Aufbau des Sozialismus

Im Sommer 1952 fragen sich selbst wohlmeinende Zeitgenossen, ob die SED-Führung von allen guten Geistern verlassen ist. Begleitet von einem gewaltigen Propagandagetöse eröffnet sie einen Feldzug gegen nahezu alle sozialen Schichten und Gruppen der DDR-Gesellschaft. Den Auftakt bildet die 2. Parteikonferenz der SED vom 9. bis 12. Juli 1952. Dort verkündet Ulbricht den »planmäßigen Aufbau« des Sozialismus. In den folgenden elf Monaten macht die SED jeden politischen Fehler, den man nur machen kann. Obwohl 1945 feierlich gelobt worden war, nie wieder solle ein Deutscher eine Waffe anfassen, wird der Aufbau der Streitkräfte vorangetrieben. Jugendliche sollen im Rahmen eines »Dienstes für Deutschland« Arbeitsdienst leisten. Die FDJ-Zeitung »Junge Welt« startet eine Hetzkampagne gegen die »Junge Gemeinde«. Christliche Schüler und Studenten werden von den höheren Lehranstalten der DDR gewiesen. Die Bauern sollen das Land, das sie erst 1945 durch die Bodenreform bekommen hatten, in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) einbringen. Den Handwerkern und Gewerbetreibenden werden durch Steuergesetze die Daumenschrauben angesetzt. Zudem wird ihnen die Lebensmittelkarte gestrichen. Schon kleinere Vergehen werden mit Zuchthausstrafen geahndet. Zugunsten der Schwerindustrie wird die Konsumgüterproduktion gedrosselt. In den ersten Monaten des Jahres 1953 gewinnt der Klassenkampf von oben immer mehr an Schärfe. Die Preise für Kunsthonig und Marmelade werden angehoben. Butter und Wurst gibt es ohnehin kaum noch. Dafür soll mehr gearbeitet werden. Eine allgemeine Normerhöhung wird angekündigt. Wut und Verbitterung steigen bedrohlich an und in den Betrieben regt sich zunehmend
Widerstand.

Das Herz des großen Stalin hat aufgehört zu schlagen

Das schnauzbärtige Antlitz Josef Stalins ist in der frühen DDR allgegenwärtig. Ehrfürchtig studieren Schüler und Studenten seine Schriften. In keinem Referat darf ein Stalin-Zitat fehlen. Wenn sein Name genannt wird, stehen alle auf und klatschen, bis die Hände weh tun. Keine Huldigung ist zu weit hergeholt, wenn es gilt, den »weisen Vater der Völker« zu rühmen. Dabei hat schon damals jeder die Wahrheit wissen können. Stalins Aufstieg zur absoluten Macht war von Leichenbergen gesäumt. Er schlachtete im »Großen Terror« der 1930er Jahre die alte Garde der Revolutionäre ab, terrorisierte die Bevölkerung, dezimierte das sowjetische Offizierskorps und stürzte durch die Kollektivierung der Landwirtschaft das Land in eine Hungersnot, die Millionen Opfer forderte. Ganze Bevölkerungsschichten und Völker ließ er deportieren. Nach dem großen Sieg über Hitlerdeutschland werden die Verhältnisse nicht besser. Neue Verfolgungswellen spülen Sträflinge in die sowjetischen Lager. Im Januar 1953 werden die Kremlärzte verhaftet. Unter Folter gestehen sie ihre angebliche Absicht, Stalin zu ermorden. Viele der Ärzte sind Juden. Sollen sie die nächsten Opfer des Vernichtungswahns werden? Doch am 5. März 1953 ereilt den Diktator auf seiner Datsche bei Moskau ein Schlaganfall. »Das Herz des großen Stalin hat aufgehört zu schlagen«, meldet Radio Moskau. In der DDR steigert sich nach Stalins Tod der Personenkult zur Vergöttlichung. Die erste sozialistische Stadt erhält am 1. Mai 1953 den Namen Stalinstadt. Die Ideologiezentrale der SED nennt sich nun Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut. Doch hinter den Kulissen verbreitet sich Unsicherheit. Wer wird sich in den Nachfolgekämpfen durchsetzen? Und wie werden sich die neuen Herrscher im Kreml zur DDR und zur Frage der Wiedervereinigung verhalten?

