Mit dem Begehren, „ohne ‚höhere‘ Organisation und Genehmigung ihren Wunsch nach Frieden“ auszudrücken, luden im Oktober 1981 Jugendliche in einem Flugblatt zu einer Gedenkfeier anlässlich des 37. Jahrestages der Bombardierung Dresdens ein. Geplant war, an der Ruine der Dresdner Frauenkirche ein Kreuz aus Blumen niederzulegen, sich in einem Kreis um das Kreuz zu setzen, Kerzen aufzustellen und das Lied „We shall overcome“ zu singen. Ein schier unerhörtes Vorhaben in der DDR! Gemeinschaftliche Aktivitäten im öffentlichen Raum waren grundsätzlich der Kontrolle der SED unterworfen. Der von den Jugendlichen offen zur Schau getragene Wille, sich jener Verfügungsgewalt und staatlichen Einflussnahme zu entziehen und eigene Formen des Gedenkens an die Bombardierung Dresdens zu realisieren, unterlief den totalitären Anspruch der SED, Sinn und Nutzen erinnerter Geschichte im Einklang mit ihren politischen Zielen zu bestimmen.
Trotz des staatlichen Versuchs, die geplante Gedenkfeier zu unterbinden, versammelten sich am 13. Februar 1982 vier- bis fünfhundert Jugendliche an der Ruine der Frauenkirche und gedachten ohne polizeiliches Eingreifen der Toten der Bombardierung. Warum gelang es den Jugendlichen, ihre Ziele durchzusetzen? Welche Motive hatten die beteiligten Akteure? Welche Bedingungen ermöglichten ihnen die Durchsetzung der Gedenkfeier? Und welche Möglichkeiten nutzte der Staat, um die öffentliche Wirkung der Feier einzudämmen und das Verhalten der Jugendlichen zu kontrollieren?
Zur Beantwortung dieser Fragen werden drei Texte herangezogen, in denen sich die jeweiligen Sichtweisen der Beteiligten widerspiegeln. Der dem Jahrestag der Bombardierung gewidmete Zeitungsartikel in der Dresdner Tageszeitung „Sächsische Neueste Nachrichten“ vom 15. Februar 1982 verschweigt die Gedenkfeier der Jugendlichen. Die Berichterstattung beschränkte sich auf die Darstellung einer Kranzniederlegung mehrerer staatlicher Vertreter auf dem Dresdner Heidefriedhof. So beschrieb der Verfasser des Zeitungsartikels den Gedenkakt als ein öffentliches, kollektives Ritual, das der Demonstration von Einigkeit zwischen Bürgern und Regierenden sowie der Rechtfertigung staatspolitischer Zielsetzungen diente. Mit den schlagwortartig gebrauchten Begriffen „Mahnung“ und „Verpflichtung“ hielt er seine Leser dazu an, die Erfahrung des Vergangenen für die Gestaltung der Gegenwart zu nutzen. Die Erinnerung an die Toten stellte er als geschichtliche Schuld dar, die durch innere Einkehr, aber auch aktives gesellschaftliches Engagement beglichen werden müsse. Die erwünschte Richtung dieses Engagements machte der Verfasser des Zeitungsartikels deutlich: Unter Ausblendung der Gründe für die damalige Bombardierung wurden die Engländer und Amerikaner der grundlosen Zerstörung und Aggression bezichtigt und ihre jetzigen Handlungsweisen als Fortsetzung dieses Verhaltens stilisiert. Dieser Vorwurf der kriegstreibenden Politik galt jedoch nicht nur den beiden Nationen; sie standen vielmehr stellvertretend für die NATO. Dem Oberbürgermeister oblag die Aufgabe, diese Kritik in seiner Gedenkrede zum Ausdruck zu bringen, während die Bürger mit ihrer (möglichst zahlreichen) Anwesenheit den Aussagen ihres Stadtoberhaupts Legitimität verleihen sollten.
Das staatlich kontrollierte Gedenken diente demnach letztlich drei Zielen: Zum Ersten bot die Erinnerung an die Bombardierung die Möglichkeit, das Verhalten der NATO zu kritisieren, zum Zweiten erweckte die normative Geschlossenheit von Regierenden und Bürgern den Eindruck von Konfliktlosigkeit im Verhältnis zueinander, zum Dritten demonstrierte der Staat in seiner Agitation Fürsorge für seine Bürger.
