Gesprächspartner vor Ort waren u.a. Aktivisten der russischen Nichtregierungsorganisation Memorial und Vertreter weiterer zivilgesellschaftlicher Gruppen, die sich für eine Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verbrechen und die Demokratisierung der russischen Gesellschaft einsetzen. Zum Besuchsprogramm gehörten ein Museum zum russischen Afghanistan-Krieg in Jekaterinburg, das von ehemaligen Soldaten betrieben wird, Gedenkstätten wie im ehemaligen KGB-Gefängnis in Perm, aber auch Ausstellungen zu zeithistorischen Themen in den Stadtmuseen sowie Gedenkorte und -zeichen.
Besondere Aufmerksamkeit kam dem im ehemaligen Lager Perm 36 eingerichteten Museumskomplex mit seinem Gulag-Museum zu. Dort fand zeitgleich mit dem Besuch der deutschen Delegation Ende Juli 2011 das Kulturfestival »Pilorama« statt, zu dem mehrere Tausend Teilnehmer aus ganz Russland und Europa angereist waren.
Am 7. November (nach damaligem russischen Kalender am 25. Oktober) 1917 putschten sich die russischen Bolschewiki unter Führung Wladimir Iljitsch Lenins in der sogenannten Oktoberrevolution an die Macht und beendeten die seit Februar 1917 bestehende Regierung aus Sozialrevolutionären und Bolschewiki unter Alexander Kerenski. Damit endete der fast achtmonatige Versuch, aus der zaristisch-autoritären Herrschaft eine bürgerlich-demokratische parlamentarische Ordnung zu bilden. Im darauf folgenden Jahr wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands in Kommunistische Partei Russlands umbenannt. Aus ihr wurde nach der Gründung der Sowjetunion zunächst die Kommunistische Allunionspartei und ab 1952 die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU).
Nach dem Putsch stürzte das Land in einen Bürgerkrieg, in dem sich die von Lenin und seinen Bolschewiki geführte Rote Armee und Einheiten der sogenannten Weißen Armee, bestehend aus Offizieren und Truppen, die sich der zaristischen bzw. bürgerlichen Ordnung verpflichtet fühlten, sowie ausländische Interventionstruppen gegenüberstanden. Der Bürgerkrieg forderte auf allen Seiten etwa acht Millionen Todesopfer, darunter sehr viele Zivilisten, die zwischen die kriegführenden Seiten gerieten. Aus diesem Krieg ging die Rote Armee siegreich hervor. 1922 wurde die Sowjetunion gegründet, der neben der Russischen Sowjetrepublik die Ukrainische und die Belorussische sowie die Transkaukasische Sowjetrepublik, bestehend aus Armenien, Georgien und Aserbaidschan, angehörten. Über die Jahrzehnte wurden weitere Länder der Sowjetunion oft gewaltsam angeschlossen.
Bereits während des Bürgerkriegs hatten die Bolschewiki in den von ihnen beherrschten Gebieten einen »Kriegskommunismus« eingeführt. Dieser sah die Enteignung von Grundbesitz und Fabriken, die Einführung von Zwangsabgaben und die Zwangsrekrutierung von Soldaten für die Armee sowie die Sicherung der Herrschaft durch den »Roten Terror« vor. Das Dekret des Rates der Volkskommissare »Über den Roten Terror« regelte am 5. September 1918 offiziell die Errichtung von Konzentrations- und Internierungslagern, in denen als Feinde der neuen Ordnung betrachtete Menschen gefangen gehalten wurden. Eines der ersten Lager entstand auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs ordnete Lenin die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik an, die den Bauern Spielräume beim Anbau und Verkauf ihrer Produkte gestattete und so die Wirtschaft im bürgerkriegszerstörten Land wieder aufbauen helfen sollte. Als Lenin 1924 starb, übernahm Stalin die Macht und sicherte diese mit neuem Terror und Massenrepressalien. Innerparteiliche Konkurrenten und Kritiker seiner Politik wurden Schritt für Schritt entmachtet und ins Exil getrieben oder – wie später Trotzki – ermordet. Ihre Sympathisanten wurden in Lagern inhaftiert, mussten Zwangsarbeit leisten oder wurden ermordet. Nach Stalins Machtübernahme endete 1927 die Phase der Wirtschaftsliberalisierung, die Landwirtschaft wurde zwangskollektiviert.
