Russische Geschichtslehrbücher vermitteln vielfach ein falsches und mit sowjetischen Mythen behaftetes Bild der Vergangenheit. Zu diesem Schluss kommt Jan Foitzik in einer Analyse von 15 repräsentativen Gymnasial- und Universitätslehrbüchern der Ära Putin. »Selbstbezogene Vergangenheitserbauung« ist seine Studie im neuen Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2005 überschrieben. Sie analysiert vor allem die Darstellung der sowjetischen Beziehungen zum Westen und zu den Ländern des Ostblocks. Der Mitarbeiter des renommierten Instituts für Zeitgeschichte beklagt auch faktische Fehler in den Lehrbüchern. So berichtet einer der zur akademischen Elite gehörenden Autoren, die Sowjetunion habe nach dem Münchner Abkommen 1938 Truppen an die Grenze zur Tschechoslowakei verlegt. Allerdings: Zu diesem Zeitpunkt verfügten beiden Staaten über keine gemeinsame Grenze.
Die Autoren der Lehrwerke verschweigen auch weiterhin Ereignisse, wie z. B. die Ermordung tausender polnischer Offiziere durch NKWD-Truppen 1940. "Sehr oft bestimmt das ›gefühlte Vorwissen‹, die Reminiszenz an frühere ideologische Deutungsmuster, die Darstellung", so Foitzik. Eine inhaltliche oder methodische Annäherung der russischen Historiker an die westlichen Geschichtswissenschaften hat seit dem Ende des kommunistischen Regimes 1991 kaum stattgefunden. Sowjetische Geschichtsbilder werden fortgeschrieben, Mythen weiter gepflegt oder umkomponiert. Dieser Umstand wiegt umso schwerer, als russische Geschichtsstudenten für ihr Fachstudium in der Regel nur ein einziges Lehrbuch verwenden.
Im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2005 findet sich neben Foitziks Analyse u. a. ein Beitrag des Gründungsdirektors des Deutschen Historischen Instituts Moskau, Bernd Bonwetsch, der den Forschungsstand über die Sowjetunion im "Großen Vaterländischen Krieg" darstellt. Gerd Koenen meldet sich in der Debatte über Rudi Dutschke zu Wort. Weitere Arbeiten stellen die Geschichte des 15. Januars als politischem Feiertag von KPD/SED zwischen 1920 bis 1989, einen unbekannten Schauprozess gegen die katholische Kirche in Rumänien sowie die stalinistische Sippenhaft im Großen Terror vor.

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2005, hrsg. von Hermann Weber, Ulrich Mählert, Bernhard H. Bayerlein, Horst Dähn, Bernd Faulenbach, Jan Foitzik, Ehrhart Neubert und Manfred Wilke im Auftrag der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin: Aufbau Verlag 2005, ISSN 0944-629X, ISBN 3-351-026085-4, 75,00 Euro.

Auf Anfrage sendet Ihnen die Pressestelle der Stiftung Aufarbeitung den Aufsatz von Jan Foitzik per E-Mail zu. Möchten Sie das Jahrbuch rezensieren, wenden Sie sich bitte ebenfalls dorthin. Ihr Ansprechpartner: Dr. Jens Schöne, Tel: 030/2324 7225.
Ihr Kontakt im Aufbau-Verlag: Barbara Stang, Tel.: 030/2839 4232.

Berlin, 14. September 2005