialistischen Lebens lauf, dennoch bekannte sich Tittl persönlich nie zu einer solchen Zugehörigkeit. Die SED selbst besserte demnach den sozialistischen Lebenslauf ihres verdienten Kaders auf.

Tittls NS-Vergangenheit war sogar der Staatssicherheit bekannt, allerdings wurde dieser Fakt im Lebenslauf des Funktionärs, den die Kreisdienststelle Jena über ihren IM anlegte, nicht festgehalten.[14] Dessen NSDAP-Mitgliedschaft wurde dem MfS während seiner Tätigkeit im Reichsbahnausbesserungswerk Jena 1953 angezeigt. Im Vorfeld der Ereignisse um den 17. Juni 1953 hatte sich in dem Werk eine Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) gebildet, der Tittl nicht angehörte. Heinrich Tittl war zu dieser Zeit bereits Geheiminformant „Manfred“ sowie ehrenamtlicher SED-Parteisekretär und Leiter der Abteilung Arbeit mit engen Kontakten zur Streikleitung. Die Arbeiter im RAW Jena hatten sich den streikenden Werktätigen des Zeiss-Werkes angeschlossen. Aufgrund dieser Vorkommnisse richtete der Staatssicherheitsdienst einen Vorgang „Juni“ ein. Während der Ermittlungen räumte der ehemalige Ortsgruppenleiter der NSDAP in Heinrich Tittls früherem Wohnort schriftlich dessen Zugehörigkeit zur NSDAP ein und gab sogar dessen Mitgliedsnummer an.[15] Dieser eindeutige Hinweis findet zwar Erwähnung, wurde jedoch nicht weiterverfolgt. In den späteren Personalakten des GI bzw. IM „Manfred“ griff das MfS das Wissen um seine frühere Parteimitgliedschaft nie wieder auf. Über Tittl sei „nichts Nachteiliges bekannt“ und es lägen „keinerlei Anhaltspunkte vor, daß T. sich mit irgendwelchen Schädlingsarbeitern befaßt“.[16] Tittl hatte sich während der Streiks und dem Aufstand um den 17. Juni 1953 in den Augen des MfS als zuverlässig erwiesen. Das Verhalten seitens des MfS fügt sich der SED-Linie: „Da ist nichts gewesen!“[17] Die Personen wurden „hier und jetzt“ benötigt. Der sozialistische Staat brauchte besonders parteiverbundene, linientreue Kader, die sich unter anderem bei der Niederschlagung des „antifaschistischen Umsturzversuches“ bewährt hatten.

Für eine weitere Analyse ist nicht nur der Eintritt eines Jugendlichen in die NSDAP ausschlaggebend, sondern der Umgang des SED-Sekretärs Heinz Tittl mit anderen ehemaligen „Parteigenossen“ lange nach dem Krieg. Zum Beispiel durfte 1968 der Kaderleiter eines Carl-Zeiss-Teilbetriebs, Rolf Stöcklein, wegen seiner politischen Vergangenheit nicht wieder für die Leitung der SED-Grundorganisation in seinem Betrieb kandidieren. Der 1927 geborene Kaderleiter hatte seine NSDAP-Mitgliedschaft anders als der Industriekreisleitungssekretär des VEB Carl Zeiss Jena, Tittl, nie verschwiegen.[18] Stöcklein war 1953 der SED beigetreten, wirkte viele Jahre hauptamtlich für den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und trug in der SED-Grundorganisation seines Betriebs die Verantwortung für Agitation und Propaganda. Der erzwungene Rücktritt des Kaderleiters vom Parteiamt, der in Bezug auf seine Vergangenheit ehrlich war und sich viele Jahre aktiv beim Aufbau der DDR „bewährt“ hatte, lässt den Schluss zu, dass trotz des Integrationswillens der Betroffenen eine Mitgliedschaft in der Nazipartei ein nachhaltiger Makel war, der den beruflichen Aufstieg beenden konnte. Jedoch war Tittl bereits in die höchste Parteifunktion im VEB Carl Zeiss Jena aufgestiegen, sodass ihm keine Konsequenzen bezüglich seiner früheren Mitgliedschaft in der NSDAP drohten, sofern er sich weiterhin loyal gegenüber der Partei verhalten würde. Der Generaldirektor des Kombinates Wolfgang Biermann war ebenfalls NSDAP-Mitglied gewesen, [19] und auch er verschwieg diesen Umstand in all seinen Lebensläufen.[20] In einem der wichtigsten Betriebe der DDR waren sowohl Parteisekretär als auch Generaldirektor ehemalige NSDAP-Mitglieder. Auch hier ist es nur schwer vorstellbar, dass die SED von den nominellen Mitgliedschaten nichts gewusst haben soll.

