Vom 20. bis 27. August 2014 waren wir mit 23 Leitern von Museen und Gedenkstätten, mit Mitarbeitern von Aufarbeitungsinitiativen, Opferberatungsstellen und Stiftungen sowie mit Hochschullehrern, Wissenschaftlern und Mitarbeitern von Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Estland und Lettland unterwegs.
Wie in den Vorjahren war auch diese Studienfahrt dem Zweck gewidmet, die „Aufarbeitungslandschaft“ in diesen Staaten kennen zu lernen und Kontakte in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft für künftige Kooperationen zu knüpfen. Der
Mit der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts am 23. August 1939, dessen geheimes Zusatzprotokoll die Staaten Osteuropas in Einflusssphären zwischen Hitler und Stalin aufteilte, wurde Lettland dem sowjetischen Machtbereich zugeschlagen. Die lettische Regierung sah sich daraufhin im Oktober 1939 gezwungen, der Stationierung von Einheiten der Roten Armee im Land zuzustimmen. Im Juni 1940 stellte der Kreml ein Ultimatum. Darin forderte Moskau die Etablierung eines prosowjetischen Regimes in Lettland und die Erhöhung der sowjetischen Militärpräsenz. Nur kurze Zeit später besetzte die Rote Armee das Land. Eine unter Moskaus Einfluss stehende sogenannte »Volksregierung« übernahm die Staatsgewalt. Einen Monat später – im Juli 1940 – verkündete der »Volkssejm« die Etablierung einer sowjetischen Regierung und beantragte die Aufnahme Lettlands in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, der der Oberste Sowjet der UdSSR am 5. August 1940 zustimmte.
Mit der Sowjetmacht im Land wurden die sowjetischen Repressivorgane, so zum Beispiel das NKWD, eingeführt. Die Sowjetisierung ging mit brutaler Willkür, Verhaftung und Ermordung von Politikern, Geistlichen, Intellektuellen und Künstlern einher, Industrie und Banken wurden verstaatlicht. Im Zuge der beginnenden Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wurden Grundbesitzer enteignet und Kolchosen errichtet. Der Staat kontrollierte die Religionspolitik, konfiszierte Kirchengüter und schloss Gebetshäuser. Mitglieder des Klerus wurden interniert und ermordet. In mehreren Orten wurden Untersuchungsgefängnisse mit Verhör-, Inhaftierungs- und Hinrichtungsräumen eingerichtet und Massenverhaftungen, Deportationen und Hinrichtungen vorbereitet. Im »Jahr des Terrors« (»Baigais gads«) 1940 /41 wurden etwa 23 000 Letten aus politischen Gründen verhaftet, deportiert oder hingerichtet.
Auf die erste sowjetische Besatzung folgte die nationalsozialistische deutsche Besatzung von Juli 1941 bis September 1944. Unter dem Eindruck der sowjetischen Repressalien wurden die Deutschen von großen Teilen der lettischen Bevölkerung zunächst als Befreier begrüßt, von denen man sich die Rückkehr zur Unabhängigkeit erhoffte. Rasch zeigte sich jedoch, dass lediglich eine neue Besatzungsmacht die vorherige abgelöst hatte. Lettland wurde ins »Reichskommissariat Ostland« eingegliedert. An den Vernichtungsaktionen der nationalsozialistischen Besatzer waren auch lettische Kollaborateure und später Zwangsrekrutierte beteiligt. Fast alle der etwa 70 000 Ende Juni 1941 in Lettland lebenden Juden wurden ermordet, nur 3 000 überlebten den Holocaust. Von den 20 000 aus Österreich, der Tschechoslowakei und Deutschland nach Lettland deportierten Juden überlebten etwa 1 000 die Massaker. Zu den Opfern des nationalsozialistischen Terrorregimes zählen auch die rund 20 000 lettischen Kommunisten und Widerstandskämpfer sowie mehrere Zehntausend inhaftierte und nach Deutschland deportierte lettische Staatsbürger.
