Zu den Opfern politischer Verfolgung in der SBZ/DDR, die keinerlei persönliche Schuld auf sich gezogen und trotzdem ihr ganzes Leben von den Lagererfahrungen geprägt waren, gehören Kinder. Kinder, die es offiziell nicht geben durfte, die aber nichtdestotrotz „hinter dem Stacheldraht“ der Speziallager zur Welt kamen. Alexander Latotzky sagt im Interview dazu: „Kinder sind immer die Schwächsten, […] die schwächsten Opfer. Und Kinder können sich nicht wehren. Und Kinder sind eigentlich immer am elendsten dran.“
Meinhard Stark hat viele Jahre lang Zeugnisse der „Gulag-Kinder“ in der Sowjetunion gesammelt und dokumentiert. In seiner Definition wird Erfahrung und Prägung weit gefasst: „Alle diese Mädchen und Jungen sind unmittelbar von eigener Gulag-Haft oder ihrer Eltern geprägt, die nachhaltig ihren weiteren Lebenslauf beeinflusste.“[1] An einer anderen Stelle schreibt er über die Folgewirkungen für das Leben der Angehörigen der Gulag-Häftlinge: „Die hier zu Wort Kommenden sind nicht zuletzt Zeuginnen und Zeugen der Langzeitwirkungen von Repressionserfahrungen, die individuell differenziert bis heute anhalten.“[2] Die Nachwirkungen auf die gesamten Familien und den Freundeskreis eines Häftlings im Lagersystem sind umfassend und doch schwer zu greifen. Kinder sind, ganz gleich ob sie selbst im Lager waren oder durch die Trennung mit den Eltern gelitten haben, am unmittelbarsten betroffen. Die Schicksale der Kinder, über die Meinhard Stark recherchiert und über die er eine beachtliche Quellengrundlage geschaffen hat, sind durchaus mit denen der Kinder der Speziallagerinsassen verwandt.
Der durchschnittliche Internierte eines sowjetischen Speziallagers des Jahres 1946 war männlich, etwa 45 Jahre alt, meistens NSDAP-Mitglied und wies mit hoher Sicherheit (80% der Internierten) nationalsozialistischen Hintergrund auf.[3] Inhaftierte Frauen waren im Durchschnitt deutlich junger, wobei sich die Gründe für ihre Verhaftungen von denen, der Männern nicht wesentlich unterschieden. Insgesamt waren nur 5% der Gefangenen der Speziallager weiblich. Zunächst existierte kein Frauenlager, sondern die weiblichen Gefangenen wurden in allen zehn Speziallagern festgehalten. Ihre Versorgung oder Behandlung unterschied sich nicht von der der Männer, auch wenn die Auswirkungen der Haft durchaus spezielle weibliche Ausprägung haben konnten.[4] In einer besonderen Situation befanden sich die verhafteten Mütter.
Die wissenschaftliche Grundlage über das Schicksal der Kinder und ihrer Mütter in den Speziallagern ist dünn. Die grundlegende Recherche zum Thema begann Alexander Latotzky aus persönlichen Gründen, weil er über die Geschichte seiner Mutter mehr wissen wollte. Bei seinen Recherchen stieß er immer wieder auf die Namen anderer Kinder. Mit vielen von ihnen war er in den Kinderheimen. Auch über seine eigene Geschichte und die Geschichte seiner Mutter konnten die Frauen, die mit ihr zusammen inhaftiert waren, viel erzählen, was seine früh verstorbene Mutter nicht mehr tun konnte. In der Onlinedatenbank sammelt er unermüdlich die Namen und sucht nach Spuren der Kinder, die in den sowjetischen Speziallagern geboren wurden. Auf der Homepage ändert sich die Zahl, weil die Recherchen weiterlaufen. Aktuell sind dort 102 Einträge vermerkt, wobei die Kinder, die in SVA Hoheneck von Februar 1950 bis 1953 geboren wurden mitaufgeführt sind.[5] Eine offizielle Statistik wurde von der Seite der Lagerleitung nie angelegt.
Sogar unser kleines Interviewsample zeigt die große Palette der Wege der Eltern zu einander und bestätigt indirekt die These von den vielschichtigen Funktionen, die die Speziallager in ihrer kurzen Zeit des Bestehens ausgefüllt haben. Die Multifunktionalität spiegelt sich in den unterschiedlichen Gruppen der Betroffenen wieder. Ihre Wege in die Haft können nicht unter ein Muster subsumiert werden. Sechs interviewte Personen wurden zwischen 1946 und 1949 geboren und zwar zwei in Bautzen, zwei in Sachsenhausen, eine im Mühlberg und eine im Lager Fünfeichen in Neubrandenburg. In dieser Auflistung kommen also vier von den zehn sowjetischen Speziallagern vor. Eine interviewte Person, Karin Karitnig, wurde 1952 in Hoheneck geboren. Die meisten Frauen wurden bereits schwanger verhaftet, in unserer Gruppe sind es vier Personen von sieben, aber auch Beziehungen im Lager oder Vergewaltigungen auf dem Lagertransport waren nicht selten. Die Mütter gehörten zu beiden Kategorien sowohl den Internierten ohne ein Urteil, als auch zu den SMT-Verurteilten.