Zehntausende Bauern verloren ihr Land, wurden als »Kulaken« stigmatisiert und unter diesem Vorwand mitsamt ihren Familien deportiert oder ermordet. Die gewaltsame Umgestaltung der Landwirtschaft und die massive Verfolgung von Bauern führten zu Hungersnöten, denen insbe- sondere in Kasachstan, der Ukraine und auf der Krim mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dabei setzte die sowjetische Führung den Hunger auch als Mittel zur Disziplinierung von als kritisch geltenden Bevölkerungsteilen ein.
Bereits 1918 war der Grundstein für die Errichtung des später die gesamte Sowjetunion umfassenden Lagersystems geschaffen worden, das ab Anfang der 1930er Jahre unter der Bezeichnung GULag (Glawnoje Uprawlenije Lagerej; Hauptverwaltung der Lager) zusammengefasst wurde. Der GULag umfasste ein riesiges Netz aus Zwangsarbeitslagern, das die gesamte Sowjetunion von den Solowezki-Inseln im Weißen Meer bis nach Magadan und Wladiwostok im Fernen Osten, von Murmansk und Workuta am Polarkreis bis nach Alma-Ata und Ulan Bator in Zentralasien, vom Zentrum Moskaus bis in den Stadtkern Leningrads überzog. Der Begriff GULag wurde zum Synonym für das sowjetische Repressionsregime – menschenfeindliche Lebensbedingungen, schwerste körperliche Arbeit, drakonische Strafen, Mangelernährung, Erschöpfung, Krankheit und Tod. Bereits 1918 hatte Lenin die erbarmungslose Unterdrückung jeglichen Widerstands angeordnet und gefordert, dass verdächtige Personen in Konzentrationslagern außerhalb der Städte eingesperrt werden sollten. In diesem breit gefächerten System an Arbeits- und Straflagern, Lagern mit kriminellen und politischen Häftlingen, Frauen- und Kinderlagern, Transit- und Sonderlagern sollten vermeintliche und tatsächliche Gegner der Sowjetunion nicht nur vom Rest der Gesellschaft isoliert werden. Seit Ende der 1920er / Anfang der 1930er Jahre wurde die Arbeitskraft der Inhaftierten im Zuge der Zwangskollektivierung und forcierten Industrialisierung für die überstürzte infrastrukturelle und ökonomische Erschließung des Landes ausgebeutet. Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle wurden zur »Umerziehung« in die Lager geschickt und mussten Zwangsarbeit wie beispielsweise beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals sowie anderen industriellen Großprojekten leisten. Hinzu kam die massive Verfolgung der Kirchen und der Gläubigen, denen die Religionsausübung untersagt war. Zahlreiche Priester und Gläubige wurden inhaftiert oder ermordet, Kircheneigentum beschlagnahmt, mutwillig zerstört und teilweise ins Ausland verkauft, um Devisen für die forcierte Industrialisierung zu erhalten. In sogenannten atheistischen Museen stellte man Kultgegenstände aus, um den zu schaffenden »neuen Menschen« vor den Gefahren der Religion zu warnen und die Gläubigen lächerlich zu machen.In den Kirchen richtete man Ställe und Lagerhallen, Schwimmbäder oder auch Krematorien und Gefängnisse ein.