Zahlreiche Letten schlossen sich Widerstandsbewegungen gegen die deutschen Besatzer an und beteiligten sich an Untergrundgruppen. Nach der Rückeroberung Lettlands durch die Rote Armee begann die zweite Phase der stalinistischen Repression, die bis zum Tod des Diktators 1953 dauerte. Unter dem Vorwand, Kollaborateure des NS-Besatzungsregimes zu verfolgen, wurden erneut Massenverhaftungen und hinrichtungen vorgenommen. Diesen fielen tatsächliche und vermeintliche Kollaborateure ebenso zum Opfer wie Mitglieder der nationalen lettischen Widerstandsbewegung – ab 1944 kämpften etwa 15 000 zu Partisaneneinheiten zusammengeschlossene »Waldbrüder« gegen die erneute sowjetische Besatzung des Landes – sowie der politischen, geistlichen und kulturellen Eliten, die als »staatsfeindliche Elemente« deklariert wurden. Allein 1949 wurden Listen mit Namen von etwa 42 000 Personen erstellt, die zwischen dem 25. und 27. März 1949 nach Sibirien deportiert. wurden. Bis 1953 wurden rund 150 000 Letten getötet, inhaftiert oder verbannt.
Nach Stalins Tod wurden die ersten Deportierten amnestiert, erhielten aber nach ihrer Rückkehr aus den Lagern weder ihr konfisziertes Eigentum zurück, noch durften sie Riga als Wohnort wählen. Zwar engagierten sich Aktivisten und Dissidenten in Lettland nach 1953 für die Einhaltung von Menschenrechten. Aufschwung bekamen diese Bestrebungen jedoch erst mit der von Michail Gorbatschow begonnenen Reformpolitik von Glasnost und Perestroika. So wurde 1986 auch in Lettland eine Helsinki-Gruppe ins Leben gerufen, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte und die historische Wahrheit einsetzte. Ihre Aktivitäten wurden staatlicherseits ebenso bekämpft wie frühere Versuche, Widerstand und eine Opposition zu organisieren. Die Mitglieder wurden vorrangig als nationale Freiheitskämpfer wahrgenommen, verhaftet und schließlich ins Exil gezwungen.
Am 14. Juni 1987, dem Jahrestag des Beginns der Massendeportationen aus Lettland 1941 in die Lager des GULag, legten Tausende Menschen am Freiheitsdenkmal in Riga Blumen nieder. Dies wiederholte sich am 23. August 1987, dem Tag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts. Unter dem Eindruck der Massenproteste änderte die sowjetische Führung ihre Nationalitätenpo- litik in den drei baltischen Sowjetrepubliken. So wurde zum Beispiel bis Ende 1988 die lettische Sprache als Staatssprache in die Verfassung aufgenommen. Im Oktober desselben Jahres gründete sich – ähnlich den Unabhängigkeitsbewegungen in Litauen (Sa˛ju-dis) und Estland (Rahva- Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust im Wald von Rumbularinne) – die lettische Volksfront (Tautas Fronte) als Sammelbecken politischer Reformkräfte des Landes.
Am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, bildeten mehr als zwei Millionen Menschen eine Menschenkette durch alle drei baltischen Republiken – Estland, Lettland und Litauen –, um ihren Willen nach nationaler Unabhängigkeit zu demonstrieren. Die Menschenkette reichte über 600 Kilometer von Tallinn über Riga nach Vilnius, den Hauptstädten der drei baltischen Länder. Die nationalen Volksfronten in Lettland, Litauen und Estland demonstrierten damit der Zentralgewalt in Moskau, dass sie große Menschenmengen mobilisieren konnten, um ihren Wunsch nach Unabhängigkeit durchzusetzen. Die Tautas Fronte verstärkte ihre Forderungen nach einem souveränen Lettland. Nachdem sie bei den Parlamentswahlen am 18. März 1990 mit großer Mehrheit gewonnen und Mitglieder der Volksfront Schlüsselpositionen in der neuen Re- gierung eingenommen hatten, verkündete die neue Volksvertretung am 4. Mai 1990 die »Wieder- herstellung der Unabhängigkeit« des Landes. Diese Erklärung ging mit einer Verurteilung der stalinistischen Verbrechen und der Okkupation durch die Sowjetunion 1940 einher. Nach der Intervention durch sowjetische Spezialeinheiten in der litauischen Hauptstadt Vilnius in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar 1991 bereiteten sich auch in Riga die demokratischen Kräfte der Regierung, unterstützt durch die Bevölkerung, auf ein militärisches Eingreifen vor. Trotz des Einsatzes von Spezialkräften des sowjetischen Innenministeriums in der Rigaer Innenstadt im Januar 1991 konnte sich das sowjetische Regime nicht mehr halten.
