Bereits 2013 war eine Delegation in das Land zwischen Donau und Schwarzem Meer gereist. Elf Jahre später konnten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Gespräch mit Personen und Institutionen über die Herausforderungen beim Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit in Bulgarien und dessen Erbe bis heute informieren. Besonders beeindruckend war der Besuch im ehemaligen Lager Belene auf einer in der Donau an der Grenze zu Rumänien liegenden Insel. Dort mussten insbesondere in den Anfangsjahren der kommunistischen Diktatur unter Todor Schiwkow mehr als 15.000 politische Häftlinge leiden, viele von ihnen überlebten die Lagerzeit nicht.
Bernhard Schulz: Bulgariens kommunistische Vergangenheit: Die sanfte Macht des Schweigens (Tagesspiegel 29.10.2024)
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in dem Bulgarien auf Seiten des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten gekämpft hatte, herrschten wechselnde autoritäre Regime und Regierungen. 1934 putschte sich eine Militärliga an die Regierung, die 1936 die Macht an Zar Boris III. abtreten musste. Dieser setzte die 1923 außer Kraft gesetzte Verfassung wieder ein. Die Jahre der »Königsdiktatur« brachten für die bulgarische Bevölkerung stabile politische Verhältnisse. Im Zweiten Weltkrieg blieb Bulgarien bis zum Februar 1941 neutral und trat dann an der Seite der Achsenmächte in den Krieg ein. Deutsche Truppen rückten umgehend auf bulgarisches Territorium vor. Bulgarische Truppen wiederum beteiligten sich an Kampfhandlungen gegen Griechenland und Jugoslawien und besetzten Thrakien und Mazedonien. Während Bulgarien bereits 1940 ein erstes antijüdisches Gesetz verabschiedet hatte, das Juden enteignete und aus den Städten in Lager verbannte, wurde die jüdische Bevölkerung aus den besetzten Gebieten in Thrakien und Mazedonien ausgeliefert und in die deutschen Vernichtungslager deportiert.
Am 27. August 1944 trat Bulgarien aus dem Dreimächtepakt aus, woraufhin die Sowjetunion dem Land am 5. September den Krieg erklärte. In der Nacht vom 8. auf den 9. September – einen Tag, nachdem die Rote Armee die bulgarische Grenze überschritten und mit der Besetzung des Landes begonnen hatte – wurde die Regierung unter Ministerpräsident Konstantin Murawiew in einem Staatsstreich gestürzt. Der vom Kreml initiierte Putsch beförderte das Nationalkomitee der kommunistisch dominierten Vaterländischen Front an die Macht. In der Folge setzte die Kommu- nistische Partei Bulgariens (BKP) ihren Führungsanspruch mit Moskauer Unterstützung durch. Dies war von einer rigorosen »Säuberung« des Staatsapparats begleitet, die als »rückhaltlose Liquidierung sämtlicher faschistischer Widerstandsnester« verbrämt wurde. Gewalt, Terror und Repression prägten innerhalb kürzester Zeit das gesellschaftliche, ökonomische und politische Leben des Landes. Der staatliche Verwaltungsapparat wurde komplett ausgetauscht. Das Prinzip eines überparteilichen Rechtssystems wurde beseitigt, die Ämter von Richtern und Staatsanwälten mit Personen besetzt, die der kommunistischen Partei genehm waren. Die neu gegründete Volksmiliz rekrutierte ihr Personal aus den Reihen der BKP und Mitgliedern sogenannter »Kampfgruppen«.