Dieser staatlich inszenierten Gedenkpolitik wollten die Jugendlichen eine unabhängige Gedenkfeier entgegensetzen. Im Gegensatz zu den staatlichen Repräsentanten enthielten sie sich jeder konkreten politischen Aussage in den von ihnen verteilten Einladungen.[1] Ihr Friedenswunsch blieb allgemein, der Bezug auf die Bombardierung Dresdens erschien lediglich als Mittel, um an die Wichtigkeit friedlichen Zusammenlebens zu erinnern. Auf eine Gedenkrede, die in der Regel dazu genutzt wird, das zu Erinnernde in einen aktuellen Kontext einzubinden und so mit einer Bedeutung für die Gegenwart zu versehen, verzichteten die Jugendlichen. Stattdessen wollten sie gemeinsam das Lied „We shall overcome“ singen – ein Gospelsong, der als Protestlied von der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ebenso wie von streikenden Arbeitern gesungen wurde. Er thematisiert die Forderung nach einem gesellschaftspolitischen Wandel, ein bestehender Zustand soll „overcome“, d. h. „überwunden“ bzw. „bezwungen“ und in etwas Neues transformiert werden. Ebenso unspezifisch wie der Song im Hinblick auf konkrete Gesellschaftskritik oder Zukunftsvisionen, war auch die Symbolik, die die Feierlichkeiten begleiten sollte. Zwar rufen Kerzen, Kreuz und Blumen christliche Assoziationen hervor. Da eine Gedenkrede fehlte und die alltägliche Einbindung dieser Symbole in die unterschiedlichsten Zusammenhänge eine weite Spannbreite an Interpretationen ermöglichte, bildete ihre Aneinanderreihung jedoch kein schlüssiges Ganzes. Vielmehr überließen die jugendlichen Organisatoren es jedem Einzelnen, die Erinnerung an die Bombardierung mit einer wie auch immer interpretierten Gegenwart zu verknüpfen, und sorgten mit Blumen, angezündeten Kerzen und dem sich Niedersetzen im Kreis vor allem für eine starke raumgreifende Präsenz ihrer Gedenkfeier in der Öffentlichkeit. Letztlich blieb, da eine deutliche gesellschaftspolitische Zielsetzung fehlte, allein diese symbolträchtige, aber inhaltlich unbestimmte Inszenierung im öffentlichen Raum als zentrale Botschaft der Gedenkfeier.
Daneben war es vor allem der Wunsch nach institutioneller Unabhängigkeit, der das Selbstverständnis der Jugendlichen bestimmte und sie motivierte. Ein Miteinander auf gleicher Höhe mit Organisationen, die in der DDR das politische Leben beherrschten, erschien ihnen absurd. Mehrfach betonten sie daher in den verteilten Einladungen zur Gedenkfeier ihre institutionelle Ungebundenheit. Die Konzeption ihrer Gedenkfeier sah die gleichberechtigte Einbeziehung aller Teilnehmer vor: Sie wählten den Kreis, der jedem Teilnehmer die gleiche Form der Mitwirkung ermöglichte. Außerdem zeugte ihre Entscheidung, anstelle einer von einem Einzelnen gehaltenen Gedenkrede gemeinsam ein Lied zu singen, von ihrem Bemühen, das Entstehen von Hierarchien zu vermeiden. Ihr Streben nach Unabhängigkeit besitzt daher zwei Dimensionen: Zum einen möchten sie eine Erinnerung an die Toten, die nicht genutzt wird, um politische Ziele zu begründen. Zum anderen möchten sie sich nicht unterordnen – vielmehr ihre eigenen Vorstellungen einer Gedenkfeier realisieren. Beides erschien ihnen in der Zusammenarbeit mit den Massenorganisationen der DDR unmöglich.
