Seit 1971 wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache [1] in Wiesbaden regelmäßig das Wort des Jahres [2]. Es stellt, einen „sprachlichen Jahresrückblick“ [3] dar, eine Ein-Wort-Zusammenfassung dessen, was „das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres sprachlich in besonderer Weise bestimmt“ [4].

1989 hat einiges im Repertoire, was sich da anböte: Mauerfall, Wendehals, Begrüßungsgeld, Flüchtlingsströme, Montagsdemos, Botschaftsbesetzung, Basisdemokratie, mündiger Bürger usw. Einiges davon schaffte es tatsächlich in die engere Auswahl, Montagsdemonstrationen lag sogar auf Platz 3. Aber zum Wort des Jahres 1989 gekürt wurde: Reisefreiheit.

Über 30 Jahre und viel Erinnerungskosmetik später, hört man zuweilen Unmut, jetzt wäre es mit der Reisefreiheit auch nicht besser, denn früher in der DDR hätte man nicht rausgedurft, heute könne man es sich nicht leisten.

Mir gehen beschönigende und den Fakten nach schlicht falsche „Einschätzungen“ der DDR immer auf die Nerven, aber diese ist ganz besonders perfide. Denn sie zeugt von historischem Unwissen ebenso wie von historischem Unwillen - falls es so etwas gibt.

Zunächst einmal hat Reisefreiheit nur am Rande mit Ferien zu tun. Reisefreiheit ist in erster Linie das Recht des Menschen „jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren“ [5]. So steht es in Artikel 13, Absatz 2 der UN‑Menschenrechtskonvention. Und genau so war es auch 1989 von uns gemeint.

„Visafrei bis Hawai“ [6] war nie der Ruf nach FDGB-Ferien am Waikiki Beach. Hawaii stand im Reim stellvertretend für ein Leben ohne Mauern, geschlossene Grenzen und Selbstschussanlagen. „Visafrei bis Hawai“ hieß jederzeit ungehindert entscheiden zu können, wohin man (warum auch immer) gehen möchte. Einen Pass zu haben. Es ging, wie bei allen Forderungen während der Friedlichen Revolution [7], um die Beendigung staatlicher Bevormundung.

Und dabei genoss die Reisefreiheit durchaus einen besonderen Stellenwert, denn sie nahm der Geiselhaft, die das Volk im Land hielt, die Grundlage. Und ohne jene verloren die DDR-Behörden ihre Macht über uns. Wer sich jederzeit dem Zwang entziehen kann, ist schwer einzuschüchtern. Diese Tatsache mit den finanziell limitierten Möglichkeiten heutiger Urlaubsgestaltung gleichzusetzen, ist abwegig und historisch fahrlässig.

Zudem schwingt in den meisten Klagen über gegenwärtige Missstände, echte oder vermeintliche, im Vergleich zur DDR noch etwas anderes mit: Nostalgie. Dabei werden diejenigen ehemaligen DDR-Bürger, die sich vor lauter Unzufriedenheit und Kurzsichtigkeit (häufig bedingt beides sich ja gegenseitig) allen Ernstes zurücksehnen in die DDR, doch nicht vergessen haben, wie aufwendig und demütigend es war, in der DDR seinen Urlaub zu organisieren…

Nicht mal innerhalb des Landes konnte man selbst entscheiden, wohin man fuhr. Die Hotels waren nicht vorgesehen für DDR-Bürger, freie Pensionen gab es quasi nicht, Urlaubsplatz-Zuteilung [8] erfolgte nach üblichen Kriterien durch den FDGB oder betrieblichen Ferienkommissionen [9]. Auch das staatliche DDR-Reisebüro erfüllte nur selten Wünsche [10] (und wenn, war immer die Stasi dabei [11]).

Selbst der beliebte Camping-Urlaub war spontan meist unmöglich: zuerst musste ein Zeltschein beantragt werden, der, wenn alles gut lief, auch zugeteilt wurde. Und was immer blieb war das Versorgungsproblem in den Ferienhochburgen. Das betraf nicht nur Lebensmittel. Bis zum Schluss bekam die DDR den Nachschub nicht in den Griff. Manchmal fehlten im Sommer wochenlang die einfachsten Dinge wie Kerzen, Streichhölzer oder Klopapier.

Und trotzdem war es immer toll. Weil man die Lücken im System gefunden hat, weil es zu viert im Doppelbett manchmal viel lustiger ist, weil man das Neue Deutschland nicht nur zum Lesen benutzen konnte, weil Not erfinderisch macht oder ganz einfach, weil man nachts am Ostseestrand den Grenzpatrouillen entwischt ist.

Wir hatten schöne Ferien, weil wir schöne Ferien haben wollten. Wo ein Wille ist, da ist auch Freude. Und diese Fähigkeit hängt nun wirklich nicht davon ab, wie viel Geld man hat.

Reisefreiheit sichert niemandem ein Zimmer in einem Luxushotel, es sichert einem die Möglichkeit, ein freier Mensch zu sein. Und das ist unbezahlbar.

 

Dieser Artikel stellt die Meinung der Autorin dar und spiegelt nicht grundsätzlich die Meinung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.


[3] ebenda

[4] ebenda

[6] Hawaii wurde in der DDR nur mit einem i am Ende geschrieben. Entsprechend stand es auch so auf den Plakaten bei den Demonstrationen von 1989. Deshalb wird hier nur im Text die heute gültige Rechtschreibung angewendet, das Zitat aber im Original belassen.

Filme, Literatur, Webportale

Materialien

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