Während der folgenden Auseinandersetzungen, in denen Riga gegen die anrückenden sowjetischen Truppen verteidigt wurde, kamen bei Zwischenfällen acht Menschen ums Leben. Den erfolglosen Putsch gegen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow im August 1991 nutzte die Volksfront, um am 21. August 1991 endgültig die staatliche Souveränität durchzusetzen. Das sowjetische Besatzungsregime und das begangene Unrecht wurden vom lettischen Parlament bereits 1990 als verbrecherisch gekennzeichnet. Mitglieder der Kommunistischen Partei die nach 1991 aktiv waren, wurden vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Sie waren zudem nicht berechtigt, die lettische Staatsangehörigkeit anzunehmen. 1997 wurde die Verwendung sowjetischer und nationalsozialistischer Symbole verboten und steht seither unter Strafe. Seit 1988 werden die Opfer politischer Repressionen strafrechtlich rehabilitiert. Dies war mit der Rückgabe bzw. Entschädigung für das beschlagnahmte Eigentum und 1995 beschlossenen Entschädigungszahlungen für die erlittene Deportation, Haft und Repression verbunden. Insge- samt ist die soziale Situation ehemals repressierter Personen jedoch schlecht, da sich die Verfol- gungszeiten insbesondere auf die Renten auswirken, was für viele Menschen ein Leben am Existenzminimum bedeutet. Die Akten des KGB wurden dem Zentrum zur Dokumentation der Folgen des Totalitarismus übergeben, das dem lettischen Verfassungsschutz zugeordnet ist. 2018 wurde die Öffnung und Überführung der Akten in ein eigenes Archiv beschlossen.
Für bestimmte Positionen im Staats- und Verwaltungsapparat gilt eine Überprüfungspflicht, ob die Anwärter ehemalige Mitarbeiter des KGB waren. In nur wenigen Ausnahmefällen wurde bisher eine Strafverfolgung gegen ranghohe kommunistische Verantwortliche für die Massendeportationen und das kommunistische Regime in Lettland eingeleitet. Die zentrale Erinnerung in Lettland ist den beiden großen Deportationswellen 1941 und 1949 gewidmet. Im ganzen Land befinden sich kleine Denkmäler, die an deren Opfer erinnern. Ein zentrales Denkmal für die Opfer kommunistischer Verfolgung gibt es bisher nicht. Jedoch erinnert im Zentrum der lettischen Hauptstadt das privat initiierte Okkupationsmuseum an die Opfer sowohl der sowjetischen als auch der nationalsozialistischen Besetzung des Landes.
In Lettland finden jeweils am 25. März (Gedenktag der Deportationen von 1949) und am 14. Juni (Gedenktag für die Opfer der Deportationen 1941) Gedenkveranstaltungen statt. Seit 2009 wird jeweils am 23. August der Opfer der nationalsozialistischen und kommunistischen Regime gedacht.
Mit der Unterzeichnung des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakts am 23. August 1939, der die Staaten Ostmitteleuropas den zwischen Hitler und Stalin vereinbarten Einflusssphären zuschlug, wurde auch das Schicksal des seit 1918 unabhängigen Estland besiegelt. Einheiten der Roten Armee besetzten im Juni 1940 das Land. In Tallinn wurde unter Federführung des Politkommissars und Leningrader Parteichefs Andrei Schdanow eine moskautreue Marionettenregierung unter dem estnischen Premierminister Johannes Vares eingesetzt. Alle nicht kommunistischen Organisationen wurden verboten, Banken, Industrie und Land verstaatlicht. Mitglieder der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Elite des Landes wurden willkürlich verhaftet, in Straflager verschleppt oder exekutiert. Konstantin Päts, langjähriger Premier und erster Präsident Estlands, wurde unter Hausarrest gestellt und in die russische Stadt Ufa im Westural deportiert.