Knapp drei Monate nach dem Kriegsende wurde das erste Kind „hinter dem Stacheldraht“ am 3. August 1945 im Speziallager Ketschendorf geboren. Es war ein Junge und bekam den Namen Hans-Joachim. Mehr wissen wir über das Kind nicht. Die Informationen über weitere Geburten sind spärlich, weil keine gesonderte Aktenführung zu Kindern in den sowjetischen Akten existiert. Die Kinder existierten für die Lagerbürokratie nicht. Ihr Überleben hing ganz maßgeblich von ihren Müttern ab. „Die Mehrzahl der Kinder ist 1946, 1947 und 1948 geboren. In diesen drei Jahren kamen nach den Unterlagen rund 90 Prozent aller Babys zur Welt, 1949 folgten einige wenige in Sachsenhausen.“[1] Abtreibungen waren im Lager verboten.
Christa Kirchner erzählt im Interview, wie sie, nachdem sie und ihr Mann im April 1946 in Dresden verhaftet wurden, alleine in der Waschküche eines GPU-Kellers in Kleinmachnow festgehalten wurde: „Und zu dieser Zeit habe ich gemerkt, dass ich schwanger bin. Das war natürlich die große Katastrophe, was wird jetzt?“ Weiter erzählt sie, dass sie zusammen mit 60 anderen Frauen in einer Baracke untergebracht war. Die Schwangerschaft habe sie gut vertragen, in erster Linie, weil sie zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt war. Als die Wehen nachts eingesetzt haben, musste ein Frauenarzt, der ebenfalls ein Häftling im Lager war, geweckt werden:
„Und dieses geborene Kind - ich hatte natürlich auch keine Kleidung für dieses Kind. […] Und wurde, weil das ja kein Kinderbett gab oder so was, in einen Korb gelegt und in diesem Korb war der Mantel eines Gefangenen, eines KZ-Häftlings, diese blau- grau gestreiften Anzüge. Der war so reingelegt als Bettwäsche und da lag meine Tochter drin. Da habe ich gedacht: So, das ist jetzt dein Kind hier. Ein Gefängnis-Kind. Und, äh, dann nach und nach... die ersten Tage habe ich dann in einem Lazarett-Zimmer gelegen, wo auch Flöhe und Wanzen unsere nächtlichen Besucher waren, die mein kleines neugeborenes Kind zerstochen haben. Und dann kam ich in diese Frauen-Baracke. Da waren damals eben vier Frauen. Ich war die fünfte Frau mit, auch mit zwei Stöcken, ein winziges Zimmer.“
„Die Lagergesellschaft ist per definitionem eine Mangelgesellschaft – und sei es nur der Mangel an Platz, Bewegungsfreiheit, Rückzugsmöglichkeit für den einzelnen“[2], meint der Historiker Ulrich Herbert. Der Mangel traf die gerade geborenen Kinder und Mütter auf eine besondere Art und Weise.
Christa Kirchner erzählt weiter im Interview, wie schwierig die Versorgung der Kinder war. Das ganz große Privileg in der Frauenbaracke war eine elektrische Kochplatte. Darauf konnten die Mütter ihre Roggenmehlrationen etwas anrösten und mit ein wenig Milch zu einem Brei andicken. Erst ab 1947 bekam sie in Sachsenhausen eine Extraration Milch für die Kinder. Die Situation unterschied sich aber von Lager zu Lager, dort war es den jeweiligen Kommendanten überlassen, wie sie auf die Existenz der Säuglinge und Kinder regierten. „In Mühlberg und Jamlitz stellten die sowjetischen Offiziere Windeln, Seife und Essen zur Verfügung. In Buchenwald gab es Sonderrationen und eine Kinderbaracke mit zeitweise fließend warmem Wasser. In Torgau oder Bautzen dagegen zählten Kinder für die Lagerführung überhaupt nicht. In den ersten Jahren nach Kriegsende mussten sich die meisten Mütter ihre Verpflegungsration mit ihrem Kind teilen.“[3]
Mangelerscheinungen und Krankheiten waren bei diesen katastrophalen Hygienebedingungen und Versorgung keine Seltenheit. Viele Kinder waren mit der Tuberkulose infiziert, viele erkrankten an Typhus und Diphtherie. Christa Kirchner, die als Apothekenassistentin vor ihrer Verhaftung gearbeitet hat bzw. sich in Ausbildung befand, sorgte sich um die Zähne der Kinder. Damit sie gesunde Zähne bekämen, wurde Kalk von den Wänden abgekratzt und ins Essen gemischt. Oder sie haben Melde von der Wiese geerntet und gekocht, da die Pflanze viel Vitamin C enthält.
