

Auf dem Programm standen der Besuch verschiedener Museen und Erinnerungsorte an den „Weißen Terror“ und Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft, der Politik und den Medien. Bei einem Termin mit dem Kulturminister Taiwans etwa stand die Frage des heutigen Umgangs mit Chiang Kai-shek und insbesondere der Chiang Kai-shek Memorial Hall in Taipei im Fokus. Bei einer Einladung des stellvertretenden Außenministers von Taiwan konnte die Delegation Fragen nach den Herausforderungen im Verhältnis zur Volksrepublik China stellen. Und natürlich beschäftigte die Delegation immer wieder die Frage, wie die Aufarbeitung der Vergangenheit und der Umgang mit diesem historischen Erbe stattfinden kann, wenn die Partei Chiang Kai-sheks, die Kuomintang, nach wie vor existiert und immer wieder auch Regierungsfunktion innehat.
Die Direktorin der Bundesstiftung Aufarbeitung Anna Kaminsky sprach im deutschen Programm von Radio Taiwan International über die Reise, die Erfahrungen der Transitional Justice und künftigen Herausforderungen.
Deutsches Programm von Radio Taiwan International mit Anna Kaminsky (Teil 1)
Deutsches Programm von Radio Taiwan International mit Anna Kaminsky (Teil 2)
In Taiwan herrscht eine einzigartige Konstellation, unter der die Aufarbeitung der Vergangenheit stattfindet. Nicht nur gibt es mehrere Vergangenheiten, die der Aufarbeitung bedürfen —japanische Kolonialzeit (1895-1945), Militärdiktatur (1945-1987/1992/1996); aus Sicht der indigenen Bevölkerung kommt auch noch eine Kolonialvergangenheit hinzu, die vom 17. Jahrhundert bis ins späte 19. reicht —, es gibt von all diesen Vergangenheiten auch verschiedene Narrative, aber keinen wirklich die gesamte Bevölkerung (minus die Ränder) einbindenden Konsens. Es existiert sozusagen kein geeintes Wir, das gemeinsam die Aufarbeitung der Vergangenheit in Angriff nimmt. Auf der Insel Taiwan leben knapp 24 Millionen Menschen, die zwar nolens volens eine Gesellschaft bilden, aber unterschiedliche Vorstellungen davon haben, zu welchem Volk sie gehören. In wessen Namen also soll die Vergangenheit aufgearbeitet werden?
Wenn wir von der KMT-Diktatur sprechen, fällt außerdem auf, dass es kein klar definiertes Ende gibt, kein Äquivalent zu 1945 oder 1989/90, sondern eine schrittweise Transformation mit einem bemerkenswerten Maß an Kontinuität — beispielhaft dafür steht die KMT selbst, die weder verschwunden ist wie die NSDAP, noch sich mehrfach gehäutet und gewandelt hat wie die SED, PDS, Linke. Noch gravierender: Wesentliche staatliche Strukturen, beinahe die gesamte staatliche Struktur der Republik China, wie Taiwan ja offiziell weiterhin heißt, besteht fort.
Das führt zu der bemerkenswerten Situation, dass auch diejenigen, die gegen die KMT-Diktatur gekämpft haben und sie heute kritisch aufarbeiten wollen, zu einer Art fortdauernder postdiktatorischer Kollaboration gezwungen werden. Damit meine ich, sie können sich von der Republik China als ganzer nicht lossagen, oder nur im Namen von etwas — eine Republik Taiwan beispielsweise — das es de facto nicht gibt. Etwas, das folglich auch keine Repräsentanz und keine Symbole hat, keine Fahnen, keine Hymne. Am taiwanischen Nationalismus (verstanden nicht im auftrumpfend chauvinistischen Sinn, sondern im Wortsinn: das Bestehen darauf, dass Taiwan eine Nation ist, dass es eine taiwanische Nation gibt), fällt ja auf, dass er keine nationalen Symbole hat. Wer zu einer Wahlveranstaltung der DPP geht, hört zwar ständig und oft mit pathetischer Emphase das Wort Taiwan (unser Taiwan, unsere taiwanische Heimat usw.), aber statt Fahnen sieht man nur Fähnchen mit dem Namen der Kandidatin oder des Kandidaten.
