

Nicht zuletzt, um den litauischen Kolleginnen und Kollegen unsere Solidarität, unser Interesse an ihrem Land, ihrer Geschichte und ihrer Zukunft zu dokumentieren. Der Zeitpunkt war nicht zufällig gewählt: Der 23. August 1939 ist für die drei baltischen Republiken Litauen, Lettland und Estland von besonderer Bedeutung. Mit dem Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes an diesem Tag und der im Geheimen Zusatzprotokoll vereinbarten Aufteilung der Länder Mittel- und Osteuropas zwischen den beiden totalitären Machten wurde das Ende der staatlichen Unabhängigkeit dieser und weiterer Länder besiegelt. Mit der Baltischen Kette von 1989 erinnerten über eine Million Menschen über 600 Kilometer von Tallinn über Riga bis Vilnius an diesen Pakt und forderten ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion.
Die Teilnehmer der Studienfahrt lernten während des Aufenthalts die vielfältigen Seiten der Erinnerungskultur in Litauen kennen: Vom Hitler-Stalin-Pakt und seinen Folgen, über die erste sowjetische Besatzung mit ihren Verbrechen in den Jahren 1940 / 1941 über die deutsche Besatzung mit der Ausrottung der litauischen Juden im Holocaust über den Zweiten Weltkrieg (1941–1944) bis zur zweiten sowjetischen Besatzung von 1944 bis 1991 und der Erkämpfung der Unabhängigkeit bis zur Situation heute, bot das Programm vielfältige Diskussions- und Anknüpfungspunkte.
Wie Estland und Lettland wurde auch Litauen der sowjetischen Einflusssphäre durch das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt sowie dem deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 zugeschlagen. Nach der Besetzung von Ostpolen und Vilnius zwang die Sowjetunion die litauische Regierung – ähnlich wie in Lettland und Estland –, Beistandspakte abzuschließen und der Stationierung von 35 000 Soldaten der Roten Armee zuzustimmen. Per Ultimatum forderte der Kreml am 14. / 15. Juni 1940 in allen drei baltischen Staaten nicht nur die Stationierung sowjetischer Truppen in ungenannter Höhe, sondern auch einen Regierungswechsel und Neuwahlen auf Basis von kommunistischen Einheitslisten. Nach den inszenierten und manipulierten Parlamentswahlen deklarierte am 20. Juli die sogenannte »Volksvertretung« Litauen zur Sozialistischen Sowjetrepublik. Die eingesetzte moskautreue Marionettenregierung unter Justas Paleckis bat um Aufnahme in die Sowjetunion, die am 3. August 1940 erfolgte. Die Sowjetisierung ging mit brutaler Willkür, Verhaftung und Ermordung von Politikern, Geistlichen, Intellektuellen und Künstlern einher, Industrie und Banken wurden verstaatlicht. Im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wurden Grundbesitzer enteignet und die Errichtung von Kolchosen durchgesetzt. Der Staat kontrollierte die Religionspolitik, konfiszierte Kirchengüter und schloss Gebetshäuser. Mitglieder des Klerus wurden interniert und ermordet. In einer umfassenden Aktion wurden zwischen dem 14. und dem 21. Juni 1941 über 30 000 litauische Bürger ohne Gerichtsurteil interniert, zur Zwangsarbeit in die Arbeits- und Gefangenlager des GULag-Systems abtransportiert oder in die Verbannung in entlegene sibirische Regionen verschickt.
Organisierter Widerstand formierte sich bereits kurze Zeit nach der sowjetischen Okkupation. Zu den Akteuren des Untergrunds zählte die nationalistisch gesinnte Litauische Aktivistenfront (LAF), die auf dem Höhepunkt des Widerstandskampfes im Sommer 1941 fast 36 000 Mitglieder zählte. Am 22. Juni 1941, dem Tag des Überfalls Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion, initiierte die Aktivistenfront einen bewaffneten Aufstand gegen das sowjetische Besatzungsregime. Eine von der LAF ins Leben gerufene Interimsregierung konnte allerdings nur wenige Tage aufrechter- halten werden.Der Vormarsch der Wehrmacht, die das Land innerhalb kürzester Zeit überrollte, wurde zunächst als Befreiung vom »Roten Terror« wahrgenommen. Die Deutschen ließen aller- dings keinen Zweifel daran, dass die sowjetische Unterdrückung durch den nationalsozialistischen Terror ersetzt wurde. Zwischen Juni 1941 und der Rückeroberung Litauens durch die Rote Armee im Juli 1944 sah sich das Land erneuter Diktatur, Repression und Willkür ausgesetzt. Wie auch in anderen besetzten Staaten sprach die nationalsozialistische Ideologie bestehende anti- semitische Ressentiments nationalistischer Bevölkerungsgruppen an – vor allem unter den Mit- gliedern der LAF. Bei der Durchführung des Holocaust auf litauischem Territorium assistierten den deutschen Einsatztruppen auch nationale Polizeibataillone. Der Shoah, dem nationalsozialisti- schen Genozid an der jüdischen Bevölkerung, fielen in Litauen 200 000 Menschen zum Opfer – 95 Prozent der gesamten jüdischen Gemeinschaft des Landes. Bis zum Sommer 1944 wurden weitere 75 000 litauische Bürger zur Zwangsarbeit in das Deutsche Reich verschleppt, fast 20 000 Männer wurden den deutschen Truppenverbänden zwangsunterstellt, über 100 000 Menschen flüchteten ins Ausland. Anders als die antisowjetische Gegenwehr wandte die antinazistische Opposition überwiegend passive Widerstandsformen an. Ihre Aktivitäten richteten sich dabei vor allem auf die Sabotage des nationalsozialistischen Besatzungsregimes. Eine wichtige Rolle spielten die Publikation und Verbreitung von Untergrundzeitungen sowie der Aufbau eines Kontaktnetzwerks zu den Alliierten. Mehrere politisch motivierte Organisationen wie die Litauische Front, die Nachfolgevereinigung der LAF, und das Oberste Komitee zur Befreiung Litauens, ein Zusammenschluss der von den Nationalsozialisten verbotenen Parteien, waren im Untergrund aktiv.