Stalinistische Säuberungsmaßnahmen trafen aber nicht nur Funktionsträger und deren An- gehörige. Im Zuge der Deportationen, die parallel in allen baltischen Republiken abliefen, wurden zwischen dem 14. und dem 17. Juni 1941 über 10 000 estnische Bürger festgenommen. Etwa 3 000 Männer wurden verhaftet und von ihren Familien getrennt. Von den Verhafteten wurden etwa 2 500 Menschen sofort von der sowjetischen Geheimpolizei erschossen. Diejenigen Gefangenen, die einem unmittelbaren Todesurteil entgehen konnten, wurden in Untersuchungshaft genommen und anschließend in Gefangenenlager oder Gefängnisse auf dem Territorium der Sowjet- union verschickt. Die Frauen und Kinder wurden ohne Gerichtsverfahren zur Zwangsarbeit in die Kirower sowie Nowosibirsker Gebiete Russlands deportiert.
Im Frühling 1942 waren von den verhafteten Männern nur noch einige Hundert am Leben. Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 nahm die deutsche Wehrmacht im August 1941 das Land ein. Unter dem Eindruck der vorherigen sowjetischen Repressionen begrüßten viele Esten die Deutschen als Befreier und schlossen sich deutschen Verbänden an. Über 70 000 Esten dienten bei der Polizei, Waffen-SS und Verbänden der Wehrmacht, davon etwa 20 000 als Freiwillige. 1942 / 43 wurden estnische SS-Legionen gebildet (ab Januar 1944 als 20. Waffen-Grenadier-Division der SS), deren Angehörige zum Teil zwangsrekrutiert wurden. Mehrere Tausend Männer, die nach Finnland geflohen waren, bildeten ein estnisches Infanterieregiment und kämpften 1944 gegen die Rote Armee. Der Einmarsch der Deutschen löste insbesondere unter der jüdischen Bevölkerung eine Fluchtwelle aus. Bis zum Ende des Jahres 1941 löschten Angehörige der SS-Einsatzgruppe A unter Mitwirkung estnischer Kollaborateure fast die gesamte verbliebene jüdische Bevölkerung des Landes, etwa 1 000 Menschen, aus. Darüber hinaus wurden in einer groß angelegten Vernichtungsaktion in den estnischen Dünen von Kalevi-Liiva im Herbst 1942 etwa 1 800 aus dem Ghetto Theresienstadt, aus Frankfurt am Main und Berlin deportierte Juden erschossen. Dem Genozid fielen auch Hunderte als »Zigeuner« verfolgte Roma und Sinti zum Opfer.
In den Kriegsgefangenenlagern auf estnischem Territorium starben zudem fast 15 000 sowjetische Soldaten. Nach der Rückeroberung des Landes im Oktober 1944 durch die Rote Armee wurde Estland wieder in die Sowjetunion eingegliedert. Mehr als 70 000 Menschen flohen über die Ostsee. Erneut sah sich die Bevölkerung mit Verschleppung, Willkür und staatlichem Terror konfrontiert. Betroffen waren zum einen tatsächliche und vermeintliche Kollaborateure mit den deutschen Besatzern, zum anderen Personen, die als »bourgeoise Nationalisten« bezeichnet wurden. Zu Letzteren zählten vor allem die in Partisanenverbänden zusammengeschlossenen »Waldbrüder«, bewaffnete Widerstandskämpfer in den estnischen Wäldern, die, wie ihre lettischen und litauischen Mitstreiter, für die nationalstaatliche Souveränität kämpften. Diesen Verbänden gehörten etwa 15 000 bewaffnete Kämpfer an, die auf große Unterstützung durch die Bevölkerung setzen konnten. Die erhoffte alliierte Unterstützung beim Kampf gegen die sowjetische Besatzung blieb aus. Der bewaffnete estnische Widerstand wurde Mitte der 1950er Jahre niedergeschlagen. In der Hochphase stalinistischen Terrors unmittelbar nach Kriegsende folgten auf die Verhaftungen ent- weder Todesstrafe oder Deportation in sibirische Straflager. Gleichzeitig wurden die Familien der »Waldbrüder« als Angehörige von »Klassenfeinden« repressiert. Trotz der Gefahr drakonischer Strafen organisierten sich im Untergrund in den größeren Städten Tartu, Võru und Viljandi antisow- jetische Jugendbewegungen. Von offizieller Seite als »Volksfeinde« und »Verbrecher« verfolgt, verbreiteten sie systemkritische Druckerzeugnisse und unterstützten die »Waldbrüder«.