Als »Faschisten« oder »Volksfeinde« Gebrandmarkte wurden hingerichtet oder verschwanden spurlos. Allein von September bis Oktober 1944 betrug die Zahl der ohne Prozess oder Gerichtsurteil Hingerichteten und spurlos Verschwundenen etwa 25 000. Alle von der BKP zu Gegnern Erklärten – Lehrer, Priester, wohlhabende Bauern, Industrielle, Händler, Rechtsanwälte, Ärzte – wurden systematisch beseitigt. Unter dem Vorwand, die Schuldigen für das Hineinziehen Bulgariens in den Zweiten Weltkrieg an der Seite der Achsenmächte bestrafen zu wollen, begann eine Generalabrechnung mit Politikern, Armeeangehörigen, Intellektuellen, Wissenschaftlern, Journalisten, Schriftstellern und anderen Personen des öffentlichen Lebens. Alle, die in der Lage gewesen wären, Widerstand gegen den Sowjetisierungskurs der Kommunistischen Partei zu leis- ten, sollten diskreditiert, isoliert oder vernichtet werden. Zwischen Dezember 1944 und April 1945 verurteilte ein eigens eingerichtetes »Volksgericht« über 11 000 Angeklagte, von denen 2 700 Personen hingerichtet wurden. Mehr als 1 200 Personen erhielten lebenslängliche Haftstrafen, über mindestens 4 300 Personen wurden Zuchthausstrafen von bis zu 20 Jahren verhängt. »Vergeltung« übten die staatlichen Repressionsorgane nach dem Prinzip der Sippenhaft auch an den Angehörigen, Ehepartnern und Kindern der Verurteilten. So wurden zwischen September 1944 und Mai 1945 nach Angaben des bulgarischen Staatssicherheitsdienstes mehr als 28 000 Men- schen per Anordnung zwangsausgesiedelt. Weitere 184 300 Menschen wurden im gleichen Zeit- raum in Zwangsarbeitslager verschleppt.
Bis 1962 verschwanden mehr als 23 500 Menschen, darunter über 2 300 Frauen, in diesen Lagern, wo sie durch Schwerstarbeit »umerzogen« werden sollten. Zu den Häftlingen gehörten nicht nur »politisch gefährliche Personen«, »feindliche Elemente« und »Konterrevolutionäre«, sondern auch als »Hooligans« und »asoziale Elemente« bezeichnete Jugendliche, deren »Vergehen« darin bestand, sich der westlichen Mode entsprechend zu kleiden, »Westmusik« zu hören oder »modische« Haarschnitte zu tragen. Insgesamt existierten auf dem Gebiet der Volksrepublik Bulgarien 83 Lagerstandorte. Daneben wurden bis 1989 22 Gefängnisse zur Internierung politischer Häftlinge genutzt. Unter menschenunwürdigen Bedingungen, physischer und psychischer Folter, ohne medizinische Versorgung wurden die Lagerinsassen zur Zwangsarbeit in Steinbrüchen und Bergwerken sowie beim Bau von Eisenbahnlinien und Straßen eingesetzt. Bis heute sind viele Massengräber mit Opfern politischer Repressionen unbekannt.
Der Kampf des Regimes richtete sich jedoch nicht nur gegen sogenannte »feindliche Ele- mente«, sondern auch gegen die Bauern. Für eine Gesellschaft, in der 80 Prozent der rund sieben Millionen Einwohner von der privaten Landwirtschaft, dem Handwerk und Kleingewerbe lebten, bedeutete die Zwangskollektivierung unweigerlich langfristige demografische, ökonomische und soziale Schäden. Als »Kulaken« diffamierte Bauern wurden enteignet, ihr Land und Vieh in Kolchosen und Sowchosen überführt. Wer sich der Enteignung oder den Zwangsabgaben widersetzte, hatte Geldstrafen, körperliche Züchtigung, Arrest, Folter, Zwangsumsiedlung oder die Einweisung in ein Arbeitslager zu befürchten. Von der Verstaatlichung betroffen war jedoch nicht nur die Landwirtschaft. In einer breit angelegten Kampagne zur Durchsetzung der »Diktatur des Proletariats« begann die BKP ab dem Frühjahr 1946 auch mit der rigorosen Abschaffung des Privateigentums in der Industrie, im Bankwesen und Handel. Enteignet oder gänzlich zerstört wurden ebenso die Kirchen. Unmittelbar nach dem kommunistischen Staatsstreich im September 1944 waren bereits Hunderte Priester, Mönche und Bischöfe