Die Tatsache, dass 36 regionale Spitzenfunktionäre durch einen Quellenabgleich als ehemalige „Parteigenossen“ identifiziert werden konnten, lässt eine hohe Dunkelziffer auch bei den „einfachen“ SED-Mitgliedern vermuten. Einerseits war das persönliche Verschweigen einer NSDAP-Vergangenheit für die Karriere zweckdienlich; andererseits jedoch ist die Annahme, dass die SED von einer übergroßen Mehrheit ihrer regionalen Spitzenkader bei der diesbezüglichen Auskunft hintergangen worden sein soll, wenig plausibel. Wahrscheinlich ist daher: Die braune Vergangenheit ist zunächst politisch relativiert worden, und erst danach setzte ein individuelles Verschweigen ein. Ein einvernehmliches Beschweigen speziell in den Anfangsjahren der SBZ/DDR bis in die Fünfzigerjahre hinein kann für weitere Einzelfälle nachgewiesen werden.[21] Weshalb eine solch hohe Zahl von SED-Sekretären ihre NSDAP-Mitgliedschaften in ihren kaderpolitischen Selbstauskünften nicht angegeben hat, kann nicht mit individuellen Beweggründen erklärt werden. Die SED besaß alle wichtigen Informationen über die Vergangenheit ihrer Mitglieder. Parteiinterne Statistiken gaben mehrfach Auskunft über die Zahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder. Da diese zum einen nur für Analysen innerhalb der Partei verwendet worden sind und zum anderen zahlreiche „Ehemalige“ ausweisen, fanden offenbar keine Manipulationen an den Statistiken statt. Die Zahlen bedeuten weiterhin, dass die SED Listen über frühere NSDAP-Mitglieder führte und diese sehr genau erfasste. Nach den gesetzlichen Veränderungen stellte deren Aufnahme auch nicht das eigentliche Problem dar.

Die Mitglieder und Kandidaten der SED gaben demnach ihre ehemalige Zugehörigkeit zur NSDAP an. Da die Partei für den Aufbau ihrer Strukturen Helfer benötigte, bedurfte es eines flexiblen Umgangs mit dem vorhandenen Personal. Infolgedessen wurden die ehemaligen NSDAP-Mitgliedschaften ausgeblendet und alle, die ihre Bereitschaft für die Errichtung des „Neuen“ signalisierten, integriert. So fand ein einvernehmliches Beschweigen der braunen Vergangenheit statt, das auf Treue basierte. Solange sich die Kader loyal gegenüber der Partei verhielten, machten ihnen umgekehrt auch die SED keine Schwierigkeiten. Die einvernehmliche Verschwiegenheit gewährleistete gegenseitige Loyalität. Erst wenn ein Funktionär „Fehler“ machte oder eine entsprechende Veröffentlichung in den westdeutschen Medien erschien, nutzte die SED ihr geheimes Wissen.

Von der Verschwiegenheit profitierte demnach nicht nur der Funktionär selbst, sondern vor allem die Partei. Anders als kommunistische Widerstandskämpfer, die kaum angreifbar waren und in der straff hierarchisch organisierten Partei immer ein gewisses Risiko unabhängiger Meinungsbildung darstellten, waren die belasteten Kader aus der NS-Zeit ungleich einfacher zu disziplinieren. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, wie es der SED über lange Zeit gelang, den eigenen Umgang mit NS-belasteten Kadern zu verschleiern und zugleich nach außen hin einen bis heute kaum angefochtenen Antifaschismusmythos um die Partei zu inszenieren.

Quellen

[1]Dokumente der SED. Beschlüsse und Erklärungen des Zentralsekretariats und des Parteivorstandes, Berlin 1948, S. 51.

[2] Anlage Nr. 1 zum Protokoll Nr. 129/52 v. 2. September 1952: Beschlußprotokoll des Politbüros des Zentralkomitees der SED, SAPMO-BArch DY 30/IV 2/2/229, Bl. 14. Analyse der Abteilung Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen vom 8. Februar 1954, SAPMO-BArch DY 30/IV 2/5/1372, Bl. 13–18, hier Bl. 18.

[3] Analyse der Abteilung Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen vom 8. Februar 1954, SAPMO-BArch DY 30/IV 2/5/1372, Bl. 13–18, hier Bl. 18

[4] Zentralkomitee der SED, Abteilung Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen, Bericht über die Ursachen der Wiederholung von Berichtwahlversammlungen in den Kreisen Hildburghausen und Ilmenau, 11. November 1954, SAPMO-BArch DY 30/IV 2/5/92, Bl. 306–311, hier Bl. 307.

[5] Bericht des Politbüros an die 2. Tagung des ZK der SED am 12. April 1963, in: Neues Deutschland vom 13. April 1963.

[6] Heinrich Best/Heinz Mestrup (Hrsg.), Die Ersten und Zweiten Sekretäre der SED. Machtstrukturen und Herrschaftspraxis in den thüringischen Bezirken der DDR, Wien/Weimar/Köln 2003.