Der Neue Kurs

In den ersten Junitagen 1953 zieht die neue Sowjetführung energisch die Notbremse. Die katastrophale Lage in der DDR schadet massiv der sowjetischen Deutschlandpolitik, die neuerlich mit einer gesamtdeutschen Neutralität liebäugelt. Walter Ulbricht, Otto Grotewohl und Fred Oelßner werden nach Moskau zitiert. Ihnen werden Machtmissbrauch, Fehler und schlechte Planung vorgeworfen. Hätte ein DDR-Bürger diese Kritik geäußert, wäre er für Jahre hinter Gittern verschwunden. Doch in Moskau stehen die allmächtigen Männer der SED wie ungezogene Schulbuben vor dem sowjetischen Politbüro. Mit einem Memorandum »Über die Gesundung der politischen Lage« in der Tasche machen sie sich auf den Heimweg. Unter der persönlichen Aufsicht des Moskauer Statthalters in Ost-Berlin, Wladimir Semjonow, arbeitet das Politbüro den »Neuen Kurs« aus, der am 11. Juni 1953 im »Neuen Deutschland« verkündet wird. Die Veröffentlichung hat die Wirkung einer Vollbremsung bei rasender Fahrt. Die Partei, die »immer recht hat«, räumt plötzlich schwere Versäumnisse ein. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wird beendet. Gewerbetreibende sollen wieder Lebensmittelmarken bekommen wie alle Bürger. Hinausgeworfene christliche Schüler und Studenten müssen von den Lehranstalten wieder aufgenommen werden. Die Entlassung von zu Unrecht Eingesperrten wird angekündigt. Das hört sich gut an, doch wer soll dieser Partei nach Jahren der Lügen noch glauben? Zudem fehlt in allen Ankündigungen ein wichtiger Punkt: Die Frage der Arbeitsnormen. Für das gleiche Geld sollen die Werktätigen erheblich mehr leisten. Die Unruhe in den Betrieben nimmt weiter zu.

Brigadeausflug

Dampferfahrten über die Berliner Seen gehören seit jeher zu den beliebtesten Vergnügungen der einfachen Leute in Berlin. Eine Dampferkarte kostet in den fünfziger Jahren 50 Pfennig, für Kinder die Hälfte. Die von der SED am Gängelband geführten Gewerkschaften haben ihren Mitgliedern nicht viel zu bieten. So veranstalten sie in vielen Betrieben alljährlich eine solche Dampferfahrt mit den Kollegen und deren Familien. Auch die Gewerkschaftsleitung des VEB Industriebau mietet im Mai 1953 bei der Weißen Flotte zwei Dampfer an. Insgesamt werden von jedem Teilnehmer drei Mark für die Fahrt einschließlich Speisen und Getränken kassiert. Dazu gibt es einen Zuschuss der Gewerkschaft in Höhe von 1050 DM, die mit weiteren 350 DM auch eine kleine Kapelle mit einem Akkordeonspieler bezahlt. Um 7:30 Uhr geht es am Samstag, dem 13. Juni 1953, bei strahlendem Frühsommerwetter von der zentralen Anlegestelle an der Jannowitzbrücke los. Die etwa 500 bis 600 Werktätigen, teils mit Frauen und Kindern, verteilen sich auf die beiden Motorschiffe »Seid bereit!« und »Triumph«. Die Schiffe fahren bis zur HO-Gaststätte »Rübezahl« am Großen Müggelsee. Am Nachmittag wird an einigen Tischen heftig über die Normen diskutiert. Zu fortgeschrittener Stunde steigt ein Maurerbrigadier auf den Tisch und verkündet lautstark: »Kollegen, wir gehen am Montag um sieben Uhr nicht aus den Baubuden. Wir streiken!« Alle, die es nicht mitbekommen haben, hören auf der Heimfahrt von dem Vorfall. Das Wort Streik ist öffentlich gefallen. Der Stein ist ins Wasser geworfen und zieht von nun an immer weitere Kreise.

