Kreuzfahrtschiff im Hafen
© Bundesstiftung Aufarbeitung, Uwe Gerig, Bild 3461

Kein Wölkchen trübt den Himmel über Wismar an diesem 25. Juni 1960. Blasmusik mischt sich mit Möwengeschrei, Bratwurstduft mit Dieselschwaden. Tausende Schaulustige haben sich auf der Mathias-Thesen-Werft versammelt, denn heute ist ein besonderer Tag: Der erste Neubau eines deutschen Kreuzfahrtschiffes nach dem Zweiten Weltkrieg soll getauft werden. Eine ältere Dame liest mit brüchiger Stimme den Taufspruch vor: „Ich gebe diesem stolzen, schönen Urlauberschiff den Namen ‚Fritz Heckert‘.“ Dann gleitet der mächtige Schiffskörper auf der sorgfältig mit Schmierseife eingeriebenen Ablaufbahn ins Hafenbecken. Das Orchester intoniert die DDR-Nationalhymne. Dieses Schiff ist kein gewöhnlicher Musikdampfer. Es ist eine in Stahl gepresste politische Vision.

Zwei Jahre zuvor, im Juli 1958, hat Walter Ulbricht seine Genossen zum V. SED-Parteitag zusammengerufen. Die Entwicklung der Wirtschaft gibt Anlass zu verhaltenem Optimismus. Der Start des sowjetischen Sputnik-Satelliten im Oktober 1957 hat eine regelrechte Fortschrittseuphorie im Politbüro ausgelöst. Aber immer noch verlassen täglich Hunderte gut ausgebildeter Arbeiter, Mediziner und Ingenieure die DDR in Richtung Westen. Die SED-Führung muss die Menschen von der Zukunftsfähigkeit des Sozialismus überzeugen. Deshalb hat sie kurz zuvor die Lebensmittelkarten abgeschafft. Deshalb kündigt Ulbricht auf dem Parteitagspodium an, die DDR werde die Bundesrepublik bis 1961 beim Pro-Kopf-Verbrauch der wichtigsten Lebensmittel einholen und schließlich überholen. Und deshalb darf der Parteisekretär der Mathias-Thesen-Werft den Delegierten „vorschlagen“, was längst beschlossene Sache ist: „bis 1961 zusätzlich zum Produktionsplan durch die Masseninitiative der Werktätigen unserer ganzen Republik ein Hochseepassagierschiff, ein Urlauberschiff für den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund auf unserer Werft in Wismar zu bauen“. SED-Chef Ulbricht selbst liefert die Begründung für das ehrgeizige Vorhaben: „Es ist sehr schön, dass wir die politische Macht haben, aber wir müssen auch beweisen, dass unser Wohlstand wächst.“

Vollständiger Aufsatz

Interview mit dem Autor

Andreas Stirn

Weiterlesen