[7] Kurzbiographie Tittl, Heinz vom 19. April 1971, in: Personalunterlagen Heinz Tittl, ThStA Rudolstadt, Personalunterlagen verstorbener Parteimitglieder Nr. IV/4.06/ V/226, Bl. 39 f.

[8] Personalakte Tittl, Heinrich, geb. 24. 2. 1926, Teplitz-Schönau, CSR, gest. 8. 3. 1981, Jena, Universitätsarchiv Jena, Bestand D Nr. 4990, o. F.

[9] Karteikarte „Heinrich Tittl“, Mitglieds-Nr.: 97 71 135 (verfilmt), BArch R 1, NSDAP-Mitgliederkartei, Ortsgruppen- bzw. Gaukartei des Amtes Mitgliedschaftswesen des Reichsschatzministers der NSDAP, Film-Nr. 3200/X0023, Bl. 2276.

[10] Lebenslauf Heinrich Tittl, vom 11. Januar 1965, in: Personalunterlagen Heinz Tittl, ThStA Rudolstadt, Personalunterlagen verstorbener Parteimitglieder Nr. IV/4.06/ V/226, Bl. 118 f.

[10] Lebenslauf Heinrich Tittl, vom 11. Januar 1965, in: Personalunterlagen Heinz Tittl,
ThStA Rudolstadt, Personalunterlagen verstorbener Parteimitglieder Nr. IV/4.06/
V/226, Bl. 118 f.

[11] Bescheinigung vom 19. 7. 1948, BStU, MfS, BV Gera, AOP, Nr. 125/54, Bd. IV, Bl. 82.

[12] Lebenslauf Heinrich Tittl, vom 1. August 1962, ebenda, Bl. 124 f., hier Bl. 124.

[13] SED, Kreisvorstand Jena, Einsatz des genossen Heinrich Tittl, geb. 24. 2. 1926, als Org.-Sekretär beim Kreisausschuss der Nationalen Front Jena vom 4. April 1957, ebenda, Bl. 168.

[14] Ministerium für Staatssicherheit, Abschrift, Lebenslauf Heinrich Tittl vom 1. 2. 1952, BStU, MfS, BV Gera, Personalakte Nr. 631/53, Bl. 9; Ministerium für Staatssicherheit, Kreisdienststelle Jena, Auskunftsbericht zu Heinrich Tittl vom 10. Januar 1980, BStU, MfS, BV Gera, IM-Akte „Manfred“, Teil 1, Bd. 1, Bl. 155–163.

[15] Zwischenbericht des Ministeriums für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Erfurt, Abt. XIII vom 19. 11. 1953, BStU, MfS, BV Gera, AOP, Nr. 125/54, Bd. I, Bl. 128– 130, hier Bl. 130.

[16] Abschlußbericht des Ministeriums für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Gera, Ref. Gera – RAW Jena vom 15. 7. 1954, BStU, MfS, BV Gera, AOP, Nr. 125/54, Bd. I, Bl. 140–143, hier Bl. 142.

[17] Heinrich Best/Sandra Meenzen, „Da ist nichts gewesen.“ SED-Funktionäre mit
NSDAP-Vergangenheit in Thüringen, in: Deutschland Archiv (2010) 2, S. 10–19.

[18] Karteikarte „Rolf Stöcklein“, Mitglieds-Nr.: 10 01 050, BArch R 1, NSDAP-Mit-
gliederkartei, Ortsgruppen- bzw. Gaukartei des Amtes Mitgliedschaftswesen des
Reichsschatzministers der NSDAP, Film-Nr. 3200/W0047, Bl. 1804.

[19] Karteikarte „Wolfgang Biermann“, Mitglieds-Nr.: 99 04 063 (verfilmt), BArch R 1, NSDAP-Mitgliederkartei, Ortsgruppen- bzw. Gaukartei des Amtes Mitgliedschaftswesen des Reichsschatzministers der NSDAP, Film-Nr. 3200/B0040, Bl. 2060

[20] Z. B. in den Auskünften zur: Honorarprofessur (Prof.) Dr. Dr. h. c. Wolfgang Biermann, Universitätsarchiv Jena Verwaltungsarchiv, Nr. VA 4955a, o. F

[21] Biografische Einzelfallanalysen in: Sandra Meenzen, Konsequenter Antifaschismus Thüringische SED-Sekretäre mit NSDAP-Vergangenheit, Erfurt 2011; dies., Der Fall Hans Bentzien. Hitlerjunge, NSDAP-Mitglied und 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Jena-Stadt, in: Gerbergasse 18 (2010) 57, S. 9–13; dies., „Gutes Klassenbewusstsein, Parteiverbundenheit und Prinzipienfestigkeit“. SED-Sekretäre mit NSDAP-Vergan-genheit in Thüringen, in: Historical Social Research 25 (2010) 3, S. 47–78.