Das Zwangsarbeitssystem, das Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen in vollkommen unerschlossenen, klimatisch extremen Regionen zu schwerster körperlicher Arbeit versklavte,
machte den GULag zwischenzeitlich zum größten Wirtschaftsunternehmen der Sowjetunion. Insassen wurden dabei in allen nur erdenklichen Industriesektoren eingesetzt: von Holzschlag, Bergbau, Fabrikarbeit, Edelmetallförderung, Kanal-, Eisenbahn-, Straßen- oder Hausbau über Agrarwirtschaft, Ölförderindustrie und Radiumgewinnung bis hin zur Entwicklung von Geschützen, Flugzeugen und Maschinen in den geheimen Forschungslaboratorien des NKWD, den »Scharaschkas«. Nach dem Durchlaufen des »Fleischwolfs« von Verhaftung, Verhör und unter Folter erzwungenen Geständnissen schloss sich der Abtransport in ungeheizten Viehwaggons in abgelegene Regionen der Sowjetunion an.
Die Zahl an Lagern erhöhte sich nach dem Beginn der Massenrepressalien drastisch. Über die Jahre entstanden mindestens 476 große Lagerkomplexe mit tausenden Einzel- und Nebenlagern, in denen sich zwischen einigen Hundert und mehreren Tausend Personen befanden. Hinzu kam der den gesamten Alltag und die Gesellschaft prägende Terror, der seinen Höhepunkt 1937 / 38 im »Säuberung« genannten »Großen Terror« fand. Binnen weniger Monate wurden über zwei Millionen Menschen durch den NKWD verhaftet, 1,345 Millionen von ihnen nach dem berüchtigten Artikel 58 des Russischen Strafgesetzbuches verurteilt und etwa 700 000 Menschen erschossen. Über 27 000 Ehefrauen und 36 000 Kinder von sogenannten Volksfeinden deportierte man in Lager, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten. Vom »Großen Terror« und seinen Mordaktionen war auch die militärische Spitze des Landes betroffen. Fast das gesamte Offizierskorps der Roten Armee wurde ermordet, was die Sowjetunion im nur zwei Jahre später beginnenden Deutsch-Sowjetischen Krieg nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 mit riesigen Verlusten an Menschenleben bezahlte. Während des Überlebenskampfes der sowjetischen Bevölkerung gegen den von deutscher Seite geführten Angriffs- und Vernichtungskrieg gingen die Repressionen unvermindert weiter.
In Lager und Verbannung verschickt wurden allerdings nicht nur tatsächliche und vermeintliche Gegner der Sowjetunion. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg wurden Hunderttausende Menschen aus allen sowjetisch besetzten Gebieten sowie Kriegsgefangene in den GULag verschleppt. Allein im Lagerkomplex Workuta waren zeitweilig bis zu 50 000 Deutsche inhaftiert. Nach Kriegsende brachten erneute Repressionswellen weitere Hunderttausende Menschen in verschiedene Lagerstandorte. Zu Zeiten seiner höchsten Belegung im Jahr 1950 betrug die Anzahl der in den Lagern des GULag inhaftierten Menschen über 2 561 300 Personen.
Etwa 20 Millionen Menschen waren insgesamt im GULag inhaftiert. Millionen Menschen wurden dort ermordet oder fielen den menschenunwürdigen Umständen zum Opfer. Besonders in der Hochzeit des stalinistischen Massenterrors 1937 / 38 gestaltete sich der Unterschied zwischen einer Existenz innerhalb und außerhalb des Stacheldrahtzauns eher graduell denn grundsätzlich. Von einem aus dem GULag entlassenen Strafgefangenen sagte man oft, er würde lediglich aus der »kleinen Zone« in die »große Zone« überführt. Das gesamte Leben wurde auf unbedingte Unterwerfung unter die Ideologie und Ziele der kommunistischen Partei ausgerichtet; jede Abweichung konnte für die betroffene Person und ihre Familie Deportation, Haft oder Tod bedeuten. Die sowjetische Politik zielte während der Regierungszeit Lenins und insbesondere Stalins darauf ab, die Menschen ihrer persönlichen Geschichte und Identität zu berauben. Kindern und Familien gab man willkürlich neue Namen und zerstörte rigoros den Generationenzusammenhang. Traditionen, seien sie religiöser oder kultureller Art, wurden durch neue sowjetische Rituale ersetzt und die alten Bräuche bei Strafe aus dem öffentlichen Leben verbannt.
Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, den die Sowjetunion mit dem höchsten Blutzoll an Menschenleben bezahlte und aus dem sie als eine der Siegermächte hervorging, setzte sich die Unterdrückung der Bevölkerung fort. Immer neue Gruppen wurden angeblicher Verschwörungen gegen Stalin oder die kommunistische Herrschaft bezichtigt, in Schauprozessen abgeurteilt und oftmals getötet. Erst Stalins Tod im März 1953 beendete das Morden. Nach seinem Tod setzte eine Entstalinisierung unter dem neuen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow ein, die mit der schrittweisen Auflösung des GULag-Systems und einer gewissen Liberalisierung des Lebens im Vergleich zu den Zuständen unter Stalin verbunden war. Politische Häftlinge wurden aus den Lagern entlassen und rehabilitiert, blieben jedoch oft weiterhin benachteiligt, was die Wahl des Wohnorts, der Ausbildung oder Arbeitsstellen betraf. Ehemals nach Stalin benannte Städte, Straßen und Werke wurden umbenannt. Bereits am 27. März 1953 kamen in einer Massenamnestie fast 1,2 Millionen Häftlinge frei. Von vorzeitiger Entlassung ausgeschlossen waren allerdings fast alle aus politischen Gründen wegen »konterrevolutionärer Verbrechen gegen den Staat« nach dem berüchtigten Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR inhaftierten Gefangenen. Die stockend und nur selektiv implementierten Reformbemühungen des Strafvollzugssystems resultierten daher 1953/54 innerhalb der Lagerkomplexe darin, dass die Wut und Frustration der Insassen in Arbeitsniederlegungen, Streiks, Übergriffe und Massenerhebungen gegen die Wachmannschaften und Lageradministrationen umschlug. Besonders in den nördlichen Standorten am Polarkreis, im GorLag – einem Sonderlager von Norilsk –, dem Workuta-Sonderlager RetschLag sowie im kasachischen Sonderlager Nummer 4 in Kengir kam es in den Sommern 1953 und 1954 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die von den staatlichen Sicherheitsorganen blutig niedergeschlagen wurden. Gleichzeitig stellten die ersten Massenentlassungen die Gesellschaften der Sowjetrepubliken vor enorme rehabilitationspolitische Herausforderungen. Den aus Gefangenschaft und Verbannung zurückgekehrten, vormals als »Volksfeinde« und »Nationalisten« angeklagten Menschen – vor allem in den baltischen Gebieten, der Ukraine, Belarus und Moldawien – wurde der Zugang zu Ausweisdokumenten, Wohnraum, Arbeit und Renten verwehrt.
