(Erschienen bei ZEIT ONLINE am 9. November 2022)

Wir freuten und umarmten uns, als wir uns heute Morgen kurz vor der Veranstaltung des Bundespräsidenten im Schloss Bellevue sahen. Seine erste Frage galt meiner Frau, denn neben vielem anderen verband uns in den letzten Jahren die Sorge um unsere Frauen, die mit dem Krebs kämpfen. Sehr offen sprachen wir immer darüber, zu zweit und auch zu viert. Er wusste, was es heißt, im Angesicht des Todes zu leben, dem anderen zur Seite zu stehen – und doch den Lebensmut, ja, auch die Fröhlichkeit nicht zu verlieren. Werner wohnte mit Mona inzwischen, nach seinem Mandat im Europaparlament, ganz im schönen ehemaligen Pfarrhaus in der Uckermark. Von dort war er am Morgen nach Berlin gekommen, um mit über die Frage nachzudenken: Wie erinnern wir den 9. November. Während dieser Veranstaltung ist er – mitten im Leben, das ihn erfüllte – aus dem Leben gerissen worden.

Eine Teilnehmerin, die ihn auch gut kannte, sagte im Anschluss in eine betroffene Runde: „Das ist Werner, an einem solchen Tag zu gehen…“. Ja, dieser 9. November, nun auch noch sein Todestag, hat viel mit dem Leben von Werner Schulz zu tun. Er war dafür gewesen, statt des 3. Oktober den 9. November als Nationalfeiertag zu begehen.

Ich habe heute einen Freund verloren, mit dem mich viel verband. Aber weit mehr: Wir haben einen mutigen und profilierten Streiter für Freiheit und Demokratie verloren. Einen Bürgerrechtler damals in der DDR und dann einen eigenständig denkenden und streitbaren Politiker mit Haltung, der sich für seine Überzeugungen einsetzte, auch da, wo er sich mit anderen rieb und das konnte auch die eigene Partei sein.

Kennengelernt haben wir uns Mitte der 80er Jahre, als er begann, in einem der profiliertesten Friedenskreise Berlins mitzuarbeiten (heute würde man sagen: Oppositionskreise, da das Themenspektrum weit über die Friedensfrage hinausging), dem Friedenskreis Pankow um Ruth und Hans Misselwitz. Im Rückblick sagte er darüber:

"‘Keine Gewalt‘ – das ist ein Grundmotiv des Friedenskreises gewesen und das wäre heute in unserer Gesellschaft nach wie vor eine ganz wichtige Aufgabe. Z.B. die Fragen, wie kann man gewaltlos miteinander leben kann, verschiedene Kulturen, verschiedene Lebensansprüche. Das sind Fragen, warum die Gewalt in der Gesellschaft zunimmt, welche Ursachen das hat, wie man sie eindämmt, das ist ja nicht nur rechtsextremistische Gewalt, das ist strukturelle Gewalt, die man an verschiedenen Stellen erlebt. Die Aufgabe eines solchen Kreises – wie der Pankower es war – ist aktueller denn je, und diese ist nicht unpolitisch."

Werner erzählte von sich, dass sein politisches Erwachen viel mit dem Prager Frühling 1968 zu tun hatte. Wenige Wochen vor dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages in der Tschechoslowakei war er als Jugendlicher für zwei Wochen in Prag – und war fasziniert von der Freiheit und Offenheit dieses „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“. Das „Manifest der 2000 Worte“ – ein von zahlreichen Intellektuellen unterzeichnetes Plädoyer für politische Reformen –begeisterte ihn. Für solch einen (!) Sozialismus wollte er eintreten – doch da dieser nicht möglich war, wuchs die Entfremdung zu Staat und System in der DDR. Für ihn zog sich hier eine Linie bis 1989. Nach seinem Studium verweigerte er den Dienst in der Volksarmee und wurde Bausoldat. Im Herbst 1989 gehörte Werner früh dem Neuen Forum an, er kannte die Initiatoren gut. So vertrat er das Neue Forum dann auch am Zentralen Runden Tisch der DDR, der sich aus Vertretern der neu entstandenen sowie der alten politischen Parteien und Gruppierungen zusammensetzte. Hier arbeitete er in der Verfassungskommission mit. Nach der freien Wahl im März 1990 wurde er Mitglied der Volkskammer und mischte sich aktiv ein in die schwierigen Diskussionsprozesse um die deutsche Einheit, die er wollte, sich aber doch anders vorgestellt hatte – mit mehr Respekt gegenüber den Ostdeutschen.