Bis 1953 wurden, bei einer Gesamtbevölkerung von 1,1 Millionen, 35 000 Menschen aus politischen Gründen verhaftet und in Straflager nach Sibirien verschleppt. Mehrere Tausend Menschen wurden ermordet. Erst mit Stalins Tod 1953 ebbte die offene Repression ab. Ende der 1950er Jahre konnten im Zuge der Entstalinisierung die Überlebenden der Deportationen aus Sibirien nach Estland zurückkehren. Die meisten blieben allerdings auch weiterhin als »Bürger zweiter Klasse« im Visier der Sicherheitsorgane. Die Rückkehrer lebten mit dem Stigma der »Vorbestraften« und waren vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt. Dies reichte von der Wahl des Wohnorts über Zugang zu Bildung bis hin zur Berufswahl. Zudem setzte die sowjetische Bevölkerungspolitik darauf, durch die massive Ansiedlung ethnischer Russen und anderer Völker der Sowjetunion die estnische Bevölkerung zur Minderheit im eigenen Land zu machen. Auch wenn sich die Form der Repressalien änderte, blieben diese bis zum Ende der Sowjetunion bestehen. Sie richteten sich gegen alle, die die sowjetische Herrschaft infrage stellten und auf der estnischen Unabhängigkeit bestanden. In der sogenannten Tauwetterperiode unter Chruschtschow wurden zuvor verbotene Nationaldichter wieder gedruckt und das kulturelle Leben weniger reglementiert.
Ein wichtiger Bestandteil der estnischen Widerstands- und Dissidentenbewegung war die Pflege des kulturellen und sprachlichen Erbes. Regimekritische Schrif- ten wurden in Untergrunddruckereien gedruckt und verbreitet. Berühmt geworden sind in diesem Zusammenhang die sogenannten Sängerfeste, die in den 1970er und 1980er Jahren zu einer Art Manifestation estnischer Unabhängigkeit wurden. Auch gründeten sich zu dieser Zeit illegale Menschenrechtsorganisationen, die freie Wahlen und ein unabhängiges Estland forderten. Zunehmend meldeten sich unterdrückte ethnische und religiöse Minderheiten zu Wort und forderten das Recht auf Emigration, wie zum Beispiel Angehörige der deutschen und der jüdischen Minderheit. Nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki machten estnische Menschenrechtsgruppen verstärkt auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam und versuchten, sich mit entsprechenden Gruppen aus Litauen und Lettland zu vernetzen. Dies mündete 1979 in der Veröffentlichung des Baltischen Appells. 1983 verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution, in der die Besetzung der drei baltischen Staaten durch die Sowjetunion verurteilt und ihre Unabhängigkeit gefordert wurde. All diese Bemühungen verstärkten unter der estnischen Bevölkerung den Willen zur Unabhängigkeit. Studenten an den Universitäten organisierten Protestaktionen. Diese wurden niedergeschlagen und ihre Anführer in Moskau zu Lagerhaft verurteilt.
Anfang der 1980er Jahre wurde die Repression wieder verstärkt und die sich in den 1970er Jahren zunehmend auch öffentlich positionierende Opposition wieder in den Untergrund getrie- ben. Es bildeten sich jedoch Umweltgruppen, die gegen den Phosphorabbau im Osten Estlands und die damit verbundenen Umweltschäden protestierten. Ebenso organisierten sich Gruppen von Denkmalschützern, die auf die Zerstörung des kulturellen Erbes aufmerksam machten – Aktivitäten, die wie in anderen kommunistischen Ländern formal nicht verboten waren, aber wegen ihrer Anklage gegen die Zerstörung der Umwelt und der Kulturschätze als Bedrohung wahrgenommen wurden. Erst mit der von Gorbatschow begonnenen Politik von Glasnost und Perestroika verstärkten sich ab 1987 die Proteste gegen die sowjetische Besatzung. Sie drückten sich in der Rückbesinnung auf estnische Volkslieder und dem Singen der verbotenen estnischen Nationalhymne aus. Diese wurde erstmals seit 1940 im August 1988 bei einer Demonstration von rund 300 000 Menschen in der Hauptstadt Tallinn wieder öffentlich gesungen.