Der Zug der Bauarbeiter

Am Montagmorgen des 15. Juni 1953 schreiben die Arbeiter der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain einen Brief an DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl. Entweder werde die Normerhöhung bis zum nächsten Tag zurückgenommen oder die Bauarbeiter würden in den Streik treten. Zwei Abgeordnete der Arbeiter machen sich mit einem Baufahrzeug zum Regierungssitz auf. Dort übergeben sie den Brief an Mitarbeiter Grotewohls. Am Morgen des 16. Juni 1953 kommt der Vorsitzende des Zentralvorstandes der IG Bau-Holz begleitet von 15 Instrukteuren zur Baustelle und erklärt, am Beschluss des DDR-Ministerrates zur Normerhöhung sei nicht zu rütteln. Als sich der Unmut der Arbeiter lautstark Luft macht, versuchen die Verantwortlichen, die Tore der Baustelle zu schließen. Als dies auf der unweit entfernten Baustelle Stalinallee Block 40 bekannt wird, formiert sich ein Protestzug, um die Kollegen zu befreien. An der Spitze wird ein Plakat getragen mit der Aufschrift »Wir Bauarbeiter fordern Normsenkung«. Derweil bildet sich an der Stalinallee ein weiterer Demonstrationszug von ungefähr 2000 Arbeitern, die über die Leipziger Straße zum Sitz der DDR-Regierung marschieren. Die Arbeiter rufen im Sprechchor: »Kollegen, reiht euch ein! Wir wollen freie Menschen sein!« Tausende Berliner schließen sich der Demonstration an. Vor dem Regierungsgebäude fordern die Demonstranten, Ulbricht oder Grotewohl zu sprechen. Untergeordnete Funktionäre werden niedergeschrien. Schließlich steigt ein Bauarbeiter auf das Podium und ruft zum Generalstreik auf. Am Abend berichten die westlichen Sender über die Vorgänge im Ostsektor. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht von den Streiks in der ganzen DDR. Die Lawine ist nicht mehr aufzuhalten.

Der Himmel über Berlin

Der Himmel über Berlin ist an jenem 17. Juni 1953 grau verhangen. Am Vormittag ist es gewitterschwül. Im Laufe des Tages gehen mehrfach heftige Regengüsse nieder und durchnässen Freund und Feind bis auf die Haut. Danach wird es kühl und windig. Doch es gibt auch schwerer wiegende Gründe, den Heimweg anzutreten. Als die sowjetischen Panzer gegen 11:30 Uhr ins Stadtzentrum von Berlin rollen, befindet sich dort eine unüberschaubare Menschenmenge. Vergeblich fordern sowjetische Offiziere die Menschen dazu auf, sich zu zerstreuen. Schließlich feuern die Soldaten Warnschüsse ab. Die Auseinandersetzungen werden zunehmend aggressiver. Es gibt mehrere Tote. Gruppen von Jugendlichen beginnen zu randalieren. Das Columbushaus am Potsdamer Platz geht in Flammen auf und schwarze Rauchwolken liegen nun über Berlin. Vor der Humboldt-Universität kommt ein Demonstrant unter die Panzerketten. Provisorisch wird an der Stelle ein Holzkreuz errichtet. Auf dem Potsdamer Platz und in der Leipziger Straße spitzt sich die Situation dramatisch zu. Junge Leute werfen Steine auf die Panzer und versuchen, mit Stangen und Brettern die Fahrzeuge zum Stehen zu bringen. Doch mit bloßen Händen lassen sich keine Panzer aufhalten. Die Sowjetarmee drängt die in ihrer großen Mehrheit friedlichen Demonstranten zurück und sperrt die Sektorengrenze. Als sich die Dunkelheit über das Stadtzentrum senkt, breitet sich in den Straßen Friedhofsruhe aus. Es herrscht Ausgangssperre. Wer sich nun noch blicken lässt, riskiert die Verhaftung. Russische Soldaten zünden wie im Krieg im Freien Biwakfeuer an und richten sich für die Nacht ein. Der Tag, der so hoffnungsvoll begonnen hat, endet als Tragödie.