hingerichtet worden. Geistliche wurden in Schauprozessen zu jahrelangen Haftstrafen in Arbeitslagern und Zuchthäusern verurteilt. Das am 16. Februar 1949 veröffentlichte »Gesetz zur Religionsausübung« legalisierte die Konfiszierung kirchlicher Besitztümer und schränkte das religiöse Leben massiv ein. Bis zum Zusammenbruch des kommunistischen Regimes im November 1989 unterstanden die bulgarisch-orthodoxen, katholischen und protestantischen Kirchengemeinden des Landes außerdem als gesonderte Spezialobjekte der Überwachung durch die Abteilung »Geistlichkeit und Sekten« der Hauptabteilung I der Staatssicherheit. Symbolhaft stehen für die Gewalt und Entmenschlichung der Straf- und Zwangsarbeitslager in der Volksrepublik Bulgarien vor allem die Standorte am Steinbruch in Lowetsch sowie auf der abgelegenen Donauinsel Persin gegenüber dem Dorf Belene. Gegen die Etablierung der kommunistischen Herrschaft bildeten sich im Sommer 1945 bewaffnete Widerstandsgruppen – die Goryani (deutsch: Männer des Waldes). Die Untergrundkämpfer kamen aus allen Schichten der Bevölkerung. Fast die Hälfte waren Bauern, die sich den Zwangsenteignungen und der Kollektivierung widersetzen wollten. Unterstützung erhielt der bewaffnete Widerstandskampf von Netzwerken in den urbanen Zentren des Landes und Verbänden der politischen Emigration wie der Bulgarischen Befreiungsbewegung, welche unter ande- rem die Einschleusung von Partisanen auf das Territorium der Volksrepublik organisierte. Bis Anfang der 1960er Jahre wurden fast alle Goryani-Gruppierungen von der Geheimpolizei, der Miliz und den Streitkräften des Inneren unterwandert und aufgerieben. Nach Stalins Tod im März 1953 setzte in Bulgarien eine politische Lockerung und Entstalinisierung ein, die jedoch unmittelbar nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution durch sowjetische Interventionstruppen im November 1956 wieder zurückgenommen wurde. Da der Aufstand gegen die kommunistische Herrschaft und die sowjetische Besatzung in Ungarn auch in Bulgarien großen Widerhall gefunden hatte, fürchteten die Machthaber ein Erstarken der antikommunistischen Opposition. Die Omnipräsenz des staatlichen Repressionsapparats und insbesondere der bulgarischen Geheimpolizei sollte jede Form von Widerstand gegen das Regime unmöglich machen. Trotz der flächendeckenden Überwachung der gesamten Bevölkerung versuchten bulgarische Offiziere und Parteikader 1965, den Vorsitzenden der BKP, Todor Schiwkow, zu stürzen. Der Putschversuch wurde niedergeschlagen und die Repression weiter verschärft. Auch nachdem Bulgarien 1976 der KSZE beigetreten war, verbesserte sich die Menschenrechtslage nicht. Nur eine kleine Gruppe von Dissidenten wagte es, sich dem Regime zu widersetzen und bezahlte ihren Mut mit Verfolgung und Haft. Unter ihnen waren der Menschenrechtler Ljubomir Sobadschijew und Nikola Popow, ein Mitstreiter der Bulgarischen Charta 77. Wolodja Nakow schrieb in den frühen 1980er Jahren eine Reihe von Protestbriefen an Amnesty International, an die UNO und bulgarische Behörden. Sie alle kamen dafür jahrelang in Haft. Auch Grigor Boschilow, Ilija Minew und Eduard Genow wählten diese Form des Protestes und richteten einen Appell an das Wiener KSZE-Treffen 1986. Zu den Opfern der kommunistischen Diktatur in Bulgarien gehören auch Studenten und Schüler, denen wegen ihrer Herkunft oder ihrer oppositionellen Haltung eine weiterführende Bildung verwehrt wurde, Flüchtlinge, die versuchten, in die Türkei oder nach Jugoslawien zu entkommen, Menschen, die in den 1980er Jahren aus politischen Gründen Berufsverbote erhiel- ten, und ethnische Türken, die zwangsbulgarisiert werden sollten. Insgesamt wird von mehreren Hunderttausend Opfern des bulgarischen Kommunismus ausgegangen.