Unter dem Eindruck der Massenproteste änderte die sowjetische Führung ihre Nationalitätenpolitik in den drei baltischen Sowjetrepubliken und erhoffte durch Zugeständnisse eine Beruhigung der Lage. So wurde zum Beispiel Ende 1988 die estnische Sprache als Staatssprache in die Verfassung aufge- nommen. Am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, bildeten mehrere Millionen Menschen eine 600 Kilometer lange Menschenkette durch alle drei baltischen Republiken – Estland, Lettland und Litauen –, um ihren Willen nach nationaler Unabhängigkeit zu demonstrieren. Damit war die »Singende Revolution« geboren. m März 1990 erklärte sich Estland wieder zur Republik. Die vollständige Trennung von der Sowjetunion erfolgte im August 1991 nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow. In dessen Folge wurden in Estland sowohl der KGB als auch die KPdSU für illegal erklärt. Der KGB wurde in Estland zum 1. Dezember 1991 aufgelöst. Zu diesem Zeitpunkt wurden die meisten Personalakten der ehemaligen Geheimpolizei, operative Berichte und Agentenprotokolle nach Russland abtrans- portiert. Im Besitz des estnischen Staates verblieben etwa 28 500 Akten des KGB mit Angaben über politische Gefangene.
Im Unterschied zu den beiden Nachbarländern Lettland und Litauen wurde die Unabhängigkeitsbewegung in Estland nicht durch sowjetische Panzer und Truppen bekämpft und verlief unblutig. Mit der staatlichen Unabhängigkeit und dem Zerfall der Sowjetunion 1991 rehabilitierte die estnische Regierung offiziell die Opfer von Deportation und Verbannung. Zugleich verabschiedete sie ein Gesetz zur Regelung der Rückerstattung beschlagnahmten Eigentums an die früheren Besitzer. Bis 1995 fand auf der Grundlage der in Estland verbliebenden KGB-Unterlagen eine Lustration statt, in deren Folge Mitarbeiter von Gestapo und KGB aus öffentlichen Ämtern entfernt wurden. 2002 erklärte das estnische Parlament das kommunistische Regime der Sowjetunion zu einem verbrecherischen Regime und die von ihm begangenen Verbrechen ebenso wie die der NS-Okkupation zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die juristische Aufarbeitung verlief jedoch unbefriedigend, nur zwölf Verfahren wurden angestrengt und elf Angeklagte zu Haftstrafen verurteilt. Gleichzeitig versuchte die estnische Regierung, die Russifizierung des Landes rückgängig zu machen. Estnisch wurde Amts- und Landessprache, sowjetische Denkmäler wurden demontiert und Straßen umbenannt.
Am 15. Februar 2007 beschloss das estnische Parlament ein Gesetz zum Verbot von Denkmälern, die die sowjetische Fremdherrschaft verherrlichen. Zu Auseinandersetzungen zwischen Teilen der russischen Bevölkerung und estnischen Sicherheitsleuten kam es, als das Denkmal für die sowjetischen Soldaten, das 1947 als Symbol für die Befreiung Estlands von der NS-Herrschaft errichtet worden war, Ende April 2007 auf einen Militärfriedhof am Rand von Tallinn verlagert wurde. Parallel zu den Straßenumbenennungen und Denkmalsstürzen wurden Monumente aufgestellt, die an die Unterdrückung der estnischen Bevölkerung und den Verlust der Unabhängigkeit sowohl unter der sowjetischen als auch unter der deutschen Besatzung erinnern.
Das von einer privaten Stiftung getragene Okkupationsmuseum im Zentrum von Tallinn, das Historische Nationalmuseum sowie Stadt- und Heimatmuseen befassen sich mit den Besetzungen und deren Folgen. Untersuchungskommissionen sollen die materiellen und personellen Verluste während der Besatzungsherrschaft dokumentieren.
Die 1998 gegründete Estnische Stiftung zur Untersuchung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ihr Nachfolger – das 2008 gegründete Estnische Institut für Historisches Gedächtnis – haben zahlreiche Publikationen und wissenschaftliche Stu- dien zur Geschichte und den Folgen der Fremdherrschaft in Estland im 20. Jahrhundert vorgelegt. Am 25. März und am 14. Juni jedes Jahres sowie am 23. August wird in Gedenkzeremonien der Opfer der totalitären Herrschaft in Estland gedacht.