»Wenn dein starker Arm es will …«

Die Industrie- und Handelsstadt Halle an der Saale ist seit dem 19. Jahrhundert ein Zentrum der Arbeiterbewegung. Die Arbeiter der Großbetriebe sind gut organisiert und selbstbewusst. Sie haben die Verszeile aus dem Bundeslied von Georg Herwegh verinnerlicht: »Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still.« Der Verlauf der Ereignisse in Halle zeigt, wie sehr der Juniaufstand 1953 in der Tradition der Arbeiterbewegung steht. Das Rückgrat der Bewegung in Halle sind die Arbeiter des Lokomotiv-und Waggonbaus Ammendorf (LOWA). Auf dem Weg zur Frühschicht am 17. Juni werden die Rundfunkmeldungen über die Streiks in Berlin heftig diskutiert. Gegen 8:30 Uhr versammeln sich 2 000 Werktätige vor dem Verwaltungsgebäude. Es wird gerufen: »Arbeiter, ergreift die Macht! Tretet in den Streik.« Ein junger Arbeiter ruft unter großem Jubel dazu auf, ins Stadtzentrum zu ziehen. Die Waggonbauer marschieren die etwa zehn Kilometer in die Innenstadt. Dort eskaliert die Situation. Ein Gefängnis und die SED-Zentrale werden gestürmt. Um 18:00 Uhr versammelt sich eine riesige Menschenmenge auf dem Hallmarkt. Es ist wohl die größte Kundgebung dieser dramatischen Junitage in der ganzen DDR. Auf der Versammlung stellt sich ein Zentrales Streikkomitee vor. Die Sowjetpanzer stehen zunächst am Rand oder fahren im Schritttempo durch die Menge, so dass die Menschen ausweichen können. Die Situation scheint unentschieden. Doch als die Menge auseinandergeht, beginnen am Abend die Verhaftungen. Am Morgen des 18. Juni gleicht Halle einer belagerten Stadt. In vielen Betrieben wird noch gestreikt. Aber vor den Betriebstoren stehen Sowjets und Soldaten der Kasernierten Volkspolizei, die jeden Streikenden mit Verhaftung bedrohen. Gegen diese Gewalt ist kein offener Widerstand mehr möglich.

Von der Arbeiterrevolte zum Volksaufstand

Von zahlreichen Städten wird berichtet, dass sich nach der ersten Begeisterung am Vormittag des 17. Juni die Massendemonstrationen in kleine Gruppen aufsplittern. Es fehlt die Organisation, eine einheitliche Leitung und ein konkretes Ziel. Anders verlaufen die Ereignisse in Görlitz, ganz im Osten der DDR an der Grenze zu Polen. Auch hier geben die Arbeiter des Waggonbaus das Zeichen zum Aufstand. Andere Betriebe schließen sich an. Das überbetriebliche Streikkomitee gibt über den Stadtfunk die Bildung eines zwanzigköpfigen Komitees bekannt, das in Görlitz die Macht übernimmt. Aus der Arbeiterrevolte ist innerhalb weniger Stunden ein Volksaufstand geworden. Eine Bürgerwehr mit weißen Armbinden verhindert Plünderungen und Übergriffe. Die SED-Kreisleitung, die Stasi-Zentrale und das Gefängnis werden besetzt, die politischen Gefangenen befreit. Um 15:00 Uhr sammelt sich eine Menschenmenge auf dem Obermarkt, der damals Leninplatz heißt. Einer der Redner erklärt, er sei seit 1904 Mitglied der SPD und würde nun nach 1918 und 1945 die dritte Revolution erleben. »… das ist die größte Freude meines Lebens«, sagt er, »dass ich diesen Tag erleben durfte … Es lebe die Juni-Revolution von 1953.« Der Redner, der 1946 in die SED übernommen worden war, kündigt die Neukonstituierung der SPD in Görlitz an. Gegen 18:00 Uhr rücken sowjetische Kampfeinheiten in die Stadt ein und beenden die Sitzung des demokratischen Stadtkomitees. Einigen Mitgliedern gelingt die Flucht, andere kommen für Jahre hinter Gitter.