Eine zentrale Rolle spielte er bei den schwierigen Verhandlungen von „Bündnis 90“ im Vereinigungsprozess mit den Grünen, dann aber besonders bis 1994 als wirkmächtiger Redner im Deutschen Bundestag für die Gruppe von „Bündnis 90“. Damals waren die Grünen nicht im Parlament. Als sie zurückkamen – gab es Konflikte. Joschka Fischer mochte Werner Schulz nicht in führender Funktion, er war ihm zu eigenständig – obwohl er als fulminanter Redner und einer der talentiertesten ostdeutschen Politiker den Grünen ein Profil hätte geben können, das sie dann in den Fragen der Entwicklung in Ostdeutschland und der Gestaltung der deutschen Einheit nie erlangten. Als exzellenter Redner hat Werner nicht nur einmal gegen die von der Führung der Partei der Delegiertenversammlung vorgelegte Liste kandidiert – und gewonnen. So auch bei der Europawahl 2009. Im Europäischen Parlament erwarb er sich über Parteigrenzen hinweg große Achtung – und viele Freunde.

Über viele Jahre war Werner Mitglied im Stiftungsrat der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Schon in der Zeit der demokratischen DDR nach der freien Wahl und dann im Deutschen Bundestag hat er sich für die notwendige Aufarbeitung der Diktatur ausgesprochen und die Rehabilitation und Entschädigung der Opfer. Für ihn gehörte dies zum Aufbau glaubwürdiger demokratischer Strukturen. Hier unterstützte er insbesondere auch die internationalen Aktivitäten der Stiftung.

Viel verband uns im Blick auf die Politik gegenüber Osteuropa. Beide machten wir die Erfahrung, dass die eigene Position oft quer zur Außenpolitik der eigenen Partei stand – und so brauchte es Durchhaltevermögen und einen klaren Blick. Diesen hatte er – und auch den Mut, für die eigenen Positionen zu kämpfen. Die grausame und mörderische Politik des neu gewählten russischen Präsidenten Putin im 2. Tschetschenienkrieg entsetzte uns. So verließ Werner Schulz den Saal, als Putin 2001 seine viel beachtete Rede im Bundestag hielt. Insbesondere dann in den fünf Jahren im Europaparlament engagierte sich Werner Schulz für eine kritische Auseinandersetzung mit Putin und seinem „Kurs der inneren Säuberung und äußeren Expansion“, wie er schon 2014 beschrieb. Vehement trat er für die Solidarität mit der demokratischen Opposition in Russland ein. Viele Jahre war er mit dem schließlich ermordeten russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow befreundet und durch diesen und andere immer gut informiert. Sein Tod hat ihn tief erschüttert – und in seiner Haltung bekräftigt. Schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar trat er offen dafür ein, die Ukraine mit Waffen zu versorgen, damit sie sich wehren kann. Schon 1993 gehörten wir beide in unseren jeweiligen Parteien zu der kleinen Minderheit, die sich für das militärische Eingreifen auch Deutschlands gegen Milosevic einsetzte – und mit der Regierung von Helmut Kohl stimmten. Das hat zu mancher schmerzhaften Auseinandersetzung mit früheren Mitstreitern geführt, die an ihren pazifistischen Positionen festhielten. Werner Schulz stritt für die Menschenrechte weltweit, für eine wehrhafte Demokratie, die sich gegen ihre Feinde verteidigt – im Lande selbst wie international. Dabei stand er dafür ein, die oft schwache Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition zu unterstützen. So wird deutlich: Gerade auch in den gegenwärtigen Herausforderungen werden wir seine Stimme künftig schmerzlich vermissen.

Werner Schulz wurde verschiedentlich geehrt. Zuletzt erhielt er den diesjährigen Deutschen Nationalpreis.

Hier Werner Schulz zu seiner persönlichen Entwicklung in der DDR und mit seiner Haltung angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine:

Mein 1968: Interview mit Werner Schulz für die Bundesstiftung Aufarbeitung

phoenix persönlich mit DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz vom 20. Mai 2022