Neben der Frage der Versorgung mit Lebensmitteln betraf das nächste große Problem den Mangel an Kleidung und Windeln. Christa Kirchner erzählt im Interview, wie sich durch die hohe Sterblichkeit eine große Menge an Kleidung der Verstorbenen angesammelt hat, die man für die Kinder umnähte: „Wir mussten also von den Toten die Sachen zerschneiden, mussten Fäden aus, ausziehen aus dem Stoff und mussten eine Nadel haben. Und die Nadeln haben uns die Männer gemacht. Aus Fahrrad-Speichen kriegten wir zum Beispiel Stricknadeln oder aus, aus ganz Draht kriegten wir mit einem Loch drin. Was die in mühevoller Kleinarbeit gemacht haben, kriegten wir eine Nadel, eine Nähnadel. Das war ein ganz großes, teures Gut, denn das mussten wir mit Brot bezahlen.“ Für die wärmere Kleidung wurden die Fäden aus den Zucker- und Mehlsäcken herausgezogen und gestrickt. Schuhe gab es grundsätzlich nicht und vor allem für die Kleinen nicht. Kinder mussten vor allem in kalten Monaten fast nur getragen werden.
So unterschiedlich die Wege der Eltern in die Haft waren, so stark waren alle von dieser Zeit gekennzeichnet. Die Mütter und Väter mussten mit dem Erlebten zurechtkommen. Sie wurden, wie es zum Beispiel Christa Kirchner eindrücklich schildert, in eine ungewisse Zukunft entlassen. Die traumatischen Erlebnisse wurden verdrängt. Davon bekamen vor allem Kinder mit der sensiblen Psyche viel mit. Die Mütter waren häufig aufbrausend und impulsiv, wie es einige der Interviewten beschreiben, und für die Kinder unberechenbar. Hinter den geschlossenen Türen wurden bei den Treffen mit den ehemaligen Mithäftlingen vieles gesprochen, was die Kinder nicht mitbekommen durften und doch indirekt mitbekamen. Birgit Stommel spricht im Interview von den Heimkehrertreffen, für die sich die Mutter aufwendig vorbereitet hat. Die frühere Trennung zwischen Müttern und Kindern, bei der häufig durchgeführten Einweisung ins Kinderheim, störte die frühkindliche Bindung und hatte weitgehende Folgen für die Mutter-Kind-Beziehung. Viele Mütter kehrten erst nach Jahren aus der Haft zurück. Die Kinder wuchsen bei den Großeltern oder im Kinderheim auf. Die verlorenen Jahre konnten nicht nachgeholt werden. Über die Lagerzeit wurde nicht gesprochen. Birgit Stommel sagte dazu: „Aber ansonsten hat sie nicht viel gesprochen über die ganze Gefangenschaft.“ Und es war kein Einzelfall. Die Wege zum Wissen über die Lebensschicksale der Eltern und über die eigene Geburt im Speziallager waren bei vielen nicht leicht und mit viel Schmerz verbunden. Karin Karitnig sagte über die Strategie des Verdrängens: „Meine Mutti hat so ein bisschen ne Art, die schiebt es weg. Und so habe ich das wahrscheinlich auch übernommen“.
[1] Alexander Latotzky, Mütter mit Kindern in sowjetischen Speziallagern und DDR-Haft, 1. Aufl., Leipzig 2001, S. 25
[2] Ulrich Herbert, Das „Jahrhundert der Lager“: Ursachen, Erscheinungsformen, Auswirkungen, in: Peter Reif-Spirek, Bodo Ritscher (Hrsg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelten Vergangenheit“, Berlin 1999, S. 24.
[3] Latotzky, Kindheit hinter Stacheldraht, S. 26.
[1] Meinhard Stark, Gulag-Kinder. Die vergessenen Opfer, Berlin 2013, S. 15.
[2] Ebd., S. 17.
[3] Vgl. Moreé, Gulag auf dem deutschen Boden? Sowjetische Speziallager in der SBZ/DDR, in: Julia Landau, Enrico Heitzer (Hrsg.), Zwischen Entnazifizierung und Besatzungspolitik. Die sowjetischen Speziallager 1945-1950, Göttingen 2021, S. 176-189, hier S. 183f.
[4] Vgl. Kathrin Mühe, Frauen in den sowjetischen Speziallagern in Deutschland 1945 bis 1950. Häftlingsalltag und geschlechtsspezifische Aspekte, in: Deutschland Archiv 4 (2004), S. 629-639.
[5] Siehe die Seite des Vereins „Kindheit hinter Stacheldraht“: https://kindheit-hinter-stacheldraht.de/