Streikforderungen

Was treibt die Menschen am 17. Juni 1953 dazu, die Arbeit niederzulegen, auf die Straße zu gehen und dabei teilweise sehr hohe Risiken in Kauf zu nehmen? Geht es um die Normen und HO-Preise oder um grundsätzliche politische Forderungen? Die wenigen Stunden der Freiheit lassen keine Zeit für lange Debatten. Doch werden in Tausenden von Betriebsversammlungen, in Streikkomitees und in Reden Forderungen formuliert, die ein recht einheitliches Bild bieten. Als Beispiel mag die Chemiearbeiterstadt Bitterfeld dienen. Die Belegschaften der nahe gelegenen Agfa-Filmfabrik und des Farbenwerkes Wolfen ziehen am Vormittag in die Stadt. Dort vereinigen sie sich mit den Mitarbeitern des Elektrochemischen Kombinats zu einer Massendemonstration von über 50 000 Teilnehmern, weit mehr als Bitterfeld Einwohner zählt. Ein Lehrer, Mitglied der überbetrieblichen Streikleitung, verliest ein Telegramm an die Regierung der DDR, das tatsächlich auch abgeschickt wird. An der Spitze stehen eindeutig politische Forderungen: Abschaffung des SED-Regimes und freie Wahlen. Häufig werden auch die Aufhebung der Zonengrenze oder wie hier in Bitterfeld der freie Reiseverkehr zwischen den Zonen verlangt. Die traditionellen gewerkschaftlichen Forderungen nach besseren Arbeitsund Lebensbedingungen sind dem untergeordnet. Die Normenfrage ist am 15. und 16. Juni in Berlin ganz sicher der Funke, der das Pulverfass explodieren lässt. Als aber die Massen in Jena, Leipzig, Magdeburg, Gera und weiteren rund 700 Städten und Ortschaften der DDR auf der Straße sind, geht es längst um viel mehr. Die Forderung nach freien Wahlen steht ganz oben – und daran, dass solche Wahlen für die SED schlecht ausgehen würden, hat an diesem Tag niemand einen Zweifel.

Unruhe auf dem Dorf

Nach der 2. Parteikonferenz der SED im Sommer 1952 beginnt auch auf dem Land der verschärfte Klassenkampf. Agitationstrupps fahren in die Dörfer, um die Bauern in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) zu nötigen. Der Druck wird so stark, dass immer mehr Bauern in den Westen flüchten. 50 bis 70 Höfe werden täglich herrenlos. Auf den Feldern verfault die Ernte, in den Ställen brüllt das Vieh, das nicht mehr gemolken wird. In den Städten stehen die Hausfrauen oft stundenlang vor den Lebensmittelläden. »Es muss weit gekommen sein«, schreibt die Führung der Evangelischen Kirche (EKD) in einem Bittbrief an die DDR-Regierung, »wenn der Bauer Haus und Hof … verlässt, um in eine ungewisse Zukunft zu gehen. … Seid menschlich und barmherzig! Seht die Not, die zu einer Katastrophe von größtem Ausmaß zu führen droht!« Solche Mahnungen stoßen auf taube Ohren. Sie sind für die SED nur ein neuerlicher Beweis für das reaktionäre Bündnis zwischen Kirche und Großbauern. Als am 11. Juni 1953 der »Neue Kurs« verkündet wird, entlädt sich die Verbitterung der Landbevölkerung. In stürmischen Versammlungen fordert sie die Senkung der drückenden Ablieferungspflichten sowie die Freilassung von Bauern, die wegen Nichterfüllung des Solls oder angeblicher Schädigung des Volkseigentums im Gefängnis sitzen. Auch in dem Landstädtchen Jessen unweit von Wittenberg sind erst einige Tage zuvor Bauern verhaftet worden. Am frühen Morgen des 17. Juni sammeln sich Bauern vor dem Gefängnis. Die Behörden geben nach und entlassen 30 Gefangene, die unter großem Jubel empfangen werden. Doch dann rücken sowjetische Soldaten in Jessen ein und treiben die Menschen auseinander. Noch in der folgenden Nacht beginnen die Verhaftungen von angeblichen Rädelsführern.