Am 10. November 1989 wurde Staatschef Todor Schiwkow gestürzt. Als längstes im gesamten Ostblock amtierendes Staatsoberhaupt hatte er die BKP seit 1954 angeführt. Der Philosoph und ehemalige Oppositionelle Schelju Schelew wurde 1990 Staatsoberhaupt. Auch wurden in der Fol- gezeit demokratische Reformen durchgeführt. Jedoch gelang es nicht, einen Elitenwechsel durchzuführen. Vielmehr etablierte sich eine Form von »Laissez-faire-Kapitalismus«, in dem sich die frühere kommunistische Elite die ökonomische Macht sicherte und die politische Macht innehatte. Korruption, mafiöse Strukturen und Misswirtschaft führten zu einer Hyperinflation und einem Bankencrash, der Mitte der 1990er Jahre für die große Mehrheit der bulgarischen Bevölkerung Elend und Verarmung bedeutete. Die hohe Arbeitslosigkeit, fehlende Zukunftsperspektiven, Korruption, mafiöse Strukturen in Politik und Wirtschaft ließen nostalgische Tendenzen nach der als stabil empfundenen kommunistischen Zeit erstarken. In den Folgejahren wechselten sich die Regierungen in Bulgarien in schneller Folge ab. Mit dem 2007 erfolgten EU-Beitritt Bulgariens waren viele Hoffnungen nach einer Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Situation sowie der Bekämpfung von Korruption und des Wild-West-Kapitalismus verbunden. Die Enttäuschungen über ausbleibende demokratische Entwicklung entluden sich 2013 in Massenprotesten gegen die Regierung.
Die Aufarbeitung des Kommunismus in Bulgarien verlief unter diesen Umständen unbe- friedigend. Die vormalige Kommunistische Partei Bulgariens hatte sich bereits 1990 in Bulgarische Sozialistische Partei umbenannt. Gleichzeitig entstanden verschiedene neue kommunistische Parteien und Vereinigungen. Versuche, den Kommunismus und seine Verbrechen zu verurteilen, scheiterten wiederholt.
Bereits 1989 wurden politische Gefangene in einer Amnestie freigelassen und die ihnen zur Last gelegten Taten annulliert. 1991 wurde ein Erlass zur zivilen und politischen Rehabilitierung verabschiedet und in den Folgejahren immer wieder novelliert. Diesem Erlass zufolge können Per- sonen, die wegen ihrer Herkunft oder ihrer politischen oder religiösen Überzeugungen verfolgt wurden, rehabilitiert werden und ihr beschlagnahmtes Eigentum zurückerhalten bzw. entschädigt werden. Zwar wurden etliche Verantwortliche und Täter vor Gericht gestellt, eine Verurteilung kam jedoch in keinem Fall zustande. 1997 wurde ein erstes Lustrationsgesetz verabschiedet, doch erst im Dezember 2006 kam es zu einem Beschluss, der die Öffnung der Unterlagen der bulgarischen Staatssicherheit und die Einrichtung einer entsprechenden unabhängigen Behörde verfügte. Bis heute gibt es keine politische und gesellschaftliche Anerkennung und Würdigung der Opfer durch offizielle Gedenkfeiern oder staatlich geförderte Institutionen, welche diese Aufgabe offiziell und öffentlich wahrnehmen. Zwar wurde der 1. Februar als offizieller Gedenktag für die Opfer politischer Verfolgung eingerichtet, jedoch finden an diesem Tag vor allem die Gedenk- veranstaltungen der verschiedenen Opfervereinigungen statt, deren öffentlicher Einfluss gering ist. Viele einstige Opfer leiden bis heute unter den Auswirkungen der Verfolgung und deren mangelnder Entschädigung und Anerkennung.