Das kulturelle »Tauwetter« und die eingeleitete Entstalinisierung unter Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow waren eine machtpolitische Gratwanderung für die oberste Regierungsführung der UdSSR. Zwar wurde der GULag nach Stalins Tod als allumfassender Unterdrückungsapparat sukzessive abgebaut und man versuchte nie wieder, das Lagersystem zu einem integralen Bestandteil der sowjetischen Wirtschaft zu gestalten oder Millionen Menschen darin einzukerkern. Auch erhielt die Geheimpolizei nie wieder solch weitgreifende, selbst ins Wirtschaftsleben des Landes einschneidende Kompetenzen wie unter Stalin. Das hieß allerdings nicht, dass die Repressionen und die Verfolgungen eingestellt wurden. Die Lager verschwanden nie gänzlich aus dem sowjetischen System des Strafvollzugs und der Unterdrückung, sondern wurden auch weiterhin dafür genutzt, um politischen, nationalen oder kulturellen Widerstand zu brechen. Auch gliederten sich die sowjetischen Gefängnisse nicht vollständig in den regulären Strafvollzug ein, der nur Kriminelle beherbergte. Stattdessen durchlief das staatliche Unterdrückungsinstrumentarium einen Wandel. Waren die Verhaftungen zu Zeiten Stalins durch reine Willkür charakterisiert – ausnahmslos jeder Mensch konnte zu jeder Zeit aus jedem Grund »wegen nichts« festgenommen werden –, fanden die Inhaftierungen in der poststalinistischen Zeit, vor allem während der Regierungszeit Leonid Breschnews, aufgrund literarischer, religiöser oder politischer Gegnerschaft zum Sowjetsystem statt. Nach Abschaffung des Artikels 58 wurden Festnahmen nun entweder nach dem neu verfassten Artikel 70 des Strafgesetzbuches über »Antisowjetische Agitation und Propaganda« oder Artikel 72 über »Organisierte Beteiligung an besonders gefährlichen Verbrechen gegen den Staat sowie die Beteiligung an antisowjetischen Organisationen« vorgenommen. Die erste große politisch motivierte Verhaftungswelle nach Stalins Tod ereignete sich infolge der von sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagenen ungarischen Revolution im Oktober 1956. In die Lager kamen fast 2 000 Personen, die mit der Volkserhebung sympathisiert hatten. Fast 10 000 der zwischen Anfang der 1960er und Ende der 1980er Jahre inhaftierten politischen Gefangenen – Dissidenten, Menschenrechtler, Schriftsteller und Andersdenkende wie Alexander Solschenizyn, Andrej Sacharow, Wassyl Stus, Arsenij Roginskij, Sergej Kowaljow – verbüßten ihre Haftstrafen in isolierten Lagerkomplexen in der Region Mordwinien und im Gebiet Perm. Erst mit Beginn der Perestroika, dem von Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow Anfang 1986 eingeleiteten Prozess der gesellschaftspolitischen und wirtchaftlichen Modernisierung der UdSSR, begann der endgültige Niedergang des sowjetischen Straflagersystems. 1987 forderte Gorbatschow ganz im Sinne von Glasnost und Perestroika anlässlich seiner Rede zum 70. Jah restag der Oktoberrevolution, nunmehr die »weißen Flecken« in der sowjetischen Geschichte zu beseitigen und sich der bisher tabuisierten Seiten der Sowjetgeschichte und des Stalinismus anzunehmen.
Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre entstand im russischen Teil der Sowjetunion eine oppositionelle Menschenrechtsbewegung. Einen wichtigen Anteil an ihrer Herausbildung hatten die bereits zuvor von 1958 bis 1960 auf dem Moskauer Majakowski-Platz stattfindenden Dichter- lesungen. Die sogenannte Glasnost-Demonstration in Moskau 1965, die Proteste gegen die Inhaftierung der Dichter Andrej Sinjawskij und Julij Daniel 1965 / 66, gegen die Verurteilung von Alexander Ginsburg 1968 oder gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings in der Tschecho- slowakei waren wichtige Wegmarken der Oppositionsbewegung. In den folgenden Jahren enga- gierten sich immer mehr Dissidenten wie