Verhaftet, erschossen, eingesperrt

Die sowjetische Besatzungsmacht setzt nach dem Aufstand auf Einschüchterung durch massive Militärpräsenz. Dazu gehören auch standrechtliche Erschießungen. Zur Abschreckung werden Plakate in deutscher Sprache mit den Namen der Erschossenen ausgehängt. Aufsehen erregt insbesondere der Fall Willy Göttling, der sich am 17. Juni aus Neugier in den Sowjetsektor begibt, dort den Russen in die Hände fällt und standrechtlich erschossen wird. Auch die Sicherheitsorgane der SED wittern wieder Morgenluft. In der Nacht vom 17. zum 18. Juni beginnt der Rachefeldzug des MfS. Bis zum 6. Juli 1953 nehmen Stasi und Volkspolizei etwa 10 000 Personen fest. Die Besatzungsbehörden verhaften weitere 2000 Menschen. Man schätzt, dass es etwa 15 000 Festnahmen gegeben hat. Dabei lässt die bis 1968 gültige Verfassung der DDR Streiks ausdrücklich zu. Selbst der DDR-Justizminister Max Fechner, Mitglied der SED und vormaliger Sozialdemokrat, erklärt in einem Interview im »Neuen Deutschland« vom 30. Juni 1953, dass Mitglieder von Streikkomitees nicht verurteilt werden können, wenn ihnen nicht konkrete Verbrechen nachgewiesen werden. Seine eigene Parteiführung reagiert prompt. Fechner wird des Amtes enthoben, verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch die Prozesse gegen Aktivisten der Aufstandsbewegung gehen weiter. Insgesamt kommt es bis 1955 zu 1800 politischen Urteilen im Zusammenhang mit dem Juniaufstand. Trotz aller Bemühungen gelingt es der SED-Justiz nicht, »Drahtzieher« und »Organisatoren« des Aufstandes dingfest zu machen. Dies hatte einen einfachen Grund: Es gab solche Hintermänner nicht. Die Volksmassen, auf die sich die marxistisch-leninistische Theorie so gern berief, waren in diesem Fall wirklich die alleinigen Träger der Streiks und Demonstrationen.

Ein faschistischer Putsch?

Es dauert keine zwei Tage, bis die SED-Führung die Schuldigen an den Massenstreiks und Demonstrationen gefunden hat. Am 19. Juni 1953 behauptet das »Neue Deutschland«, bei den Unruhen habe es sich um »eine faschistische Provokation ausländischer Agenten« gehandelt. »In Westdeutschland saßen und sitzen die amerikanischen Agenten, die auf Anweisung von Washington die Pläne für Krieg und Bürgerkrieg ausarbeiten …«. Die Gerichte haben nun zu beweisen, dass der Aufruhr vom Westen organisiert worden ist. Auch müssen ehemalige Nazis herbeigeschafft werden, um die Behauptung vom »faschistischen Putsch« zu belegen. Gegen eine Frau namens Erna Dorn wird ein Schauprozess inszeniert, der allein auf ihren eigenen wirren Selbstbezichtigungen beruht. Sie behauptet, zur SS-Mannschaft im Frauen-KZ Ravensbrück gehört zu haben, obwohl weder sie noch ihr angeblicher Mann in den Unterlagen der SS auftauchen. Während des Prozesses wird sie sogar zur SS-Kommandeuse stilisiert. Am 17. Juni hätte sie nach der Befreiung aus dem Gefängnis in Halle angeblich an der Spitze des Aufstandes gestanden. Auch dies ist frei erfunden. Erna Dorn wird zum Tode verurteilt und durch das Fallbeil hingerichtet. Dass die Verschwörung von Agenten und Nazis eine propagandistische Fiktion ist, weiß man nirgends besser als im Stasi-Hauptquartier. Der spätere Stasi-Chef Erich Mielke wird in einem internen Protokoll von 1953 mit der Äußerung zitiert: »Wir haben einige tausend Menschen verhört und haben nicht die Linie gefunden, d. h., den Ausgangspunkt der faschistischen Provokation. Wir haben das nicht fertiggebracht.« Trotzdem verbreiten DDR-Historiker bis zuletzt die absurde These, der Volksaufstand sei ein faschistischer oder konterrevolutionärer Putschversuch gewesen.