Nach der Schlacht um Stalingrad Anfang 1943 stoppte die Rote Armee den Vormarsch der Wehr- macht und begann ihre Offensive. Auf dem Weg nach Westen überquerte sie am 4. Juli 1944 erneut die litauische Grenze im Nordosten des Landes. Damit knüpfte die sowjetische Besatzung an die Repressionspraktiken von 1940 an: forcierte Kollektivierung der Agrarwirtschaft, systematische Verfolgung und Unterdrückung des Klerus, Ausschaltung der Intelligenzija und erneute Massendeportationen. Zwischen April 1945 und August 1952 wurden in mehrfachen Deportationsaktionen fast 112 000 litauische Bürger nach Sibirien zur Zwangsarbeit oder in die Verbannung verbracht. Allein bei den Märzdeportationen 1949 wurden auf Beschluss des Ministerrats der UdSSR 33 500 litauische Bürger in Viehwaggons ins Innere der Sowjetunion abtransportiert. Die Wiederkehr der Sowjetherrschaft zwang in Litauen wie in den anderen baltischen Republiken Tausende Menschen in den Untergrund. Ende 1945 versteckten sich etwa 30 000 Männer – zusammengeschlossen in Partisanenverbänden – in den Wäldern Litauens. Die ersten wider- ständischen Gruppen, im Volksmund »Waldbrüder« genannt, rekrutierten sich aus den Reihen der LAF, der militärischen Organisation »Kestutis« sowie Männern verschiedenster antikommu- nistischer Couleur. Sie einte das Ziel, eine dauerhafte Installierung der sowjetischen Macht in Litauen mit allen erdenklichen Mitteln zu verhindern. Zu den subversiven Aktivitäten der »Waldbrüder« gehörte die Sabotage sowjetischer Staatsgüter, die Abwehr kommunistischer Propaganda und Verbreitung einer national orientierten Untergrundpresse. Daneben unterminierten sie auch lokale Initiativen, die den Aufbau sowjetischer Verwaltungsstrukturen unterstützten. Angesichts der Gegenwehr der litauischen Partisanen ordnete die sowjetische Führung mehrfach Aufklärungs- und Vernichtungsaktionen gegen die bewaffneten Verbände an. Bei einer der groß angelegten Aktionen zwischen dem 28. Juni und 16. Juli 1946 setzte das NKWD 7 000 Männer, darunter Spezialeinheiten der Geheimpolizei »istrebitel« (»Vernichter«), zur Bekämpfung der litauischen Partisanen ein. Nach 1948 schleusten sowjetische Sicherheitsorgane zunehmend Spitzel in den Untergrund ein. Ganze Einheiten der »Waldbrüder« wurden verraten und liquidiert. Bei den Widerständlern setzte sich die Einsicht durch, dass die Alliierten den baltischen Freiheitskampf nicht unterstützen und der Westen nicht intervenieren werde. Auch verschlechterten sich die lokalen Bedingungen. Im Zuge der wirtschaftlichen Rezession konnten Einheimische kaum Personen außerhalb der eigenen Familie mitversorgen. Die langen Jahre in den Waldverstecken und die konspirativen Lebensumstände hatten viele Kämpfer zermürbt und demoralisiert. Versuche, den Untergrundkampf unter der 1949 gegründeten Organisation »Litauische Freiheits- kämpfer« wiederzubeleben und zu zentralisieren, scheiterten. Der Terror ebbte erst ab, als die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft abgeschlossen, der bewaffnete Untergrundkampf der »Waldbrüder« niedergeschlagen und die litauische Bevölkerung durch Repressionsmaßnahmen dezimiert worden war. Litauen hatte bis 1953 durch Deportation, Krieg und Widerstandskampf ein Sechstel seiner Bevölkerung verloren.