Den Jugendlichen war bewusst, dass sie mit ihrem Vorhaben Auseinandersetzungen mit der Polizei riskierten. Eine öffentliche Veranstaltung bedurfte in der DDR einer behördlichen Genehmigung, die sie nicht besaßen; zudem war es verboten, Flugblätter zu verteilen. Daher verteidigten sie ihre Pläne bereits in den Einladungen und nahmen etwaige Kritik vorweg, für die es nach ihrer Ansicht keinen Anlass gab, da sie weder etwas „Schlechtes“ noch etwas „Verbotenes“ vorhatten. Obwohl ihre Pläne ungesetzlich waren, glaubten sie dennoch, allgemeingültigen moralischen Maßstäben zu folgen. Die staatlichen Gesetze, die derartige Aktivitäten wie ihre Gedenkfeier verboten, stimmten in den Augen der Jugendlichen nicht mit dem gesellschaftlichen Rechtsempfinden überein. Doch waren es nicht die Diskrepanzen zwischen rechtlicher Ordnung und ihren eigenen Moralvorstellungen, sondern vor allem der öffentliche Charakter ihres Vorhabens, den sie als Grund für möglichen Ärger mit der Polizei vermuteten. Um ihrem Vorhaben die Schärfe zu nehmen, spielten sie daher in ihren Einladungen die beabsichtigte öffentliche Wirkung der Veranstaltung herunter und gaben an, lediglich eine „kleine Gedenkfeier“ veranstalten zu wollen.
Die staatliche Reaktion auf die Pläne der Jugendlichen war differenziert. Zwar ließen polizeiliche Einsatzkräfte die Teilnehmer der Gedenkfeier letztlich unbehelligt. Vorausgegangen waren jedoch eine Reihe von Maßnahmen, mit denen die Staatsorgane die Kontrolle über die alternative Gedenkfeier zu erlangen versuchten. Ihr Vorgehen zielte dabei aber nicht auf die strafrechtliche Verurteilung der Akteure ab, sondern basierte im Wesentlichen auf ähnlichen Motiven wie die Berichterstattung in der Zeitung über die offizielle Kranzniederlegung am Heidefriedhof: Wichtig war vor allem, die Vorstellung aufrechtzuerhalten, die gesellschaftliche Ordnung der DDR sei durch die Zustimmung ihrer Bürger legitimiert. Eine Strafverfolgung der Organisatoren hätte das Eingeständnis vorausgesetzt, dass die Bombardierung Dresdens nicht von allen Bürgern der DDR als Symbol eines sinnlosen und stetig wiederkehrenden kriegerischen Aktionismus der NATO-Staaten gesehen wurde, oder dass zumindest die beschuldigten Jugendlichen an dieser Sichtweise zweifelten. Die im Zeitungsartikel propagierte Einheitlichkeit von staatlichem Handeln und bürgerlichem Denken hätte Brüche gezeigt, die aus staatlicher Sicht nicht gewollt waren. Daher wurden im Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sowohl der kriminelle Vorsatz der Jugendlichen als auch ihr Vorhaben in seiner inhaltlichen Bedeutung systematisch heruntergespielt. Eine (verbale) Kriminalisierung der Jugendlichen fand einzig und allein statt, um das Tätigwerden des MfS über das Vorliegen einer (realen oder vorgegebenen) Straftat begründen zu können.
Die DDR-Staatssicherheit war erstmals auf die Pläne der Jugendlichen durch eine Frau aufmerksam geworden, die in der Innenstadt Dresdens Einladungen zu der Gedenkfeier verteilt hatte. Vor dem Hintergrund dieses unerlaubten Verhaltens beschuldigte das MfS sie, gesellschaftlich akzeptierte Wertvorstellungen mit moralischem Druck zu eigenen, illegalen Zwecken zu missbrauchen und andere zu gleichem Tun anzustiften. Die inhaltliche Bedeutung des Vorhabens – ihre Absicht, der Toten der Bombardierung zu gedenken – war für die Beurteilung durch das MfS irrelevant. Wie von den Jugendlichen in den Einladungen vermutet, deutete die Staatssicherheit das Vorhaben der Jugendlichen tatsächlich in erster Linie als Versuch, die staatliche Verfügungsgewalt über das öffentliche Handeln infrage zu stellen. Allerdings verurteilte das MfS nur das Tun der Jugendlichen und schob die eigentliche Verantwortung anderen Kräften zu. Nach Meinung der Staatssicherheit waren die Jugendlichen zu ihrem kriminellen Vorhaben verleitet worden und daher eigentlich schuldlos. Um nicht zugeben zu müssen, dass die Jugendlichen Kritik an staatlichen Wertvorstellungen übten, schenkte die Staatssicherheit sogar der Ausrede Glauben, es sei lediglich eine kleine, private, wenn auch im öffentlichen Raum stattfindende Feier unter Freunden geplant. Nichtsdestotrotz war die Duldung des Vorhabens der Jugendlichen undenkbar.