Der Klassenfeind ist überall

Eine besondere Zielscheibe der Ostpropaganda ist der RIAS. Der amerikanische Sender in West-Berlin ist neben anderen Funkanstalten der Stachel im Fleisch der SED-Diktatur. Nach dem 17. Juni stilisiert die SED-Propaganda den RIAS zur Feindzentrale, die den Aufstand gezielt vorbereitet und propagiert hat. Tatsächlich taucht bereits am Nachmittag des 16. Juni 1953 eine Arbeiterdelegation aus Ost-Berlin im Sendehaus in Schöneberg auf. Sie fordert, dass der RIAS die Losung zum Generalstreik durchgibt. Die anwesenden Redakteure wollen diese Verantwortung nicht übernehmen. Doch der RIAS meldet stündlich, was im Ostsektor vor sich geht. Dazu laufen teilweise mehrfach drei Kommentare und Aufrufe mit eher abwiegelnder Tendenz. Das Wort Generalstreik kommt darin nicht vor. »Der RIAS war, ohne es zu wissen und es zu wollen, zum Katalysator des Aufstands geworden«, schreibt Jahrzehnte später Egon Bahr, der 1953 als RIAS-Chefredakteur die Ereignisse verfolgte. Tatsächlich hätte der Volksaufstand ohne die westlichen Rundfunkmeldungen in dieser Form nicht stattgefunden. Der RIAS war jedoch keineswegs der Initiator der Erhebung, wie es die SED-Legenden behaupteten. Der Sender gab den Arbeitern lediglich jene landesweite Öffentlichkeit, die ihnen der DDR-Rundfunk verweigerte. Die zweite notorische Legende rankt sich um das Ostbüro der SPD. Dieses verfügt 1953 in der DDR zwar noch über ein Netz sozialdemokratischer Verbindungsleute. Doch niemandem von ihnen wäre es vor dem 16. Juni 1953 im Traum eingefallen, einen Streik oder eine Demonstration organisieren zu wollen. Trotzdem werden während der Ereignisse oft Mitarbeiter, die im Betrieb als frühere SPD-Leute bekannt waren, in die Streikkomitees gewählt oder sie formulieren die Forderungskataloge. So richten sich der Hass und die Wut der SED nach dem 17. Juni gegen den »Sozialdemokratismus«. Hunderte SPD-Leute sitzen als »Agenten des Ostbüros« in den Haftanstalten der DDR.

Neuer Wein in alten Schläuchen

War der 17. Juni 1953 für die Aufständischen ein Erfolg oder eine Niederlage? Nach einigen Tagen herrscht wieder Ruhe im Land. Der Ausnahmezustand wird schrittweise aufgehoben, die Sektorengrenze in Berlin wieder geöffnet. Hier und da flackern im Juli 1953 noch einmal Streikaktionen auf, so zum Beispiel in den Leuna-Werken im mitteldeutschen Chemiebezirk. Doch die SED und Walter Ulbricht als ihr Generalsekretär sitzen wieder fest im Sattel. Allerdings ist das sozialistische System in seinen moralischen Grundfesten erschüttert. Davon sollte es sich nie wieder erholen. Immer mehr Menschen sagen sich: Der Klügere gibt nach. Wenn die Regierung nicht geht, gehen wir. Täglich verlassen Hunderte Menschen die DDR in Richtung Westen. Als am 13. August 1961 der Mauerbau die Fluchtbewegung stoppt, sind es fast 2,7 Millionen DDR-Bürger, die seit 1949 ihre Heimat verlassen haben. Trotzdem war es nicht so, dass die SED aus der Katastrophe vom 17. Juni nichts gelernt hätte. Sie verfolgt nun eine Doppelstrategie von Zuckerbrot und Peitsche. Sie organisiert in den Betrieben bewaffnete Kampfgruppen, die unmittelbar der SED unterstehen. Auch der Spitzelapparat der Stasi wird massiv ausgebaut. Nie wieder will die Führung von den Ereignissen überrascht werden wie im Juni 1953. Parallel zum Ausbau des Machtapparates lockert die SED in der Kulturpolitik vorsichtig die Daumenschrauben. Auch frontale Angriffe gegen die Kirche unterlässt sie künftig und setzt auf eine langfristige Strategie der Benachteiligung von Christen in Ausbildung und Beruf. Vor allem vermeidet es die SED, die Arbeiter der Großbetriebe durch massive Verschlechterungen ohne Not zu reizen. Ab 1971 versucht die Honecker-Führung durch eine Politik der Sozialgeschenke, ihre Macht zu stabilisieren. Der Aufstand vom 17. Juni schwebt bis zum Ende der DDR im Herbst 1989 wie eine stille Drohung über jeder Maßnahme der SED-Führung.