In der »Tauwetterperiode« unter Nikita Chruschtschow (1956 – 1964) war die litauische Intelligenzija zunächst zersplittert und demoralisiert. Nach dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei 1968 erstarkten Dissidentenbewegungen, die mehr Mei- nungsfreiheit und die Bewahrung der nationalen Kultur und Tradition forderten und von der katholischen Kirche unterstützt wurden. Die Aktion des Studenten Romas Kalanta, der sich aus Protest gegen das sowjetische Okkupationsregime am 15. Mai 1972 in Kaunas mit den Worten »Freiheit für Litauen« selbst verbrannte, löste Massendemonstrationen aus. Zeitgleich weitete die litauische Untergrundpresse ihre Produktion aus. Wie in anderen Ländern des Ostblocks führte die KSZE-Konferenz zur Gründung von lokalen Helsinki-Gruppen, die unter Berufung auf die in Helsinki unterzeichnete Schlussakte die Gewährung von Menschen- und Bürgerrechten verlang- ten. Auch in Estland und Lettland hatte sich der Widerstand gegen die sowjetische Besatzung bereits in den 1960er Jahren neu formiert. Die Dissidentenbewegungen waren in ihren Forderungen vom Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit geprägt. In Litauen wurde die erste Helsinki-Gruppe 1976 gegründet. Wie in den anderen baltischen Republiken reagierte die sowjetische Macht mit massiver Repression gegen die Gruppen. Die Unzufriedenheit mit der Nationalitätenpolitik äußerte sich immer stärker öffentlich. Anlässlich des 40. Jahrestags des Hitler-Stalin-Pakts am 23. August 1979 verfassten 45 Letten, Esten und Litauer einen »Baltischen Appell« an die UNO, der dazu führte, dass das europäische Parlament 1983 eine Resolution über die inak- zeptable Situation der baltischen Bevölkerung annahm. Die Helsinki-Gruppen wurden unterwandert, die Aktivisten verhaftet oder ins Exil getrieben. 1983 löste sich die litauische Gruppe schließlich auf. Mit der von Gorbatschow betriebenen Reformpolitik 1985 erhielt jedoch die Dissidentenbewegung in Litauen neuen Auftrieb. Ebenso wie in anderen Ländern organisierte sich der Widerstand in Form von Umwelt- und Friedensgruppen. Auch in Litauen fand am 14. Juni 1987 eine Massenkundgebung zur Erinnerung an die Besetzung des Landes infolge des Hitler-Stalin-Pakts und die damit verbundenen Massenrepressalien statt. Unter dem Eindruck der Massenproteste änderte die sowjetische Führung ihre Nationalitätenpolitik in den drei baltischen Sowjetrepubliken. So wurde zum Beispiel bis Ende 1988 die litauische Sprache als Staatssprache in die Verfassung aufgenommen. Die in allen drei Ländern gegründeten Volksfronten führten gemeinsame Aktionen gegen die sowjetische Zentralmacht und für nationale Unabhängigkeit durch. Den Höhepunkt dieser Aktionen bildete die am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts, über 600 Kilometer von Litauen nach Estland reichende Menschenkette, der sich über zwei Millionen Personen anschlossen.
Angesichts der Demokratisierungsbestrebungen in Litauen – das Land hatte am 11. März 1990 als erstes Land unter der damaligen sowjetischen Besatzung seine Unabhängigkeit erklärt – verhängte der Staats- und Parteichef der Sowjetunion Michail Gorbatschow eine mehrmonatige Wirtschaftsblockade. In der Nacht vom 12. zum 13. Januar 1991 griffen OMON-Truppen in Vilnius Zehntausende Demonstranten an, die den Fernsehturm, das Parlament und andere öffentliche Gebäude verteidigten. Bei den Aktionen kamen 14 Menschen ums Leben, es gab Hunderte Verletzte. Trotz der militärischen Intervention sowjetischer Truppen fanden im Februar 1991 die ersten freien Parlamentswahlen statt. Obwohl das kommunistische Regime und seine Verbrechen verurteilt wurden, erwies sich die Rehabilitierung der Opfer als langwierig. Da entsprechend der geltenden Gesetze die verurteilten Opfer der Repression als Kriminelle galten, musste in den angestrengten Rehabilitierungsprozessen nachgewiesen werden, dass sie unschuldig und zu Unrecht verurteilt worden waren. Rehabilitierte Personen erhalten eine Entschädigung und ihr Eigentum wird restituiert. Frühere Zuträger und Spitzel sind vor einer Veröffentlichung ihrer Daten geschützt, sofern sie sich schuldig bekannt haben und ihr Bedauern über ihre Taten geäußert haben. 1992 wurde beschlossen, zur Erinnerung an die Opfer der beiden Okkupationsregime in Vilnius das staatliche Genozidmuseum einzurichten. Zahlreiche Gedenksteine und Denkmäler erinnern an die Opfer der totalitären Herrschaft in Litauen. Auf der Website des Litauischen Museums für die Opfer des Genozids und Widerstands findet sich eine Aufstellung aller in Litauen bestehenden Gedenkstätten.