Stattdessen schob das MfS die Verantwortung für das Verhalten der Jugendlichen der Kirche zu und verlagerte die Auseinandersetzung damit auf eine bereits bekannte Konfliktebene. Bei seinen Ermittlungen gelangte das MfS zu der Erkenntnis, dass zwei Männer die Idee zu der Gedenkfeier entwickelt und die zuerst identifizierte Täterin angestiftet hatten. Diese beiden waren kirchlich gebunden – für die Staatssicherheit der Beweis, dass ihre Pläne nicht ihrem eigenen Denken entsprungen waren. Die Zuordnung zur Kirche erleichterte es den Behörden, die wirklichen Motive der Jugendlichen zu der Gedenkfeier zu ignorieren und diese als Teil der bereits bestehenden und hinlänglich bekannten Differenzen mit der Kirche zu bewerten.
Nachdem weitere Jugendliche durch ihren Zugang zu professionellen Vervielfältigungsmöglichkeiten die Zahl der verteilten Einladungen in die Höhe getrieben hatten, nahmen die staatlichen Behörden sogar in Kauf, dass die Kirche in Bereiche politischen Handelns vordrang, die ihr aus staatlicher Sicht eigentlich verschlossen bleiben sollten. In der sich zuspitzenden Situation bot die Kirche nämlich ein willkommenes Auffangbecken: In Reaktion auf die staatlichen Vorwürfe plante die Kirchenleitung, mit einer konkurrierenden Veranstaltung am 13. Februar 1982 in der Dresdner Kreuzkirche, einem „Forum Frieden“, die Jugendlichen „von der Straße wegzubekommen“. Dabei distanzierte sie sich von den Plänen der Jugendlichen sowohl auf formaler Ebene (durch die Wahl eines anderen Ortes) als auch auf inhaltlicher Ebene (keine Gedenkveranstaltung). Allein an die Absicht der Jugendlichen, ihren Wunsch nach Frieden, knüpfte die Veranstaltung an, indem sie die Aufgaben kirchlicher Friedensarbeit thematisieren wollte. Mit dem Versuch, die Versammlung der Jugendlichen in den teilöffentlichen Raum der Kirche zu verlagern, unterstützte die Kirchenleitung die staatlichen Behörden dabei, das unkontrollierte öffentliche Agieren der Jugendlichen zu verhindern. Bei dem Forum beschränkte sich die Öffentlichkeit auf diejenigen, die den Besuch der kirchlichen Veranstaltung gezielt planten; eine zufällige Wahrnehmung war, anders als bei der weithin sichtbaren Gedenkfeier der Jugendlichen, ausgeschlossen. Überdies erklärte sich die Kirche bereit, den Ablauf ihrer Veranstaltung zuvor mit staatlichen Behörden abzusprechen und festzulegen.
Mit ihrem Bestreben, das Handeln der Jugendlichen kirchlichen Prämissen zu unterwerfen, kam die Kirchenleitung einer Verantwortung nach, die ihr von staatlicher Seite zugeschrieben wurde: Da sich die geistige Weltanschauung von Christen vor allem über deren Zugehörigkeit zur Kirche bestimmte, war es auch ihre Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass das Werteempfinden ihrer Mitglieder nicht in Widerspruch zu gesetzlichen und moralischen Leitlinien des Staates geriet. Hierin hatte die Kirche offensichtlich zuvor versagt, wie sich an dem Willen der Jugendlichen zeigte, eine unerlaubte Gedenkfeier zu initiieren.
Der Versuch, die gesellschaftspolitische Bedeutung des jugendlichen Anliegens durch die Einbettung in christliche Rituale aufzufangen, gelang der Kirche nur teilweise. Ein Teil der Jugendlichen verließ vorzeitig das „Forum“ und besuchte die Gedenkfeier an der Ruine der Frauenkirche. Doch das unkoordinierte Miteinander der Jugendlichen während ihres Treffens und ihr fehlendes formales Zusammenwirken überzeugten die Staatssicherheitskräfte schnell davon, dass sie sich der staatlichen Kontrolle nicht entziehen, die von ihnen erwarteten Verhaltensmaxime akzeptieren und keinen dauerhaften öffentlichen Einfluss ausüben würden.