Ein Bierchen auf den »Siebzehnten«

Der 17. Juni 1953 bleibt in der DDR das Tabu-Thema Nummer eins. In den Geschichtsbüchern stehen ein paar hölzerne Floskeln, die weniger als nichts besagen: Feindliche Agenten hätten angeblich einen faschistischen Putschversuch organisiert. Dabei sei es ihnen gelungen, unter Ausnutzung zeitweiliger Schwierigkeiten einige Werktätige zu Arbeitsniederlegungen zu verleiten. Das ist alles. Wer in der Schule oder an der Universität mehr wissen will, macht sich politisch verdächtig. Auch in den Westmedien ist im Zeitalter der Entspannungspolitik vom 17. Juni 1953 kaum noch die Rede. Ein Tarifkonflikt – was soll sonst noch gewesen sein? Der »Tag der deutschen Einheit« wird in den 1980er Jahren von Vielen zunehmend als unzeitgemäß empfunden. Vor allem die Gewerkschaft verteidigt den arbeitsfreien Tag. Trotzdem oder gerade deswegen ist in der DDR das Thema immer präsent. Abends in der Kneipe erzählen die älteren Kollegen den Lehrlingen von jenem Tag, als man es »denen da oben« tüchtig gezeigt hatte, als die Bonzen ihr Parteiabzeichen vom Revers genommen und in die Tasche gesteckt hatten, die Belegschaft bis zum letzten Mann streikte und in die Innenstadt zog. Dann senken sich die Stimmen und es wird von diesem oder jenem Kollegen erzählt, der nach »dem Siebzehnten« im Knast gesessen hatte. Wenn dann einer knurrt: »Eines Tages wird es wieder rappeln im Karton«, wiegen die anderen bedenklich die Köpfe und schauen, wer am Nebentisch sitzt. Lieber bestellt man noch eine Lage Bier und hebt einen auf die »führende Rolle der Arbeiterklasse«. So werden die dramatischen Tage des Jahres »Dreiundfuffzig« zur Legende. Eine tolle Story – aber unendlich weit von der Alltagswirklichkeit der siebziger oder achtziger Jahre entfernt.

Sehnsucht nach Freiheit

Drei Jahre nach dem Juniaufstand stürzt das sowjetische Machtsystem erneut in eine tiefe Krise. Die sowjetische Führung rechnet im Februar 1956 auf dem XX. Parteitag mit der stalinistischen Vergangenheit ab. Das ist vielen Menschen im Ostblock nicht genug. Sie fordern, dass die großen Versprechungen des Sozialismus endlich eingelöst werden. In Polen verhindert im Oktober 1956 nur die Ankündigung eines grundsätzlichen Wandels die offene Rebellion. Gleichzeitig spitzt sich die Situation in Ungarn zu. Es kommt zum Volksaufstand, den die Sowjetarmee blutig niederschlägt. Zwölf Jahre später versucht die Tschechoslowakei einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu verwirklichen. Am 21. August 1968 beenden die Panzerdivisionen des Warschauer Pakts diesen hoffnungsvollen Neubeginn. In den Jahren 1980/81 entwickelt sich in Polen die machtvolle Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Auch die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 bringt das Land nicht zur Ruhe, zumal die wirtschaftliche Lage katastrophal ist. In Moskau sind seit 1985 die Reformkräfte unter Gorbatschow an der Macht. Sie starten den Versuch, den Sozialismus zu retten. Auch wenn der Versuch scheitert, so macht er doch für Osteuropa den Weg aus der sowjetischen Umklammerung frei. Als im Herbst 1989 in der DDR Zehntausende Menschen auf die Straße gehen, fühlen sich manche an den Juni 1953 erinnert, doch die Verhältnisse haben sich gründlich gewandelt. Die Sowjetpanzer bleiben in den Kasernen. Ohne diese Rückendeckung wagt es die SED-Führung nicht, zu militärischer Gewalt zu greifen. Trotz aller Unterschiede hat sich 1989/90 erfüllt, wofür die Menschen in der DDR 1953 auf die Straße gegangen sind: die deutsche Einheit in Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand.

Erinnerung als Auftrag

Bereits am 3. Juli 1953 beschloss der Deutsche Bundestag, den 17. Juni fortan als »Tag der deutschen Einheit« und gesetzlichen Feiertag zu begehen. Zehn Jahre später erhob Bundespräsident Heinrich Lübke das Datum zum »nationalen Gedenktag«. Nach der Wiedererlangung der deutschen Einheit 1990 wurde der 3. Oktober an Stelle des 17. Juni neuer »Tag der Deutschen Einheit« und bundesweiter Feiertag. Auch wenn der 17. Juni seitdem kein arbeitsfreier Tag mehr ist, gehört er doch weiterhin zu den fünf nationalen Gedenktagen des vereinten Deutschlands. Drohte der Volksaufstand vor 1989 in Vergessenheit zu geraten, besinnt man sich nun zunehmend auf diese gescheiterte Revolution, die als Teil unserer Freiheitsgeschichte einen festen Platz in der deutschen Erinnerungskultur bekommen muss.