Andrej Sacharow, Sergej Kowaljow oder Igor Schafa- rewitsch für die »Chronik der laufenden Ereignisse« als Samisdat-Publikation. Während der 1970er Jahre entstanden in mehreren Sowjetrepubliken sogenannte Helsinki-Gruppen, welche die auf der KSZE-Schlusskonferenz 1975 in Helsinki vereinbarten Menschenrechte einforderten. Im Zuge der Perestroika und der schrittweisen Lockerungen der repressiven sowjetischen Politik weiteten sich diese Aktivitäten stark aus. In vielen Städten entstanden Menschenrechtsgruppen wie Memorial, das Sacharow-Zentrum in Moskau und andere zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich mit seit Jahrzehnten verschwiegenen Themen und insbesondere der Wahrheit über den »Großen Terror« und den GULag und deren Millionen Opfer befassten. In vielen Orten wurden mittlerweile durch lokale Initiativen Denkmäler errichtet, die an die Opfer des Terrors und der Repression erinnern, und Ausstellungen in den Heimatmuseen greifen auch bislang heroisierte oder tabuisierte Themen auf. Dies bezieht sich nicht nur auf das Thema GULag und stalinistische Repression, sondern ebenso auf den Afghanistan-Krieg oder den Krieg in Tschetschenien, wie zum Beispiel das von Afghanistan-Kämpfern in Jekaterinburg betriebene Museum zeigt. Man führte offizielle Gedenktage zur Erinnerung an die Opfer der Repression ein, wie den 5. August, an dem 1937 das Dekret über den »Großen Terror« beschlossen wurde, oder den 31. Oktober als offiziellen und staatlichen Gedenktag für die Opfer der Repression.
Seit dem Machtantritt Wladimir Putins, einem ehemaligen KGB-Offizier, im Jahr 2000 haben sich die Bedingungen für unabhängige historische Aufarbeitung immer weiter verschlechtert. So wurde einerseits die russische Geschichtspolitik weg von den »negativen« Seiten der sowjetischen und russischen Geschichte hin zu den »positiven« Seiten orientiert. Dies führte zur Marginalisierung der stalinistischen Repressionen und einer damit einhergehenden Umdeutung der Verfolgung wie beispielsweise im einzigen GULag-Museum an einem historischen Lagerort, Perm-36. Allerdings ist diese Entwicklung durchaus widersprüchlich, da sich das staatliche GULag-Museum in Moskau, das 2015 eröffnet wurde, der in Perm praktizierten Umdeutung der Lager- und Verfolgungsgeschichte nicht in dieser Form anschließt. Dennoch werden nichtstaatliche Institutionen immer mehr in ihrer Arbeit behindert und bedrängt, sich gemäß dem 2012 verabschiedeten »Gesetz über ausländische Agenten« als solche registrieren zu lassen. Ende 2016 wurde Memorial zum »ausländischen Agenten« erklärt. Ebenfalls 2016 wurde der bekannte Memorial-Aktivist Jurij Dimitriev, der maßgeblich für die Lokalisierung von Massengräbern aus der Stalinzeit in Karelien sorgte, verhaftet. Zeitgleich mit seiner Verhaftung erklärte eine Untersuchung der Universität Petrosawodsk, dass die in Sandormoch aufgefundenen Massengräber nicht von Mordaktionen des NKWD stammen würden, sondern Massengräber seien, in denen durch finnische Truppen getötete Kriegsgefangene liegen würden.
Parallel zur fortgesetzten Einschüchterung und Behinderung von unabhängigen Organisationen wie Memorial wurden staatliche Institutionen wie zum Beispiel 2008 die Stiftung »Istoritscheskaja Pamjat« (»Historische Erinnerung«) gegründet, die für die Verbreitung regierungsoffizieller Geschichtsbilder sorgen sollen. Wie widersprüchlich die russische Politik im Hinblick auf die Erinnerungskultur ist, zeigt sich auch daran, dass am 31. Oktober 2017 auf dem Sacharow-Platz in Moskau ein staatlich finanziertes Denkmal für die Opfer politischer Repressionen, »Die Mauer der Trauer«, errichtet wurde.
Eine Übersicht der Denkmäler zur Erinnerung an die Opfer des stalinistischen Terrors befindet sich im Buch von Anna Kaminsky »Erinnerungsorte an den Massenterror 1937 / 38«, Berlin 2007.