Die DPP ist in der paradoxen Situation, sich als Regierungspartei in einer Art ideologischen Fundamentalopposition zu dem Staat zu befinden, den sie als Regierungspartei repräsentiert, den zumindest große Teile ihrer Mitgliedschaft aber lieber überwinden und hinter sich lassen wollen. Das geht nicht, und der Grund dafür, warum das nicht geht, verweist auf eine weitere Besonderheit der taiwanischen Situation: Die fortbestehende Bedrohung von außen, von der VR China, die sehr stark und sehr tief ins Innere Taiwans hineinwirkt. Wir Deutsche verbinden mit dem Topos 'Aufarbeitung der Vergangenheit' die Möglichkeit eines Neuanfangs in Freiheit. Das Nazi-Reich und die DDR waren untergegangen, Gestapo und Stasi waren entmachtet, die alten staatlichen Eliten besaßen keine verbindliche Deutungsmacht über die Vergangenheit mehr. In Taiwan gilt das nur zum Teil. Einen gewissen Neuanfang gab es zwar, aber der beinhaltete nicht die Freiheit, sich eine andere staatliche Form zu geben, denn darauf würde die Volksrepublik China mit einem Militärschlag antworten. Dem Namen und der Form nach muss Taiwan China bleiben und damit Teil genau der Nation, die die Bevölkerung der Insel ab 1945 unterdrückt gewaltsam zu Chinesen umerzogen hat — so zumindest sieht es das 'grüne Narrativ', also das der DPP und des ihr nahestehenden Teils der Zivilgesellschaft.
In diesem Sinne muss Taiwan versuchen, eine Vergangenheit aufzuarbeiten, die nicht wirklich vergehen darf. Der Streit über die unvergangene Vergangenheit führt unweigerlich zu einer Entzweiung, die sich das Land angesichts der gegenwärtigen Bedrohung eigentlich gar nicht leisten kann. Was für den inneren Frieden eines Landes unbedingt nötig ist — nämlich die dunklen Punkte der eigenen Vergangenheit zu thematisieren —, ist in Taiwan hinsichtlich des äußeren Friedens durchaus riskant. Denen, die die Verbrechen der KMT aufarbeiten wollen, wird aus dem blauen Lager denn auch oft entgegengehalten, sie seien Agenten der inneren Entzweiung. Darin kehrt auf bemerkenswerte Weise das Argument wieder, mit dem KMT-Apologeten seit jeher die Verbrechen der Vergangenheit rechtfertigen wollen, nämlich: Angesichts der Bedrohung durch die Kommunisten und der Gefahr einer kommunistischen Invasion sei eine gewisse Härte unumgänglich gewesen. Diese Gefahr kehrt unter Xi Jinping mit neuer Dringlichkeit zurück, und deshalb ist die Aufarbeitung der Vergangenheit in Taiwan ein doppelt heikles Geschäft — sie betrifft nicht nur die inneren Verhältnisse, sondern auch das Verhältnis zum großen, feindlichen Nachbarn auf der anderen Seite der Taiwanstraße. Der könnte sich schließlich provoziert fühlen, wenn die Aufarbeitung der Vergangenheit zur Stärkung einer taiwanischen, dezidiert nicht-chinesischen Identität auf der Insel führt.
Abschließend noch zwei Sätze zur Situation der indigenen Bevölkerung Taiwans. Wenn über die Vergangenheit gestritten wird, geht es explizit oder implizit oft darum, wer moralisch im Recht ist. Wer war Opfer, wer war Täter? In Taiwan wird etwa darüber gestritten, ob die DPP die Demokratie erkämpft oder die KMT sie gewährt hat. Als Anwältin der Opfer des Weißen Terrors war die DPP traditionell in der moralisch stärkeren Position, sie vertrat diejenigen, die in Taiwan zu Hause waren, ehe das von außen kommende Regime der KMT sie gleichsam enteignet hat. Aus Sicht der indigenen Bevölkerung (mit einem Anteil von knapp zweieinhalb Prozent eine sehr kleine Minderheit) ist dieses Bild allerdings stark ergänzungsbedürftig. Zuerst nämlich waren sie in Taiwan zu Hause, ehe im 17. und 18. Jahrhundert die aus China kommenden Einwanderer sie zurückgedrängt und enteignet haben. Das grüne Lager tut sich immer noch sehr schwer damit, die eigenen Vorfahren in der kolonialen Täterrolle zu sehen; zum Teil sicherlich deshalb, weil sich dann gegenüber dem blauen Lager die eigene Opferrolle nicht mehr ganz so konsequent behaupten lässt. Das mag einer der Gründe dafür sein, weshalb Taiwans indigene Bevölkerung bis heute mit überwältigender Mehrheit die KMT wählt, der sie eigentlich wenig zu verdanken hat. Immerhin tun diejenigen, die sich kulturell zuerst als Chinesen verstehen, aber nicht so, als seien sie die eigentlichen angestammten Taiwaner.
Aufarbeitung der Vergangenheit ist untrennbar verbunden mit der Formierung und Formulierung einer gegenwärtigen Identität. Am Umgang mit der Vergangenheit in Taiwan lässt sich daher gut studieren, wie sehr das Selbstbild des demokratischen Taiwan ein 'work in progress' ist. Im Streit über die Vergangenheit geht es immer auch um die Frage, was Taiwan heute für eine Gesellschaft ist und sein will. An der Antwort wird gearbeitet.