Die Veranstaltung in der Kreuzkirche besuchten mehrere tausend Menschen aus der gesamten DDR, an der Ruine der Frauenkirche wurden mehrere hundert jugendliche Besucher gezählt. In den Folgejahren gewannen die Erinnerungsfeierlichkeiten an die Bombardierung Dresdens einen Umfang, den sie zuvor nicht besaßen. Zwar führte die Kirche eine derartig große Veranstaltung wie das Forum nicht noch einmal durch, doch fanden stattdessen zahlreiche kleinere Veranstaltungen in den verschiedenen Kirchen Dresdens statt. Die Stadt Dresden reagierte ebenfalls: Während sich in den Jahren zuvor die von ihr organisierten Gedenkfeierlichkeiten auf eine Kranzniederlegung vor dem Denkmal des Heidefriedhofs beschränkt hatten, wurden diese nun durch eine alljährliche Großkundgebung an der Ruine der Frauenkirche ergänzt. Regelmäßig wurden dabei auch Kirchenvertreter gebeten, sich mit einem Redebeitrag an der Veranstaltung zu beteiligen, doch verweigerten diese konsequent ihre Mitwirkung. Da sich kirchliche und staatliche Veranstaltungen zeitlich überschnitten, liegt der Gedanke nahe, dass die beabsichtigte Einbeziehung der Kirche in die städtische Großveranstaltung einen Versuch darstellte, den kirchlichen Einfluss auf das Gedenken an die Bombardierung zurückzudrängen.
Auch junge Menschen versammelten sich in den Folgejahren immer wieder an der Ruine. Im Jahr 1984, zwei Jahre nach der ersten unabhängigen Gedenkfeier an der Ruine der Frauenkirche, schrieben Mitarbeiter der Staatssicherheit in einem Bericht zu den Veranstaltungen des 13. Februar:
„Nach einem Friedensgebet mit ca. 3000 Menschen in der Kreuzkirche sind Montag Abend etwa 1000 vorwiegend junge Menschen schweigend und mit brennenden Kerzen zur Ruine der Frauenkirche gegangen. Dort wurden Kerzen aufgestellt und Lieder für den Frieden gesungen. Sicherheitskräfte beobachteten die nicht organisierte Kundgebung, aber es gab keinerlei Behinderungen.“[2]
Grundsätzlich ging es in dem Konflikt um die Gedenkfeier darum, wer den Zugriff auf die Öffentlichkeit hatte – und damit um ein zentrales Problem der DDR-Herrschaftsgeschichte. Mit ihrem Beharren auf dem Recht zur individuellen Erinnerung hinterfragten die Jugendlichen den von der SED öffentlich inszenierten Wertekonsens zwischen Staat und Bürgern. Eine gewaltsame Niederschlagung der Gedenkfeier hätte das Risiko in sich geborgen, dass die Jugendlichen ihren bis dahin undifferenziert vorgetragenen Wunsch nach Frieden an konkrete politische Gegebenheiten knüpfen und mit der SED um die Deutungsherrschaft konkurrieren würden könnten. Das Fehlen einer eindeutig greifbaren Sinnzuschreibung ermöglichte der SED aber die oberflächliche Subsumierung des jugendlichen Anliegens unter ihre eigenen Interessen – zumal die Jugendlichen der Staatssicherheit zahlreiche Anknüpfungspunkte boten, die öffentliche Relevanz ihres Tuns zu bagatellisieren. Zwar verliehen die Jugendlichen der individuellen Erinnerung an die Toten der Bombardierung eine öffentliche Präsenz. Mit ihrer Ablehnung, dem Erinnerten eine kollektiv geteilte Bedeutung im Jetzt zu verleihen, verblieben sie jedoch auf privater Ebene und erhoben nicht die Forderung nach gesellschaftspolitischer Einflussnahme. Dies erlaubte es der SED, die Jugendlichen gewähren zu lassen. Letztlich gelang es den Jugendlichen vor allem, die Ruine der Frauenkirche als Symbol der Erinnerung an die Bombardierung neu zu beleben. Auch wenn sich dies Kirche und SED in den Folgejahren mit eigenen Veranstaltungen gleichermaßen zunutze machten - das individuelle Erinnern an die Bombardierung jenseits politischer Instrumentalisierung war in Dresden Teil der gelebten gesellschaftlichen Realität geworden.
[1] Vgl. BStU, MfS, BV Dresden, AOP 2111/84, Bd. I, Bl. 284.
[2] BStU, MfS, BV Dresden, Stellv. OP Nr. 71, Bl. 35.